Die Seile des Akrobaten

MaerzMusik 2015 Der griechisch-französische Komponist Georges Asperghis ist in Deutschland fast unbekannt. Er will den "Organismus" und sucht die Zerbrechlichkeit

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Ich will heute ein paar Worte zu einem Werk des griechischen Komponisten Georges Aperghis sagen, der in Frankreich lebt, vorher aber noch auf Timber für sechs Schlagwerker von Michael Gordon zurückkommen, worüber ich am Montag geschrieben habe. Ich sprach da vom „glockenähnlichen Klang, den ‚der einzigartige, trockene und obertonreiche Klang roher Hartholzbalken‘ hervorbringt“; das Letztere hatte ich dem Programm entnommen und mein Erstaunen unterdrückt (wollte noch hinschreiben „Man lernt nie aus“) darüber, dass Holz wie Glocken klingen kann. Auf der CD, die ich inzwischen angehört habe, klingt es aber ganz eindeutig nach Holz. Und ich habe inzwischen mit anderen Zuhörern gesprochen, die sagen, auf Glocken wären sie nicht gekommen, wären es allerdings auch deshalb nicht, weil sie nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den Augen zugehört hätten. Mit einem kleinen Ausschnitt aus Timber hatte das (Anti-) Konzert Liquid Room am Samstag begonnen, am Sonntag war dann das ganze einstündige Werk aufgeführt worden.

Also für jene Bemerkung von mir kann ich mich nicht verbürgen. Was ich auf jeden Fall gehört habe, sind zwei Passagen, eine mehr am Anfang, eine andere mehr am Ende des Stücks, die von der Rhythmik her und der Gruppenbildung unter den sechs Spielern an die Reibung erinnerten, die zwei sich überlagernde, nacheinander einsetzende Glocken erzeugen, mit dem immer leicht irrationalen zeitlichen Abstand, wie man es kennt. Und es gehörte für mich zum Reizvollen des Stücks, dass dann auch Stellen kamen, wo die Spieler sich rhythmisch klar miteinander verbanden. Es war, als wenn Glocken, deren ursprüngliche Bedeutung ja etwas im Dunkeln liegt, wieder zur selbstbewussten menschlichen Assoziation würden. Aber wie gesagt, ich habe mir die Glocken wohl größtenteils nur eingebildet.

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Georges Aperghis ist zwischen Montag und Mittwoch mit fünf Veranstaltungen gewürdigt worden, bei einer, dem „Höhepunkt der Hommage“ laut Programmheft, war ich gestern zugegen. In der Festival-Zeitung wird er, der in Deutschland praktisch noch unbekannte Komponist, zu den „wichtigsten Erneuerer[n] des Musiktheaters“ gezählt; unbekannt sei der 69-Jährige, weil er „den Marsch durch die Institutionen anderen überlassen und sein musikalisches Theater abseits der großen Häuser entwickelt“ habe. Vielleicht liegt es aber auch eher daran, dass man hierzulande, oder jedenfalls im weit entfernten Berlin, von französischer Musik nicht so viel Notiz nimmt, denn ich lese anderswo, er gelte „als einer der profiliertesten Komponisten der französischen Musik der Gegenwart“ (Text zur Verleihung des MAURICIO KAGEL-MUSIKPREISes DER KUNSTSTIFTUNG NRW, verliehen am 18. September 2011, das ist Kagels Todestag).

Wiederum anderswo, in einer Notiz des SWR zu den Donaueschinger Musiktagen, wo seine Musik häufiger gespielt wurde, erfährt man, dass „ihn Kompositionen von John Cage und Mauricio Kagel [beeindruckten]“; seine Werke werden als „sehr persönlich und nicht klassifizierbar“, „frei von allen institutionellen Zwängen“ bezeichnet. Das ist wenigstens ganz entfernt eine Andeutung zur Kompositionsweise. Hinweise solcher Art fehlen diesmal leider in den ohnehin sehr kargen Programmheften der MaerzMusik. In der Festivalzeitung findet man aber längere Artikel, die wenigstens in literarischer Weise auf die Konzertabende gespannt machen; da heißt es zu Aperghis, sein „Blick [...] erkennt die Gegenwart als eine ruinierte – und treibt sein kindliches Spiel mit den Resten, die sich im entgegenstrecken“. Situations für 23 Solisten aus dem Jahr 2013, das einstündige Werk, das ich mir gestern anhörte, sei „eine Feier der Gemeinschaft, die das Individuum ins Zentrum rückt“. Zur Musik lese ich im online-Programmheft, sie biete im ersten Abschnitt „ein Kaleidoskop bunter Polyphonien, aus Fragmenten, die sich aneinanderreihen oder sich überlagern“ – naja. Irgendeine Methode wird Aperghis doch angewandt haben?

Wenigstens wird auch diese Selbstbeschreibung seiner Arbeitsweise zitiert: „Ich suche nach der Diskontinuität, dem Zickzack, nach der Absurdität mancher Begegnungen. Ich denke oft an einen Akrobaten, der von einem Seil zum anderen geht oder springt und sich im letzten Moment fängt. Diese Zerbrechlichkeit, diese Gefahr ist es, die ich suche. Aber auch wenn alle diese Elemente heterogen bleiben, zum Schluss müssen sie einen einzigen ‚Organismus‘ bilden – oft widersprüchlich, manchmal paradox, aber ein einziger Organismus. Darum geht es für mich bei dem, was man die ‚Großform‘ nennt.“ Das ist sehr interessant – ein zerbrechlicher musikalischer Organismus. Adornos ästhetische Theorie fällt mir dazu wieder ein, in der betont wird, dass Musik, die das Utopische beschwört, es mit Rissen versehen darstellt, damit es nicht zur Ideologie des Gegenwärtigen werden kann, oder dass sie sich umgekehrt in Rissen ergeht, ohne das Utopische ganz wegzulassen, oder etwas dazwischen. Dies ist Adornos Sicht auf den musikalischen Inhalt, wenn man so sagen darf. Was Aperghis sagt, scheint nicht ganz dasselbe zu sein, sondern bei seinen Musikstücken müsste man quasi im Hören daran zweifeln, ob es ihnen überhaupt gelingen wird, sich zu Ende zu bringen. Ein Zweifel, der doch nie aufkommt, wenn man zum Beispiel Beethovens Freude, schöner Götterfunken mit den kurzen Moll-Eintrübungen darin anhört, die das Ganze als erträumt oder „geglaubt“ ausweisen.

Ein laufendes Musikstück, dessen Zukunft der Selbstbeendigung hörbar unsicher ist, wäre schon eine bedeutende Sache. Man denkt an Augustin, der das Singen eines den Sängern bekannten Liedes zur Metapher des Erlebens von Ewigkeit machen konnte, weil sie in jedem Moment ihres Singens den ganzen vorausgewussten Ablauf miterleben, einschließlich des Endes. Nicht nur Choräle sind in der Folge so gesungen worden, sondern noch alle klassische Konzertmusik hat dieses Erlebnis vermittelt, in gesteigerter Form sogar; wer zum Beispiel die Vierte von Brahms kennt und wieder einmal hört und mittendrin ist, ist aus aller sonstigen Zeit herausgetreten. Ja, wir sind beim Festival-Thema „Zeitfragen“. Ein Stück von Aperghis, wenn man es so hören könnte, wie es gemeint ist, würde einerseits kein Ewigkeits-Erlebnis vermitteln, andererseits auf seine Art aus den vorhandenen Zeiten ebenfalls heraustreten, dadurch nämlich, dass es die Möglichkeit des Ab- und Zusammenbruchs der „Projekte“, oder gar des Friedens, die beschönigend verschwiegen zu werden pflegt, desillusionierend herausstellt.

Ein bisschen haben es die Situations wohl wirklich erlebbar gemacht. Man hörte jedenfalls, dass sie jederzeit auch anders weitergehen und insofern auch aufhören konnten. In dieser Hinsicht war das Stück in jedem Augenblick unberechenbar, obwohl es sich tatsächlich als ein einziger „Organismus“ darbot. Ich denke, dies gelang auch wegen der traditionellen Orchesterzusammensetzung, in der die klassischen Instrumente vertreten waren. Akkordeon, Saxophone und Gesprochenes kamen dazu („Wer schweigt, weiß, wovon er schweigt“), aber trotzdem. Der Gesamtklang war nicht ungewohnt und das Gewohnte sind ja „Organismen“. Als „Feier der Gemeinschaft, die das Individuum ins Zentrum rückt“, wo man mindestens hinzufügen müsste: als zerbrechliche Feier, habe ich es aber nicht gehört. Die überwiegend nervösen, selten auch einmal ruhigen musikalischen Impulse fügten sich zu keiner Gesamtrichtungsangabe zusammen. Es stimmt aber, dass es ums Individuum oder besser gesagt um die Individuen ging. Man könnte von einem neuartigen Konzert im Sinne dessen sprechen, was früher Klavierkonzert, Violinkonzert und so weiter hieß: ein Konzert nunmehr mit nicht nur einem Solisten oder einer Solistengruppe, was auch vorgekommen ist („Tripelkonzert“), sondern wo das ganze Orchester aus potentiellen Solisten besteht, die zugleich auch orchestrale Begleitung sind.

Da war es immer überraschend, wer als Solist hervortrat, und wiederum muss man sagen, dass von „Hervortreten“ die Rede nicht sein kann, weil das den traditionell üblichen, hier nicht gegebenen Primat der Begleitmusik voraussetzen würde. Die Musik von Aperghis beginnt tatsächlich, und das immer neu durchs ganze Stück hindurch, mit den komponierten Einfällen der Instrumental-Individuen. Oft lösen sie ähnlich Klingendes bei wenigen oder vielen anderen aus. Oft aber auch weht ihnen ein Wind ins Gesicht, den sie nur nachträglich irgendwie auf sich beziehen können, alles wie im wirklichen Leben. Aperghis war anwesend und sammelte Beifall, es war ein beeindruckender Abend im Kammermusiksaal der Philharmonie. Gespielt hat das Klangforum Wien, das der Komponist beim Komponieren im Auge hatte - das heißt er kannte die Individuen, die er musikalisch aufrief -, unter der Leitung von Emilio Pomàrico.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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