Christa Wolf kommt zu Ehren

Maerzmusik 2013 Vom Berliner Festival für aktuelle Musik - erster Bericht

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Vom Berliner MaerzMusik-Festival, das gestern begann und morgen in einer Woche zu Ende geht, will ich hier wieder kontinuierlich berichten. Es hat drei Schwerpunkte, die möglicherweise sogar zusammenhängen: "Schlagwerke", "[Um]Brüche Türkei Levante Mahgreb" und "Minidrama Monodrama Melodrama". Der Zusammenhang mag darin liegen, dass "Schlagwerke" sich in allen drei Bereichen als auffallend bedeutsam erweisen. So lesen wir im Programmheft zu Kassandra, dem "Monodrama für Sprecherin und Instrumentalensemble mit Elektronik (1993/1997) nach der Erzählung von Christa Wolf (Bearbeitung Gerhard Wolf)", das morgen Abend gegeben wird, hier spiele "das Schlagzeug eine prominente Rolle". Auf jeden Fall ist "Schlagwerke" der Bereich, der mich persönlich am meisten interessiert, obwohl auch die beiden anderen Bereiche hochinteressant sind. Denn wer würde es nicht spannend finden, zu erfahren, wie sich der "arabische Frühling" und/oder der allzu heiße Sommer, der ihm folgte und der gar nicht aufhören will, in Kompositionen türkischer und arabischer Künstler niedergeschlagen hat?

Und wer wäre nicht auf Kassanda gespannt, das Werk des Schweizer Komponisten Michael Jarrell, von dem wir im Programmheft lesen, ihn inspiriere die moderne deutsche Literatur? Mindestens wer wie ich der älteren Generation angehört, wird den Rückgriff auf Christa Wolfs Erzählung vielsagend finden. Ich sage das, weil der oder die Verfasser[in] eher der jüngeren Generation angehören dürfte; denn wenn in dem sonst sehr guten Text behauptet wird, die Erzählung, 1983 veröffentlicht, habe "die Autorin auf einen Schlag berühmt" gemacht, zeugt das von Uninvolviertheit. Nein, sie wurde vorher durch den Roman Der geteilte Himmel, der von der deutschen Teilung handelt, in beiden Teilen Deutschlands bekannt. Mit Kassandra hat es eine andere Bewandtnis.

Wenn wir lesen, die Erzählung beziehe "in verschlüsselte Form [...] den antiken Mythos auf die autoritär-patriarchal geprägten Verhältnisse in ihrem Land", so ist das zwar sicher richtig. Der Mythos besagt, dass Kassanda, Tochter des Trojanerkönigs Priamos, mit der Gabe der Weissagung geschlagen ist und etwa vergeblich warnt, man solle dem Danaer-Geschenk der griechischen Krieger nicht trauen: einem hölzernen Pferd, in dessen Bauch sich Einige versteckt haben, während zugleich der Anschein erweckt wird, sie zögen alle ab. Die Trojaner ziehen das Pferd arglos in die Stadt hinein, nachts steigen die Krieger aus dem Bauch, öffnen die Stadttore für ihre Genossen und das Weitere kann man sich denken. Wenn nun vorher die Tochter auf den Vater eingeredet und der sich als beratungsresistent erwiesen hat - "Red keinen Unsinn, sagte Priamos. [...] Und da wir ohnehin gewinnen..." -, spielt die Assoziation zum Regierungssystem der DDR sicher absichtlich mit. Das ist aber nicht die Hauptsache in der Erzählung.

Denn 1983, das war die Zeit, in der gegen die Sowjetunion gerichtete Pershing-Raketen und Cruise Missiles in Westdeutschland stationiert wurden. Sie würden im Ernstfall nur zwei Minuten bis Moskau brauchen. In der DDR wie in der Bundesrepublik herrschte große Angst, das sei eine kriegsgefährliche Provokation und könne Deutschland in Kürze zum Schauplatz eines Atomkriegs machen. Davon handelt die Erzählung Kassandra. Davor warnt Christa Wolf. Und in der Tat hat sie ihrer Staatsführung gegenüber eine Rolle gespielt, die man mit dem Verhältnis Kassandras zu Priamos vergleichen könnte: anerkannt als zur Familie gehörig, ohne Einfluss und als lästig empfunden.

Aber selbst wenn man diesen Punkt isoliert: Es geht in ihm nicht darum, so ganz im Allgemeinen ein autoritäres Regierungssystem anzuprangern. Nein, man darf unterstellen, dass Christa Wolf tatsächlich versuchte, ihren "Vater" Staat zu beeinflussen, wobei sie das, was sie zu sagen hatte, durch ihr bitteres Kokettieren mit Kassandra - als wollte sie sagen "ihr hört ja doch nicht zu" - nur noch dringlicher zu machen versuchte. In Wahrheit aber hörte die Staatsführung nicht nur zu, sondern hatte selber dieselbe Angst wie Christa Wolf. Mehr noch. Wenn in ihrer Erzählung ein Allgemeines angeprangert wird, dann weniger das autoritäre Regieren als die Aggressivität des männlichen Mannes: Kassandra ist nicht zuletzt ein feministischer Text. Und beim größten Scheusal, das in ihm vorkommt, "Achilles dem Vieh" - der griechische Hauptheld ist wirklich auch bei Homer viehisch, man muss das einmal lesen und kommt zu dem Schluss, die Iliade sei überhaupt nur gedichtet worden, um den Chock zu verarbeiten, dass Kriege, statt ritterlich zu sein, sich als so extrem boshaft und grausam entpuppen -, scheint Christa Wolf doch eher an die westliche Männlichkeit gedacht zu haben. Etwa an jene US-amerikanischen Soldaten, die im Vietnam-Krieg einer jungen Frau eine Granate... ich würde das so gern vergessen können.

Zum Kontext der Erzählung gehört auch, dass Michael Jarrell sie 1993 vertonte, also recht kurz nach der "Wende". Da war "Troja", will sagen die DDR, tatsächlich gefallen. Unter diesem Aspekt reiht sich die Erzählung in eine Vielzahl von Texten und Kompositionen kommunistischer Künstler - etwa Luigi Nono und György Ligeti - ein, die um 1980 herum aufhörten, auf die historische Nachhaltigkeit und Anziehungskraft des realsozialistischen Ansatzes noch weiter zu hoffen. Die Erzählung erscheint so gesehen als dem Roman Die Ästhehik des Widerstands von Peter Weiss benachbart, der von der Selbstzerfleischung der Kommunisten unter Stalins Ägide während des Spanischen Bürgerkriegs handelt; er endet damit, dass die Niederlage des Kommunismus vorausgesehen und dass erwogen wird, ob nicht die Aggressivität des männlichen Mannes die Wurzel aller historischen Übel sei.

Die ersten Jahre nach der "Wende" sind aber auch die Zeit, in der die großen westdeutschen Medien kampagnenförmig versuchen, die Reputation der bekanntesten DDR-Dichter zu vernichten. Zu denen gehörte Christa Wolf, der man vorher, als der Kalte Krieg noch im Gang war, gelobhudelt hatte, weil man ihren Widerspruchsgeist gegen die Staatsführung anstacheln wollte. Jetzt war die DDR gegessen, jetzt war Christa Wolf eine schlechte angepasste Dichterin geworden. Frank Schirrmacher stand mit an der Spitze dieser Kampagne - er sollte sich einmal dafür entschuldigen, denke ich. Ein anderer, dessen Reputation man auch zu vernichten versuchte, war Stephan Hermlin. Wie sehr hatte man vormals die Passage seiner Erzählung Abendlicht gelobt, in der ein ungefähr Fünfzigjähriger "eine unheimliche Entdeckung" mitteilt:

"Unter den Sätzen, die für mich seit langem selbstverständlich geworden waren" - Hermlin spricht von seiner Lektüre des Kommunistischen Manifests von Marx und Engels -, "befand sich einer, der folgendermaßen lautete: 'An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist.' Ich weiß nicht, wann ich begonnen hatte, den Satz so zu lesen, wie er hier steht. Ich las ihn so, er lautete für mich so, weil er meinem damaligen Weltverständnis auf diese Weise entsprach. Wie groß war mein Erstaunen, ja mein Entsetzen, als ich nach vielen Jahren fand, dass der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil besagt: '... worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.'"

Abendlicht wurde 1979 veröffentlicht, gehört also nach Zeitpunkt und Inhalt ebenfalls zur erwähnten Reihe von Kunstwerken "kassandrisch" gestimmter kommunistischer Künstler. Was zählte das schon nach 1990? Bezüglich Hermlins ließ man sich den besonders dummen "Vorwurf" einfallen, seine Dichtung erzähle in der Ich-Form Sachen, die er in Wahrheit gar nicht erlebt habe. Der Dichter sei ein elender Lügner! Nun, ich will diese grotesken Vorfälle nicht überbewerten. Denn erstens ist es schon lange her. Damals konnte man zwar einen Moment lang fürchten, der Schwachsinn würde weitere Opfer fordern und etwa auch Dantes Göttliche Komödie auf den Index setzen - da erdreistet sich jemand, in der Ich-Form von einer Reise durch Himmel und Hölle zu erzählen -; aber es trat ja nicht ein. Nur so weit ging der Irrsinn, dass etwa auch Hannah Arendt von Einigen für abgetan und mitbesiegt erklärt wurde und dass von Karl Marx in der Zeitung zu lesen war, man habe ihn lachhaft überschätzt, sei er doch nur ein Journalist gewesen. Und auch das ging vorüber.

Zweitens, die Westdeutschen haben ja keine Blutrache an der DDR geübt, sondern sich mit solchen Feuilleton-Spielchen begnügt. Das ist, in der historischen Langzeit gesehen, ausgesprochen human.

So viel also zum historischen Kontext von Christa Wolfs Kassandra, 1983, und der Komposition von Michael Jarrell, 1993. Jarrell, Jahrgang 1958, hat sich nicht beirren lassen. Er gibt in schwieriger Zeit Christa Wolf die Ehre. Eine Ehre, die sie nie verloren hat. Er hat übrigens auch Bert Brechts Galilei (2006) und Heiner Müllers Le pére (2010) musikalisch dramatisiert: ein interessanter Künstler. Auf seine Musik bin ich gespannt und werde am Montag davon berichten. Nicht nur davon, sondern auch von zwei weiteren Aufführungen: Pills or Serenades, einer "Stimmungsstudie" des Brasilianers Chico Mello nach einem Text von Tobias Dutschke, und einer "Schlagwerke"-Nacht des Trios Speak Percussion, von dem es heißt, es sei das "radikalste Schlagzeugensemble Australiens".

Beiträge zu früheren MaerzMusik- und auch den Berliner "Musikfest"-Festivals können Sie von hier aus aufschlagen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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