Chimerika

Musikfest 2012 Die Oper Nixon in China von John Adams

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Eigentlich hatte ich heute über die am Wochenende aufgeführte 4. Sinfonie von Charles Ives schreiben wollen, doch verschiebe ich dies Thema auf morgen, um heute erst einmal den gestrigen Eindruck der Oper Nixon in China von John Adams zu verarbeiten. Es war ein unterhaltsamer und sogar pittoresker Abend, obwohl die Oper in der Philharmonie nur konzertant gegeben wurde, von den BBC Singers und dem BBC Symphony Orchestra unter Leitung des Komponisten. Pittoresk, weil wenn zum Beispiel Nixon gleich landen wird - Peking, 21. Februar 1972 -, die Chorsänger ein Spielzeugflugzeug weitergeben, und weil der Nixon-Sänger mit Maske auftritt, wo der Mann so wunderbar pennerhaft schmierig aussieht, wie man ihn in Erinnerung hat. Auch schwenkt er, wenn er das Konzertpodium betritt, beifallsheischend die Arme.


Unterhaltsam wegen der Minimal Music, die über lange Zeit anzuhören durchaus ein Genuss ist. Mit gewollter Monotonie erschöpft sich ihr Grundschema in einem fast ununterbrochenen bammbap, bammbap, bammbap, das aber mit allerlei - stets rein tonaler - akkordischer Raffinesse aufgepeppt wird, auch um Crescendi nicht verlegen ist und sich hin und wieder das rhythmisch abweichende Ta ta ta taaa oder Ähnliches gönnt. Darüber erhebt sich der Gesang der Protagonisten - das sind neben Nixon, Mao und ihren Ehefrauen Henry Kissinger und Chou En-lai - mit pathetischen Melodien, die ebenso gut in vielen Opernpartituren des 19. Jahrhunderts stehen könnten. In Minimal Music nicht sehr kundig, habe ich das unter Popart abgelegt: simpelste Gesten allbekannter Kunst, die aber doch im Kleinen komplex sind, da, wo man nicht mehr so genau hinhört.


Im Übrigen ist das nicht nur lustig, es ist eher eine lustige Art, Ernst durchblicken zu lassen. Denn gewisse musikalische Assoziationen drängen sich auf, so das ständig wiederholte Zweitonmotiv in Allan Petterssons 7. Sinfonie, die eine traurig ratternde, völlig aus dem Ruder gelaufene, aber sehr zielstrebig tragische Maschine evoziert, und letztlich sogar das Zweitonmotiv aus "Abschied", dem letzten Gesang in Gustav Mahlers Lied von der Erde. Man muss nicht annehmen, dass heimliche Trauer auch den Klängen von Adams eingeschrieben sei, aber dass da eine Maschine leerläuft oder jedenfalls außer Kontrolle geraten ist, ein Hammer ohne Herr sozusagen, wobei der geordnete Gleichmut ihres Ratterns umso mehr beunruhigt, ist eine naheliegende Assoziation.


Diese Überlegung führt dazu, Nixon in China für eine sehr gelungene Adaption der Opernform zu halten. Die Oper war der neuzeitliche Versuch, die griechische Tragödie wiederaufleben zu lassen, von der man wusste, dass sie nicht nur gesprochener Text, sondern auch Musik war. Von der griechischen Tragödie schreibt Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, sie sei auf die homerischen Mythen verpflichtet gewesen und habe sich, was immer sie aussagen wollte, in deren Gewand hüllen und so auch begrenzen müssen. Die tragischen Mythen selber führten eine Schicksalsgewalt vor, von der die Helden der Bühne zermalmt wurden. Indes waren die Schicksalsgewalten, die man neuzeitlich auf die Bühne brachte, im Vergleich mit der archaischen Blutrache recht harmlos, und vielleicht ist das ein Grund, weshalb sich das heutige Opernpathos in den Augen und Ohren vieler Menschen, selbst wenn sie an sich Musikliebhaber sind, sehr oft an der Grenze der Lächerlichkeit bewegt. Was nun aber das Verhältnis der USA zu China angeht, sind da nicht wirklich Urgewalten im Spiel, die selbst mächtigste Männer, wie eben Nixon und Mao, unmöglich im Griff haben konnten? Und es ist nun mal nicht anders, die modernen Schicksalsmächte erscheinen nicht logisch noch sinnvoll, nehmen es darin mit der Blutrache nicht auf.


Wenn Nixon das Subjekt USA zu sein versucht - mit Maske, wie sie auch attische Schauspieler trugen -, kann das Libretto gut verdeutlichen, wie er, mit der Situation ringend, mal beachtlich philosophiert, mal nur seine Gewöhnlichkeit zeigt. Mal zitiert er den Satz "Am Ufer des Rubikon geht man nicht fischen", mal tönt er, wohl schon etwas betrunken, auf einem Empfang: "Alle herhören, lassen Sie mich eines sagen. Ich war gegen China. Ich habe mich geirrt." Dazwischen die tapsige chinesisch-amerikanische Synthese: "Lasst uns in diesen fünf Tagen einen langen Marsch auf neuen Straßen (highways) in verschiedenen Spuren, aber parallel beginnen und nach einem Ziel streben." Dass sein Besuch tatsächlich der Auftakt zur Synthese wurde, die inzwischen von manchen Leuten "Chimerika" genannt wird, konnte er nicht ahnen und Mao noch weniger.


Insofern ist das wahrlich eine Oper, die ein wichtiges Thema und ein Geschehen mit unabsehbaren Folgen behandelt. In Wolfgang Fritz Haugs Buch HighTech-Kapitalismus in der Großen Krise, Hamburg 2012, finden wir eine lesenswerte Analyse der amerikanisch-chinesischen Verflechtung, die in der Feststellung gipfelt, das heute in China sich anhäufende Dollarvermögen scheine "hauptsächlich der Finanzierung der US-Importe aus China und damit [...] der Weiterführung der chinesischen Überproduktion zu dienen" (S. 256). Haug zitiert aus einem 2007 erschienenen Buch von Ferguson und Schularik: Das "sonderbare Paar" stehe für 13 Prozent der Landoberfläche der Erde, ein Viertel der Weltbevölkerung und ein Drittel des Welt-Bruttosozialprodukts. "Westchimerikaner sind wohlhabend und hedonistisch; Ostchimerikaner viel ärmer (auf Kaufkraft umgerechnet beträgt ihr Pro-Kopf-Einkommen ca. 16 Prozent des Einkommens der Westchimerikaner). Doch die beiden Hälften des Landes sind komplementär. Westchimerikaner sind Experten in Geschäftsführung, Vermarktung und Finanzwesen. Ostchimerikaner spezialisieren sich auf Technik und Herstellung. Die verschwenderischen Westchimerikaner haben einen unersättlichen Appetit auf die im Osten massenhaft produzierten Gadgets; sie sparen keinen Penny ihres Einkommens. Die sparsamen Ostchimerikaner leben vorsichtiger. Eher würden sie einen erheblichen Teil ihres Einkommens sparen und den Westchimerikanern borgen, um deren Schwäche für Gadgets zu finanzieren und dabei die Ostchimerikaner in Arbeit zu halten." (S. 240)


Und Haug zitiert eine gnadenlose Verallgemeinerung: "Die beiden Revolutionen, die von Reagan und die von Deng, überlagern sich in einem Ausmaß, dass die eine ohne die andere nicht funktioniert hätte. [...] Der chinesische Erfolg ist bis jetzt das verborgene Gesicht der US-Ökonomie gewesen." Das schrieb der spanische Journalist Lluís Bassets 2008. (S. 241) Wenige wissen bisher vom Neuland Chimerika, doch es ging 2012 um die Welt, dass die US-Olympioniken sich plötzlich in der Not sahen, mit chinesisch hergestellten Trikots antreten zu sollen, und heillos erschraken.


Peter Sellars, der Theaterregisseur, war der Impulsgeber zur Oper Nixon in China, die am 22. Oktober 1987 in Houston, Texas, uraufgeführt wurde, wozu wir im Programmheft lesen: Die Art und Weise, wie die Oper einen "Kommentar zum Weltgeschehen gibt, ohne dabei propagandistisch oder parodistisch bemüht sein zu müssen, zeigt Sellars' Ehrgeiz, Oper als etwas Aussagekräftiges für ein modernes Publikum zu gestalten und sie nicht als antiquarischen Zeitvertreib zu betrachten." Wie mir scheint ein Ehrgeiz, der von Erfolg gekrönt wurde.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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