Es gibt kein Zurück

Ultraschall 2020 Orchestermusik wird heute von vielen Neuerern zurückgewiesen. Hier wird sie verteidigt: ein Abschlusskonzert mit zwei Uraufführungen und einer deutschen Erstaufführung

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Mit der angekündigten Verspätung berichte ich hier noch von einem der beiden Abschlusskonzerte von Ultraschall Berlin, dem Festival für neue Musik zwischen dem 15. und 19. Januar 2020. Zwei Abschlusskonzerte sind seit einigen Jahren üblich, die beiden Berliner Rundfunk-Orchester machen so noch einmal auf sich aufmerksam. Da das Festival mit einem Orchesterkonzert auch beginnt, gibt es also jeweils drei Konzerte mit großen Klangkörpern, und wie man zu Beginn des Konzerts, um das es im Folgenden geht, erfuhr, ist das inzwischen im Kontext neuer Musik eine Seltenheit, was wiederum damit zusammenhängt, dass das Orchester an und für sich von vielen für obsolet erklärt worden ist. Musikmanagern jedenfalls, Komponistinnen vielleicht weniger. Die Macher von Ultraschall wollen dieser Tendenz sicht- und hörbar entgegentreten.

Das Deutsche Symphonieorchester Berlin (DSO) spielte am Mittwoch, ich habe dazu geschrieben, jetzt am Sonntag habe ich das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSO) besucht, die Leitung hatte Brad Lubman. Das Konzert wurde in der Halle 2 der Akademie der Künste am Hanseatenweg veranstaltet. Der langgestreckte Raum mit niedriger Decke hat eine ganz großartige Akustik. Vielleicht kann ich deshalb nur mit Befangenheit berichten, die ein (Kunst-) Richter nicht haben sollte, aber ein solcher will ich ja ohnehin nicht sein. Ich habe in den Klängen geschwelgt. Das erste Stück war The narrow corner für Orchester (2015) von Francesca Verunelli. Mit dem Titel, „Der schmale Winkel“, ist eine „Erzählperspektive“ gemeint, wie sie schreibt. In zehn Minuten wird dieselbe Musik viermal gespielt, aber jedesmal aus anderer Perspektive, das heißt mit anderen Farben und veränderter Verteilung der Lautstärken, die überall zurückhaltend bleiben. Gesten des Willens wechseln mit solchen der Introspektion oder überlagern einander. Die Gestalt des viermal Wiederholten ist einprägsam, obwohl es sich auf Tonalität in keiner Weise bezieht. Zum Beispiel beginnt es mit relativ leisem Ausrufezeichen und endet mit noch viel leiserem Nachsatz, der in einer der Wiederholungen klagend klingt. Man fühlt sich entfernt an Kompositionen Bruno Madernas erinnert. Man assoziiert Traumlandschaften. In den Schlafstunden meines Lebens habe ich viele gesehen, die sich immer identisch wiederholten; in der Musik können sie variiert werden.

Ich habe an Gruppen für drei Orchester (1958) von Karlheinz Stockhausen gedacht, genauer gesagt an eine Berliner Aufführung, wo das Stück zweimal hintereinander gespielt wurde und man als Zuhörer beim zweiten Mal den Platz gewechselt hatte. Auch da ergaben sich sehr verschiedene Höreindrücke. Aber man kann es nicht wirklich vergleichen. Stockhausen malt keine Landschaft, sondern stellt eine hochkomplexe Konstruktion vor, die man schon deshalb oft hören muss, egal ob vom selben Platz oder anders, weil sie sonst hermetisch verschlossen bliebe. Man kann auch an Pierre Boulez‘ „aleatorische“ Kompositionen denken, von denen ihr Urheber sagt, die Partituren seien etwas wie eine Stadt und die Interpreten könnten, um sie kennenzulernen, mal die eine, mal die andere Straße durchlaufen. Bei Verunelli geht es aber nicht ums Kennenlernen, sondern darum, die Farben der Orchestergruppen und –elemente auf ganz verschiedene Art zusammenwirken zu lassen. Dass das Orchester nicht mehr als einheitlicher Klangblock genutzt wird, verbindet wohl fast alle, die es sich nicht nehmen lassen, auch heute mit ihm zu arbeiten.

Das zweite Werk des Abends, abgesang, Lied für Sopran und Orchester (2015/17) von Marko Nikodijewić, eine Uraufführung, war die Vertonung eines 1995 geschriebenen Gedichts von Molcer Mátyás, in dem die Trauer über den jugoslawischen Bürgerkrieg zum Ausdruck kommt: „gelb wird das Gras / auf zeichenlosen / Gräbern / wenn sie dann wieder / zusammen pflügen / die Knochen / fangen sie neu an // weil schau immer / fangen sie neu an / die Knochen / zusammen zu pflügen / auf Gräbern /zeichenlos / gelb wird das Gras“. Die Musik des serbischen Komponisten hinterlässt einen erschütternden Eindruck. Es beginnt bewegungslos, in Abständen wiederholte Paukenschläge markieren das unwiederbringlich Verlorene, die Stimme ist davon gefesselt, erst im Mittelteil macht sie sich etwas frei, auf eine Weise aber, dass man sich sagt, es ist vergeblich. Denn das Orchester lässt die Stimme leerlaufen. Wahrscheinlich sind das die Verse, die vom Neuanfang sprechen. Zu wirklicher Bewegung kommt es erst im dritten Teil aus der Pauke selber heraus, die nun eine Art Trauermarsch formiert. Das Orchester ergeht sich in einer langsamen regelmäßigen Abwärtsbewegung, die immerzu wiederholt wird, anfangs mit furchtbar süßem Klang, wie man ihn von vielen Trauermusiken kennt, dann immer härter, lauter und leidenschaftlicher. Die klagende Stimme erinnerte mich einmal an den Totengesang in Gershwins Porgy and Bess. Das Ganze bricht einfach ab, es folgt noch ein leiser Nachgesang, das Gedicht schließt ja mit dem Gras, mit dem es auch begonnen hat - auch die Abgründe, in die sich die Särge senkten, sind verschwunden, alles ist weg. Eine Trauer, die keine Perspektive eröffnet, aber es ist die der Überlebenden. Vielleicht gibt ihnen gerade die Trauer, der sie nicht ausweichen, eine neue Kraft.

Drittens das Concerto for Voice (moods IIIc) für Stimme und Orchester (2015) der norwegischen Komponistin Maja Solveig Kjelstrup Ratkje, eine deutsche Erstaufführung. Sie wollte „erforschen“, schreibt sie, „was passiert, wenn man eine nah mikrofonierte, extrem individuelle und autodidaktisch trainierte Stimme vor einem Orchester platziert“. Die „Mund- und Stimmgeräusche“ nähmen auf keine Literatur Bezug, seien aber doch metaphorisch mit Sprache verbunden, insofern als eine Schreibmaschine mitspielt, „auch hörbar mit der Solostimme verbunden“, die zu versuchen scheine, „Wörter und Sätze aus den einzelnen Stimmklängen zu formen“. Nun, damit ist über dieses Stück eigentlich schon alles gesagt. Kjelstrup selber hat das Mikro und ist die Stimme, die über eine erstaunliche Vielfalt von Geräuschen verfügt; Dieter Schnebels „Maulwerke“ sind wohl noch übertroffen. Von der Schreibmaschine hört man jedenfalls das Tippen, sie formt Wörter oder auch nicht. Die Stimme lässt natürlich daran denken, dass allem Geschriebenen Emotion zugrunde liegt. Aber das dazwischen, das Gesprochene, ist abwesend. Die Schreibmaschine kann auch als Metapher auf Musik überhaupt angehört werden, da sie sich ja rhythmisch hören lässt. Musik wird geschrieben, ohne dass Wörter herauskommen. Eine Art Sprechen sollte sie trotzdem immer sein. Was aber diese Komposition hier angeht, scheint sie gar keinen bestimmten Charakter annehmen zu wollen. (Das soll keine Kritik sein.) Im Internet, wo das ganze Konzert gespeichert ist, kommen Gegensatz und Zusammenspiel der Stimme und des Orchesters leider gar nicht gut rüber, man hat dabei sein müssen.

Bleibt noch Masque für Ensemble und Orchester (2019) vom Gordon Kampe, eine weitere Uraufführung. Er hat das Stück für das Berliner Ensemble LUX:NM geschrieben, das denn auch auf der Bühne stand. Auch hier war es wichtig, dabei zu sein, denn im Internet kann man das Ensemble nicht gut vom Orchester unterscheiden. Den Titel erklärt Kampe so, dass „alles, was ich tue, gewissermaßen Theater ist“. In der Tat, das hört man, und es ist ein Theater der tonalen Vergangenheit. Die langsamen verzerrten Akkorde zu Beginn erinnern an sehr alte Schallplattenaufnahmen, gewisse Klänge von Brechts Dreigroschenoper, der Konserve mit Lotte Lenya, kamen mir in den Sinn. Dann folgt Erinnerungsbild auf Erinnerungsbild. Lange traurige Passage im Mittelteil, Streicher und Saxophon zunächst, langsame Gestik wie am Anfang, die sich akkordisch steigert und geradezu in eine Verzweiflung hinein, aber nicht richtig ernst gemeint ist. Dann wieder gute Laune, Beschleunigung, Jahrmarkt. Das Stück endet lustig, ja übermütig, jazzmäßig, mit Einblendung der Geste des Anfangs. Dieses Stück lädt dazu ein, über die Rolle der Tonalität in neuer Musik nachzudenken. Es könnte für einen Rollen-Wechsel beispielhaft sein. Als Penderecki wieder traditionell tonal komponierte, war das eine echte Rückkehr, ein Rückzug. Heute ist es anders. Eine Komposition wie die von Kampe signalisiert gerade umgekehrt, dass es kein Zurück mehr gibt. Gerade weil sie es nicht nötig hat, wie Boulez oder der frühe Stockhausen so zu tun, als habe es eine musikalische Vergangenheit nie gegeben, ist der Befund umso deutlicher. Denn was hören wir da? Von Erinnerung im Sinn von Vergegenwärtigung kann keine Rede sein. Das Zitierte klingt so vertraut wie fremdartig. Wenn man das als Metapher auf Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung nimmt, steht es schlimm.

Jeder Versuch, aus einer Sackgasse sich zu befreien, schließt doch die Frage ein, wie man in sie hineingelaufen ist. Daher wird niemand, der seine Vergangenheit nicht mehr versteht, mit seiner Gegenwart fertig. Die Musik kann uns da nicht weiterhelfen. Ihr geht es wie der ganzen Gesellschaft. Doch hat sie wenigstens das Problembewusstsein. Ich habe wieder allen Anlass, mich für ein interessantes Festival zu bedanken. Das eben geschilderte Konzert wird noch einmal gesendet am 1. 2. 20.04 Uhr in rbbKultur.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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