Die präparierte Subgroßbassblockflöte

Ultraschall 2020 Zeitumstände können beim Komponieren eine Rolle spielen, ohne dass politische oder Programmmusik herauskommt. Was ist zum Beispiel Immigration, musikalisch gesehen?

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Die präparierte Subgroßbassblockflöte

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Das Konzert am gestrigen Freitag Abend war so faszinierend wie es schwer ist, darüber zu berichten. Denn was für ein Gedächtnis müsste man haben, um acht moderne Kompositionen, direkt hintereinander gehört und jede zum ersten Mal, sich einprägen zu können? Die Beschreibung der Stücke im Programmbuch gibt eine Stütze, und ja, ich könnte jetzt natürlich daraus zitieren, aber so ist Musik nicht gemeint, zu mir selbst will sie sprechen, ohne Vermittlung letztendlich (was nicht bedeutet, dass das Hörenkönnen nicht zunimmt mit dem Ausgebildetsein), das „Priestertum aller Gläubigen“ gilt auch hier. Ein zweiter Gedanke sagt mir, dass es um die Qualität des Gedächtnisses wohl doch nicht geht, eher um die Art wie man es einsetzt. Die Situation ist derjenigen der psychoanalytischen Kur vergleichbar, wo Freud aus seiner Erfahrung heraus dem zuhörenden Arzt empfiehlt, sich gar nichts „merken“ zu wollen, geschweige denn etwas zu notieren, sondern in „gleichschwebender Aufmerksamkeit“, wie er sagt, auf sich wirken zu lassen, was der Patient ohne Ordnung fragmentarisch äußert. Das Verfahren hat den Effekt, dass das Unbewusste des Patienten mit dem Unbewussten des Arztes kommuniziert, worin auch liegt, dass ihr Verhältnis zueinander kein autoritäres sondern ein gleichberechtigtes ist; Freud hört deshalb bald auf, sich Arzt zu nennen (nicht den Arzt urteilen lassen sondern selbst urteilen ist Kants zugespitztes Modell von „Aufklärung“), sagt vielmehr „Analytiker“. Der Analytiker stellt nach der Analysestunde fest, was bei ihm gleichsam hängengeblieben ist, es wird solches Gehörtes sein, das zu seinen eigenen Fragen passt, den ihm selbst unbewussten wie denen, die er zu stellen gelernt hat, oder wird diesen Fragen widersprechen.

Ich berichte von einem kammermusikalischen Abend im „Heimathafen Neukölln“, über den man bei Wikipedia einen interessanten Artikel findet; als „Volkstheater für den Kiez“ wurde es 2015 von der Jury des Theaterpreises des Bundes bezeichnet. Gestaltet wurde der Abend vom österreichischen ensemble für neue musik. Die meisten Instrumente, die zum Einsatz kamen, waren klassischer Natur, Violine, Harfe und so weiter, die nach ihrem Erfinder benannte Paetzoldflöte sah ich aber zum ersten Mal, es ist eine Blockflöte mit dem Tonumfang C-d1 (g1), bei Wikipedia heißt sie „Subgroßbassblockflöte“ und wir lesen dort, dass sie „in geknickter und viereckiger Bauweise hergestellt“ wird, wodurch „das Instrument mit einem sehr kurzen Anblasrohr angespielt werden“ könne. Gleich in der ersten Komposition des Abends, Kaput II für Cembalo, Paetzoldflöte, Harfe, Querflöte und Tape (2017) von Manuela Kerer, konnte man es sehen und hören. Am Anfang hört man nur vom Tonband „jene Noten [...], welche die Komponistin während der Entstehung verworfen hat“, es ist „musikalischer Müll“ für sie, aber damit nicht genug, denn alle Instrumente sind in Müllsäcke eingehüllt sind, „präpariert“ insofern, Instrumente, die dann in den Tape-Klang eingreifen; später werden die Säcke abgestreift. Es ist also doch nicht bloß Müll, nicht in dem Sinn jedenfalls, dass er aus dem Gedächtnis verschwindet, im Gegenteil, er wird aufbewahrt, denn anders ließe sich nicht darstellen, wie man sich aus ihm herausarbeitet und das nicht schlagartig sondern stufenweise. Tatsächlich ist mir von dieser Komposition am meisten das Verworfene im Gedächtnis geblieben.

Das nach der Pause zuerst gebotene Stück, fire walk with(out) me (2017) von Margareta Ferec-Petric, bespielte dieselbe Instrumentenkombination, nur das Tape fehlte. Die Ironie und Satire, um die es der Komponistin ging, wie sie nach der Aufführung sagte, hat sich mir nicht erschlossen, oder lag sie gerade in dem, was ich interessant fand und „ernst nahm“? Das Stück gehörte zu denen, die über weite Strecken auf Tonalität überhaupt nicht zurückgriffen, fremdartig-schöne Klänge waren es, irrational in verschiedenen Farben, aber dann gab es ja noch das Cembalo und dieses löste die Klänge in seine distinkte Sprache auf, wo sie gar nicht mehr fremd klangen. Es war, als würden Vogelstimmen in die Wohltemperiertheit übersetzt. In ganz anderer Weise war die letzte Komposition des Abends der ersten nahe, Fremdkörper/Variationen für Violoncello, Percussion, Klavier und Performer (2015) von Elena Mendoza, darin nämlich, dass auch hier die Instrumente „präpariert“ waren – diesmal mehr in seit Cage üblichen Wortsinn, Weinflasche und Kamm auf den Klaviersaiten, Weinglas im Schlagzeug und so weiter – und die Präparation in der letzten Passage aufgehoben wurde. Und auch hier nahm ich nicht wahr, inwiefern das Variationen waren, sehr dagegen die Fremdkörper und was Mendoza dazu vor der Aufführung erklärte. Zeitumstände, sagte sie, können beim Komponieren eine Rolle spielen, nicht zwar im Sinn von politischer oder Programmmusik, so aber vielleicht, dass ein einzelner Begriff sich herauskristallisiert und dann nach rein musikalischer Logik gleichsam abgetastet wird. Ich denke, rein musikalisch heißt weiter nichts, als dass die Künstlerin unbewusst arbeitet; für den Hörer kann dennoch ein neuer bewusster Gedanke zum Begriff, um den es geht, herausspringen.

Das Kompositionsjahr 2015, führte Mendoza aus, sei das Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise gewesen. Da habe man von „Integration“ als einem Problem gesprochen, musikalisch fiel ihr dazu der Fremdkörper, also die Präparation ein. Sie werden es gar nicht hören, sagte sie gleich, und in der Tat, die Kompositionsentwicklung strebt seit so langer Zeit schon zu neuartigen Klängen, dass die Unterscheidung fremd oder nicht fremd gar keinen Sinn mehr ergibt. Jedenfalls sei sie ja selbst Ausländerin, in Sevilla geboren, Professorin an der UdK Berlin seit 2014, und habe sich betroffen gefühlt. Wie dann ihre Musik über das „Fremde“ sprach, war wirklich verblüffend und dabei so naheliegend vernünftig, dass ich es wie einen gut erzählten Witz erlebte. Dass man die Fremdkörper nicht heraushörte, war das Entscheidende. Man musste sie erst entfernen und vorzeigen, dann nahm man sie wahr! So geschah es am Ende. Der „Performer“ befreite alle Instrumente von der Präparierung und legte die dafür gebrauchten Gegenstände auf einen Tisch, der an der Rampe stand. Weinflasche und –glas waren besonders gut sichtbar, den Altar konnte man assoziieren, zumal der Performer sie, als sei er ein Zauberer, mit seltsamen Handbewegungen umstrich. Er zeigte damit aber auch die Verlegenheit, die die Gegenstände nun auslösten. Zu Fremdkörpern waren sie jetzt erst geworden. Was sollte er mit ihnen anfangen? Trinken ging nicht, denn Flasche und Glas waren natürlich nicht gefüllt gewesen. Hinter ihm spielten die Instrumente weiter, klanglich hörbar verarmt. Ich denke, das Gleichnis muss nicht erklärt werden...

Wie ich jetzt merke, könnte ich über alle Stücke schreiben. Wirklich merkwürdig, wie das Gedächtnis funktioniert. Zu hören waren noch Olga Neuwirth, Clara Iannotta, Aleksandra Karastoyanova-Hermetin, Vasilikí Krimitzá und Sofia Gubaidulina – ein reiner Frauenabend, in den unbedingt auch die Letztgenannte, Schostakowitschs Schülerin, „integriert“ werden musste, weil es so lange noch nicht her ist, dass sie als einzige Frau in Konzertsälen Gehör fand. Doch es soll für heute genug sein. Das gestrige Konzert wird ausgestrahlt am 20. 2. um 21.04 Uhr in rbb Kultur. Ich selbst werde mich hier noch einmal melden, um von einem Konzert am morgigen Sonntag zu berichten, dazu aber wahrscheinlich erst in der zweiten Hälfte der nächsten Woche kommen. Über das Elektronische Musiktheater Also sprach Golem schreibe ich, wie schon mitgeteilt, in der kommenden Printausgabe.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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