Folgenloses Geschehen bei Richard Strauss

Musikfest 2016 Die „Sinfonia Domestica“ hat aber einige musikalische Innovationen zu bieten

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Kirill Petrenko (li.) mit Orchester
Kirill Petrenko (li.) mit Orchester

Foto: Wilfried Hösl

Das Konzert gestern Abend wurde von Kirill Petrenko geleitet, dem künftigen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker. Der Beifall für den außerordentlichen Künstler wollte nicht enden. Schon ihm zuzuschauen ist ein Genuss. Keineswegs hat man den Eindruck, einer „Show“ zuzuschauen. Seine Gesten sind vielfältig und genau, leidenschaftlich und kühl zugleich. Sehr klug zeigte er die ganze Palette seines Könnens: arbeitete die diffizile Polyphonie bei Ligeti heraus, der ja keine „Cluster“ komponiert hat, auch wenn seine Tonhöhenverläufe noch so eng beieinanderliegen (Lontano, 1967), durchleuchtete den Witz, die Fülle und auch die Lächerlichkeit der Sinfonia Domestica (1902-03) von Richard Strauss auf und brachte dann noch unerwartet, um den Abend mit Besserem zu beenden, Richard Wagners Meistersinger-Ouvertüre als „Zugabe“. Dazwischen dirigierte er auch ein Violinkonzert von Bela Bartok, wo Frank Peter Zimmermann Gelegenheit hatte zu glänzen. Auch er, der namhafte Geiger, setzte noch etwas drauf, das mehr war eine gewöhnliche Zugabe, nämlich ein Stück für Violine solo von Johann Sebastian Bach (war's die Gigue der zweiten Partita?) – pausenlose Girlanden, wunderbar gefühlvoll interpretiert, über wohl acht oder neun Minuten. Ganz großartig war das Bayerische Staatsorchester, „eines der ältesten und traditionsreichsten [...] der Welt“, und das Publikum wusste es zu schätzen.

Ich will nur zur Sinfonia Domestica ein paar Worte sagen. Diese Sinfonie ist einsätzig, hat die traditionellen vier Sätze einerseits in sich aufgehoben und bietet andererseits viel mehr als deren Verlauf. Es ist doch hauptsächlich eine Tondichtung, in die ein symphonisches Gerüst eingezogen ist. Da aber die Tondichtung eine Interaktion zum Gegenstand hat – von Gatte, Gattin und Sprössling -, kann man auch sagen, es ist ein Entwurf, wie eine Oper komponiert sein könnte. Schon die Wagner-Opern waren in strenger Form komponiert, jedoch nicht in symphonischer. Am ersten Akt von Hans Pfitzners Palestrina könnte man indessen aufzeigen, dass sie etwas wie ein Sonatenhauptsatz ist. Strauss selbst hat sich mindestens in Intermezzo (1924), also gerade in seiner Ehe-Oper, um symphonische Durcharbeitung bemüht: Er stellt sich

„mit den in einzelne Szenen eingebauten ebenso wie mit den systematisch zwischen den Szenen platzierten rein orchestralen Sätzen dem eigenen Anspruch, parallel zut Textstruktur eine selbsttragende ‚symphonische Einheit‘ zu schaffen. Über Szenen und Akte hinweg spannt er die konstitutiven Konstruktionselemente einerseits des viersätzigen symphonischen Zyklus, andererseits der Sonatenform. Mit welcher gestalterischen Raffinesse Strauss das kompositionstechnisch mit einem höchst versatil behandelten Orchester im Einzelnen bewältigt, ist von der Forschung als ‚Extremfall‘ des Bemühens ‚um die Integration des Symphonischen ins Bühnenwerk‘ beschrieben worden (Werbeck 2001, 118 f.).“ (Ulrich Konrad in Walter Werbeck [Hg.], Richard Strauss Handbuch, Stuttgart Weimar 2014, S. 220; Werbeck 2001: Oper und Symphonie. Zur formalen Konzeption von ‚Intermezzo‘, in Richard Strauss-Blätter N.F. 45, 109-123)

Ein großer grundsätzlicher Schritt ist ihm damit wohl dennoch nicht gelungen, denn das Gelingen der symphonischen Durchdringung hat eine Kehrseite: „[...] zumindest zeigen die Hauptpersonen seiner Oper keine Entwicklung, sondern durchleben in der Statik ihrer ‚glücklichen Ehe‘ das Intermezzo eines zwar aufregenden, doch am Ende folgenlosen Geschehnisses. Hofmannsthal kritisierte dieses aus seiner Sicht bloße ‚Charaktergemälde‘ ohne rechte Handlung; die Zuhörerschaft werde ‚nicht ins Geschehen hineingerissen‘.“ (S. 218) Hugo von Hofmannsthal war der Librettist von Strauss‘ wichtigsten Opern wie dem Rosenkavalier oder der Arabella. Seine Kritik am Intermezzo träfe auch auf die Sinfonia Domestica zu, die ja auch nur ein „Charaktergemälde“ bietet und wo sich das Geschehen, sieht man vom Erwartbaren ab, dem Zubettbringen des Kindes, dem Bett der Gatten – „sexuelle Aktivitäten im bürgerlichen Schlafzimmer (mit einem beeindruckenden Höhepunkt in T. 748)“ (Charles Youmans, a.a.O., S. 431) – und dem Anbrechen des neuen Tages, auf einen Streit zwischen den Eheleuten reduziert, deren Inhalt man nicht erfährt und der natürlich auf eine Versöhnungsszene hinausläuft.

„Folgenloses Geschehen“ ist es in dem Sinne nicht, dass ein Kind da ist infolge der Eltern. Darum scheint es Strauss auch hauptsächlich zu gehen. Interessant ist, dass er den Eltern ziemlich komplexe und geradezu „nervöse“ Themen gibt, den kleinen Buben aber mit einer sehr einfachen und fast sakral zu nennenden Melodie ausstattet. Dass diese Melodie aus den Elternthemen entwickelt werden kann, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Der Eindruck ist derselbe, wie wenn im Rosenkavalier die jungen Leute, die am Ende zusammenfinden werden, die korrupte Welt der Verwandten unterbrechend ihr Duett singen. So einfach hat sich Strauss den Zeitlauf vorgestellt. Man macht Kinder und die Welt geht gut weiter. Nun, es ist eine volkstümliche Vorstellung und auch Hannah Arendt hat sie unterschrieben, mit jedem Kind, sagt sie ja, komme etwas Neues in die Welt; doch füllt sie ihren Begriff des Initiativen dann noch gewinnbringend auf. Unter einer gewinnbringenden Sinfonia Domestica hätte ich mir etwas anderes vorgestellt. Beginnen könnte sie wie bei Strauss: Erst die beiden „nervösen“ Elternthemen, dann das einfach-sakrale Kindthema. Die Elternthemen sind für sich genommen auch wirklich eine Innovation:

„So stellt Strauss mit dem ersten Thema bzw. der ersten Themengruppe“, die den Gatten bezeichnet, das ist Strauss selbst, „in lediglich 36 Takten nicht weniger als fünf musikalische Ideen vor, die im Hinblick auf ihren thematischen Gehalt, ihre Tonart und ihren Ausdruck derart verschieden sind, dass sie fast keine Verbindung miteinander zu haben scheinen: Da gibt es eine ‚gemächliche‘ Linie in F-Dur, die aus dem tiefen Register in die Höhe wandelt (T. 1), eine ‚träumerische‘, über einem statischen g-moll-Klang schwebende Vision, gespielt von einer Oboe (T. 5), einen tonartlich instabilen Augenblick ‚mürrischer‘ Laune (T. 16), eine für Strauss charakteristische ‚feurige‘ erotische Steigerung in E-Dur sowie eine ‚lustige‘ Trompetenfanfare in C-Dur (T. 33). Diese bemerkenswert präzisen Miniaturporträts, jedes dazu bestimmt, eine Facette im Charakter des Helden darzustellen, folgen nicht im Sinne autonomer musikalischer Logik, sondern möglichst scharfer Kontraste: wie filmische Überblendungen, die die wunderbare Leichtigkeit illustrieren, mit der Strauss von einer Welt in die nächste zu wechseln vermochte.“ (S. 428; die Gänsefüße im Zitat verweisen auf Partiturangaben)

Das Ganze ist ein „Leitmotiv“ im Wagnerschen Sinn, doch völlig verwandelt, zur Motivgruppe geworden statt linear, dadurch auch kein „Charakter“ in dem Sinne mehr, dass dessen Entfaltung vorgezeichnet wäre, sondern Ausdruck einer bloßen Potentialität, wie sie sich darstellt im Augenblick ihrer Beleuchtung. Die Gattin wird in derselben Weise gezeichnet. Wenn danach die einfache Melodie des Kindes erklingt, hat man zuhörend den Eindruck, jetzt beginne es eigentlich erst, und ist das nicht Strauss‘ eigener Hauptgedanke, der Neubeginn? Aber dann hätte es anders weitergehen müssen: Das Kind-Motiv hätte sich in Auseinandersetzung mit den Eltern-Motiven zu entwickeln, zu individuieren. Von einem Tag auf den andern wird das freilich nicht geschehen können, also wäre ein anderes Tondichtungskonzept vonnöten. Aber auch im Rosenkavalier, wo die neue mögliche Paarung der jungen Leute ja wirklich, nachdem sie wiederum nach „nervösen“ Vorereignissen recht bald am Anfang schon sichtbar geworden ist, sich schrittweise gegen die etablierten Verwandten durchsetzt, kommt keine musikalische Entwicklung zustande. Das Paar singt am Ende noch genauso wie am Anfang.

Man kann sagen, Strauss war ein Optimist, doch der Optimismus war historisch nicht gerechtfertigt. Das hätte er nach Strauss‘ eigener Intention aber sein sollen. Denn er hat die Sinfonia Domestica nicht geschrieben, um mit seinem Privatglück zu prahlen; vielmehr „widersprach“ er „der metaphysischen Autorität, die noch immer, ganz im Sinne von Schopenhauers Konzeption absoluter Musik, mit der Gattung Symphonie verbunden wurde. [...] Im Gegensatz zu Mahler [...] verband Strauss seine Musik demonstrativ mit der physischen Welt“ (Konrad, a.a.O., S. 426), besser gesagt mit dem wirklichen Leben, wie er es wahrnahm: Nicht metaphysisch, sondern vitalistisch wollte er sein. Doch wie man weiß, hat sich der Optimismus dieser Weltanschauung bitter gerächt, auch an ihm selber. Seine letzten großen Kompositionen, die Metamorphosen für 23 Solostreicher (1945) und die Vier letzten Lieder (1948), reflektieren das; die eine trauert, die andere übt sich in Ergebenheit.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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