Geworfen

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Von den beiden Konzerten am Sonntag will ich abschließend berichten. Gestern und heute Abend gab es noch ein Gesprächskonzert mit Daniel Barenboim. Mit dem heutigen Konzert endete das musikfest berlin 2010.

Drei Hauptwerke von Boulez standen am Sonntag auf dem Programm, und an allen hat mich der Klang, der "Ausdruck", die Bedeutung interessiert. Der Klang also nicht im technischen Sinn eines zur Reihe organisierten besonderen Parameters, sondern als das, was sich insgesamt mitteilt und worin er alles zusammenfasst, was sonst noch in der Musik passiert. Es geht tatsächlich auch Boulez, der in manchen Kreisen als purer Konstrukteur verschrieen war und vielleicht immer noch ist, um den "Ausdruck"; hören wir ihn selbst:

"Das Werk ist nur dann gültig, wenn das technische Anliegen sich in ein ästhetisches Ziel, in einen 'Ausdruck' verwandelt - ich gebrauche dieses einfache Wort, um den Fachjargon zu vermeiden. Sobald der Ausdruck durch eine unbewegliche Technik, die sich selbst belastet, zurückgehalten, unterbunden, zum Erstarren gebracht wird, kann das Werk nicht befriedigen."

Boulez räumt ein, dass er und seine Mitstreiter sich anfangs auf den technischen Aspekt konzentriert haben. Aber das konnte nicht so bleiben:

"In den meisten Werken, die damals komponiert wurden, sehe ich nichts als ein Projekt, das nur vom mentalen Gesichtspunkt her befriedigen kann: es besteht ein Zwiespalt zwischen dem mentalen, dem abstrakten Objekt, der intellektuellen, ja sogar der manipulatorischen Genugtuung und dem Resultat. Die Manipulation ist sehr wichtig, aber sie muss Werkzeug bleiben, muss vermitteln. [...] Diese Periode hat bei mir nur kurz gedauert, denn ich bin mir immer bewusst gewesen, wie notwendig es ist, dass Musik eine echte Kommunikation bietet. Aber ich habe durch diese theoretische Askese und durch diese äußerst strenge, manchmal sogar recht schwierige Arbeit auch vieles entdeckt, das will ich nicht leugnen. Heute jedoch denke ich, je weiter ich gehe, dass die technischen Erwägungen Funktion einer Aussage sein müssen, und nicht mehr nur eine Untersuchung der Mittel." (Wille und Zufall, Stuttgart Zürich 1977 [Erstausg. 1976], S. 66 f.)

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Am Sonntagmorgen spielte das Ensemble Intercontemporain, das Boulez einst selbst gegründet und lange dirigiert hat. Man konnte sicher sein, was hier geboten wird, ist im Sinn des Meisters. Es war tatsächlich exzeptionell. Die beiden Werke, die auf dem Programm standen, wurden so aufgeschlüsselt, wie es Boulez' zitierten Worten entspricht. Das erste, die Deuxième Sonate für Klavier von 1946/48, gehört der "technischen" Periode an, steht ganz an ihrem Anfang; das zweite, Le Marteau sans maitre für Altstimme und sechs Instrumente auf Gedichte von René Char, 1953/55, revidiert 1957, ist nicht nur besonders berühmt, sondern hat auch den Durchbruch zum freieren Komponieren vollzogen, was vielleicht miteinander zusammenhängt. Die strengste Phase der Serialität liegt dazwischen und war als solche nicht repräsentiert.

Zur Deuxième Sonate wollen wir zunächst wieder Boulez hören. Er sagt, es sei ihm darum gegangen, die

"Formen zu zerschlagen: ich meine damit den Versuch, die Form des Sonatenhauptsatzes zu sprengen, die Form des langsamen Satzes durch Tropierung und die Scherzoform durch die Variationsform aufzulösen, schließlich im vierten Satz die Formen von Fuge und Kanon zu zerstäuben. Vielleicht verwende ich jetzt zu viele negative Begriffe, aber es gibt nun einmal Zersplitterung, Auflösung, Zerstäubung in dieser Zweiten Sonate. Obwohl sie die klassischen Formen mit voller Absicht ins Feuer wirft, besitzt sie selber eine zwingende Form. Nach der Zweiten Klaviersonate habe ich mich nie mehr auf eine vergangene Form bezogen. Ich habe immer eine Form gefunden, die mit der Idee selbst erdacht worden war." (S. 46)

In positiven Begriffen gesprochen, ging es Boulez darum, mit dem Schönbergschen Konzept der Zwölftonreihe zu brechen, insofern vor allem, als er "der rhythmischen Erfindung eine verstärkte Rolle zugewiesen" hat (S. 44). Wenn er etwas zerstören wollte, dann den Glauben, man sei auf die alten Formen noch angewiesen. Das Interessante an der Zweiten Sonate ist aber, dass sie gerade deshalb, weil dies seine Absicht war, hier noch erhalten geblieben sind. Wie Erich Kuby einmal sagte, die Freie Universität Berlin beweise durch ihren Namen eine "antithetische Bindung" an die Humboldt-Universität in der Hauptstadt der DDR, so kann von einer antithetischen Bindung der Zweiten Sonate an den Beethovenschen Formtypus gesprochen werden.

Im Programmheft zur Aufführung ist es dieser Aspekt, der betont wird: "Boulez [...] attackiert von innen. Das Eröffnungsstück schreibt er als regelrechten Sonatensatz. Drei Abschnitte von unterschiedlichem Charakter folgen wie Hauptsatz, Seitensatz und Schlussgruppe aufeinander. [...] Nur die Begriffe: Exposition, Durchführung und Reprise decken die Sache nicht, die sie benennen sollen. Durchführung ist überall, deshalb gibt es auch keine wiederherstellende Reprise." Was man im Grunde schon bei Johannes Brahms findet; Schönberg, der es gezeigt hat, nannte es "entwickelnde Variation". Vom langsamen zweiten Satz schreibt das Programmheft, es lasse sich "auf keinen klassischen Grundriss mehr projizieren" - während der dritte "dem Charakter und der Form (!) nach" durchaus noch "ein Scherzo" ist -; aber schon dass er langsam ist (er trägt tatsächlich die Überschrift "Lent"), verbindet ihn mit der Klassik. Der Autor ist Habakuk Traber. Man kann, nebenbei gesagt, alle Programmhefte des Musikfests nur aufs Äußerste loben.

Was hier noch wie eine Behauptung klang, die kaum zu glauben war, wurde durch das sensible Spiel des Pianisten Dimitri Vassilakis hörbar gemacht (den, wie das Programmheft vermerkt, mit Boulez "eine besonders intensive und produktive Arbeitsbeziehung verbindet"). Ja, bei diesem Lento konnte an Beethoven gedacht werden, trotz aller "Zerstäubung" und völlig ungewohnten Rhythmik. Wenn ich die bekannte Schallplatten- bzw. CD-Aufnahme Maurizio Pollinis damit vergleiche, ist es ein Unterschied wie Tag und Nacht. Wer ihm zuhört, kommt kaum auf den Gedanken, die Sonate könne etwas mit der Musikgeschichte zu tun haben. Ein Vorwurf ist ihm daraus nicht zu machen. Er hat eben den anderen Aspekt betont, die "Zersplitterung, Auflösung, Zerstäubung", den Wurf ins Feuer. Dass dies aber einseitig war, hat er nicht gesehen. Ich kenne noch eine andere Aufnahme, die ich viel besser gelungen finde, die von Idil Biret. Es ist lehrreich, ihre Interpretation des zweiten Satzes mit der von Pollini zu vergleichen. Wo es laute Stellen gibt, folgen sie bei Pollini auf die leisen wie, sagen wir, ein Stromausfall aufs Beleuchtete, das eine scheint mit dem andern nichts zu tun zu haben. Bei ihr sind es die Stellen mit besonders hoher Expressivität. Auch im klassischen zweiten Satz wechselt natürlich das Leise mit dem Lauten. Es gibt überhaupt nicht den leisesten Grund, solche Wechsel für sinnleer zu halten, weder in der Klassik noch bei Boulez.

Man kann Boulez sicher missverstehen. Man braucht nur daran zu denken, wie Gillez Deleuze das Wort "seriell" verwendet hat: Die Buchstaben AZERT, wie sie auf der französischen Schreibmaschinen-Tastatur benachbart sind, sind ihm ein Veranschaulichung dafür, wie sich Foucaultsche Diskursereignisse in Raum und Zeit "verteilen" (Foucault, Frankfurt/M. 1987 [Erstausg. 1986], S. 23 f.): Als solche bloße Verteilung hört er die musikalischen Ereignisse bei Boulez, kann ihn deshalb zum Kronzeugen ausrufen. "Ein Urteil Boulez' über das einzigartige Universum Weberns ließe sich auch auf Foucault (und seinen Stil) anwenden: 'Er hat eine neue Dimension geschaffen, [...] eine Weise, Punkte, Blöcke oder Figuren nicht mehr nur in der Ebene, sondern auch im Raum zu verteilen.'" (S. 36) Ja, aber damit hat Boulez nicht gesagt, dass Weber nur "verteilen" wollte! Es war gerade Boulez, der durch seine Gesamteinspielung Weberns den emotionalen, sinnhaften Gehalt dieser Musik unterstrich, ihren "Ausdruck", den eine Foucaultsche Verteilung von Diskursereignissen natürlich nicht hat.

Foucault selbst hat Boulez übrigens auch gewürdigt, mit einem doch etwas anderen Akzent als Deleuze. Was hörte er, wenn er Boulez hörte? Dies: "Nicht der Aufstieg zum höchsten Standort, nicht der Zugang zum umfassendsten Gesichtspunkt gibt uns am meisten Klarheit. Das kräftige Licht kommt von der Seite, daher, dass eine Wand durchdrungen, eine Mauer durchbrochen, zwei Intensitäten zusammengebracht, ein Abstand mit einem Satz überwunden wird." (Pierre Boulez oder die aufgerissene Wand, in Musik-Konzepte 89/90, München 1995, S. 3-6, hier S. 4 f.) Mit den "zwei Intensitäten" meint er Musik und Textvorlage, zum Beispiel die von René Char in Le Marteu sans maitre.

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Dieses Werk ist unter vielen Aspekten interessant, zuerst unter dem literarischen. Boulez hat drei kurze surreale Gedichte von Char ausgewählt, ihnen Musikstücke zugeordnet und diese auf höchst komplexe Art zusammenmontiert. Die Altstimme, am Sonntag phantastisch gesungen von Margriet van Reisen, singt eins der Gedichte zweimal, die andern je einmal. Von den Gedichten, die einmal gesungen werden, hat das eine noch ein "Avant" und ein "Après", das andere "Commentaires" I, II und III. Diese Stücke sind rein instrumentell. Alles wird nun wie zufällig durcheinander geworfen: Avant Gedicht A, Commentaire I zu B, A gesungen, Commentaire II zu B, C gesungen in erster Version, B gesungen, Après A, Commentaire III zu B, C gesungen in zweiter Version. Das ist die auf den ersten Blick nur verwirrende Reihenfolge der Stücke. Es entspricht aber dem Inhalt der Gedichte. Ein zerspaltenes, ich würde sagen, trotz der surrealen Bilder, ein existenzialistisches Subjekt geht auf seinen Tod zu - "Der Schritt hat sich entfernt der Wanderer ist verstummt", s'est tu, was die Assoziation s'est tué herausfordert - und ist wahrhaft g e w o r f e n in eine Heimatlosigkeit: "Reine Augen in den Wäldern / Suchen weinend das bewohnbare Haupt."

Obwohl die Stücke montiert sind, macht die Reihenfolge Sinn. Die Gedichte repräsentieren Vergangenheit ("Ich höre wandern in meinen Beinen [...] Kind der wilde Molenweg / Mann der nachgeahmte Wahn"), Gegenwart ("Auf das Zifferblatt der Nachahmung / Wirft das Pendel seine Last willenlosen Granits": eigentlich ein Bild des Todes, doch die Musik betont das "Zifferblatt", das monotone Ticken der Zeit) und Zukunft ("Ich sinne den Kopf auf der Spitze meines Messers Peru"). In der Mitte und am Ende steht C, das Vergangenheitsstück. Der Gegenwart B sind die meisten Stücke zugeordnet, vier von neun, und da sie die Komposition wie ein Rondo regelmäßig rastern, ist auch ihre Rolle zentral. Hier wird nun auch der musikalisch-technische Aspekt interessant, denn die B-Stücke sind die einzigen, die noch nach strengen seriellen Regeln komponiert sind - die Regelstrenge ist also der Geworfenheit zugeordnet -, während der Zyklus der beiden C-Stücke "als der freieste [erscheint], da Boulez zur feldmäßigen harmonischen Kontrolle lediglich den genauen Tonort für jede Tonhöhenklasse pro Abschnitt festlegt" (Pascal Decroupet in Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1945-1975, Laaber 2005, S. 145 f.).

Am freiesten macht also der Tod, der Moment, in dem "das Pendel seine Last abwirft". Boulez hat das nicht im B-Zyklus hörbar gemacht, zu dem diese Worte gehören - da er hier, wie gesagt, stattdessen das "Zifferblatt", die im Stechschritt fließende Zeit betonte -, sondern im C-Zyklus und hier in der zweiten Version, die am Ende steht. Dieses letzte Stück ist nämlich zugleich eine Zusammenfassung des ganzen musikalischen Ablaufs, und der größte Teil wird gar nicht mehr zu den Gedichtzeilen gesungen, sondern die Instrumente beherrschen das Feld, werden allenfalls vom Summen der Altstimme begleitet.

Wenn ich versuche, den Ablauf rein "inhaltlich" zusammenzufassen, würde ich sagen: Ein Subjekt läuft vor sich her, unterbrochen von vagen Zukunftsahnungen und dunklen Vergangenheitsgefühlen. In seiner Gegenwart, und es ist nie woanders, tickt, wie gesagt, die Zeit. Musikalisch ist dem eine Figur Flöte plus Schlagzeuger, Trommel beim ersten Erscheinen im zweiten Stück, zugeordnet. Diese Figur ist so verständlich, dass sie, bei aller Serialität, fast etwas von einem Gassenhauer hat. Die Flöte dudelt, als wollte sie sagen: Wie wunderlich alles doch ist. Im neunten Stück kehrt sie wieder mit ihrer konsterniert sinnenden Melodie, um die Komposition zu beschließen, nur dass sie dann von Gong und Tamtam begleitet wird, nicht mehr von der Trommel. Denn der Marsch ist zuende.

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Pli selon pli, Portrait de Mallarmé für Sopran und Orchester aus den Jahren 1957/89, kann vielleicht als Boulez' Hauptwerk bezeichnet werden. Die 70minütige Komposition basiert auf Sonetten von Mallarmé, die schwer verständlich sind, zumal es keine vernünftige deutsche Übersetzung zu geben scheint. Die im Programmheft abgedruckte ist eine allzu freie Nachdichtung. Doch so viel erkennt man, dass Boulez wiederum eine Art Lebensablauf zusammengestellt hat, oder besser gesagt geht es hier nur um den Anfang und das Ende eines Lebens, nein eigentlich von zwei Leben, wie man noch sehen wird, Geburt im ersten Stück, Todeskampf schon im zweiten, Untergang im vierten, "Grab" ist das letzte überschrieben. Das mittlere dritte spricht von einer "ewigen Leere", absence éternelle, hier wenigstens ist die Übersetzung nicht zu weit hergeholt, obwohl man sagen muss, dass Abwesenheit noch nicht Leere ist. Es ist vom Bett die Rede, in dem die Geburt geschehen sein müsste, wovon sich aber keine Spur findet.

Die 70minütige Komposition ist deshalb schwer aufführbar, weil sie vom Nihilismus handelt und weil dergleichen in der Musikgeschichte vorbildlos sein dürfte. Bei Brahms gibt es Ansätze, ich habe in einem früheren Eintrag darauf hingewiesen, doch er versucht nicht, das Nihil zu beschreiben, sondern bringt es mehr intellektuell auf den Punkt und hält Reaktionen fest. Bei Boulez geht es um das Atmosphärische. Dieses aber 70 Minuten lang durchzuhalten, kann keinem Dirigenten gelingen, der gar nicht weiß, was da gespielt wird. Die Musik ist über weite Strecken träge wie ein Stausee und deshalb auch wahnsinnig gespannt: Wenn das nicht begriffen und hörbar wird, wird es schlicht langweilig. Der Dirigent am Sonntag Abend, Jonathan Nott mit den Bamberger Symphonikern und der Bayerischen Staatsphilharmonie, hat es meines Erachtens nicht begriffen. Wäre ich der Einzige geblieben, der schon im ersten Stück müde wurde und dann zunehmend Kopfschmerzen bekam, würde ich das nicht zu sagen wagen. Ich habe aber von anderen Ähnliches gehört, und es hat zehn bis zwanzig Personen gegeben, die während der Aufführung den Saal verließen. Ich kenne die Komposition ganz gut, jedenfalls in ihrer ersten Fassung. Boulez selbst hat sie eingespielt, und das ist überhaupt nicht langweilig.

Das Erste, was passiert, bringt schon die Entscheidung. Ein Explosionsschlag eröffnet das erste Stück, danach wird die hier einzige Zeile gesungen: Je t'apporte l'enfant d'une nuit d'Idumée, mit diesmal korrekter Übersetzung: "Ich bringe dir das Kind aus Edoms Nacht geboren!" Das will sagen, es ist ein Kind der Hölle. Diese Geburt ist eine schreckliche und unbegreifliche Überraschung. Deshalb der Explosionsschlag. Aber so muss er dann auch gespielt werden: ein Akkord aus vielen Tönen, die sich schneiden und die man alle hören können muss, obwohl er sehr kurz ist und sehr laut. Man muss von den Sitzen auffahren! Danach geht es nüchtern beklommen in normaler Lautstärke weiter. Von ferne ist dieser Anfang mit dem der dritten Symphonie Prokofjevs vergleichen, über die ich früher geschrieben habe. In der Aufnahme mit Boulez ist das alles zu hören. Nicht so bei Nott. Er hat nur ein Geräusch produziert, es war nicht einmal besonders laut. Man muss freilich einräumen, dass es schwer ist, gleich den ersten Ton zum Ereignis werden zu lassen. Ich war oft dabei, wenn ein Orchester fünf bis zehn Minuten brauchte, um so richtig in Fahrt zu kommen. Selbst bei tausendmal gespielten klassischen Werken und auch wenn es die Berliner Philharmoniker waren. Aber wer kennt die Schwierigkeit besser als ein Dirigent? Er müsste dann eben, will er Pli selon pli aufführen, auf das erste Ereignis besonders viel Übungsmühe konzentrieren.

Ich will den weiteren Verlauf nur noch "inhaltlich" beschreiben, so, wie ich ihn zwar nicht bei Nott, aber bei Boulez höre. Das erste Stück handelt von der Wahrnehmung der neuartigen Nacht. Eine ungeheure Spannung ist da, weil man immer darauf wartet, dass das Neue sich entbirgt, dass es zeigt, was es ist. Vor dunklem Hintergrund tauchen immer wieder Ereignisse auf, auf die man daher gespannteste Aufmerksamkeit wendet, erwartend, sie könnten Licht in die Sache bringen. Sie tun es nicht. Im zweiten Stück reflektiert das beobachtende Subjekt, wie sich ihm die Welt verfinstert, wie sie plötzlich eine andere geworden ist. Das zugrunde liegende Gedicht ist ziemlich bekannt, es ist das vom Schwan, der im Eis festgefroren ist und nicht mehr auffliegen kann. Die Stelle zwischen den beiden Hälften des Sonetts ist musikalisch die schwärzeste der ganzen Komposition. Sie folgt den Worten Quand du stérile hiver a resplendi l'ennui, was übersetzt wird mit "Als unfruchtbarer Glanz des Winters auf ihm lag". Im dritten Stück geht es, wie gesagt, um die Leere. Der Geburtsort ist leer, man weiß nicht, wo das Neue herkommt. Musikalisch sind es Ereignisse, von denen man zwar weiß, dass sie das Neue bedeuten, aber sie verstehen zu wollen, hat man aufgeben müssen. Im vierten Stück der Untergang im Neuen, mit erlebter Schrecklichkeit. Im fünften wird wieder nur ein Vers gesungen: "Un peu profund ruisseau calomnié la mort." Unsere Übersetzung sagt "Ein seichtes Wässerlein - verleumdet oft - den Tod", das Programmheft weist auf die Doppeldeutigkeit des Satzes hin, der bei Mallarmé wörtlich "Ein wenig tiefer Bach - verleumdet - der (oder: den) Tod" bedeute. Die Musik ist feierlich verhangen.

Le Marteu sans maitre und Pli selon pli sind annähernd gleichzeitig konzipiert worden. Das Verhältnis der beiden Kompositionen scheint so zu sein, dass die erste aus der Perspektive des existierenden, existenziellen Subjekts überhaupt spricht, die zweite aber aus der Perspektive des Künstlers. Das existierende Subjekt erleidet den Nihilismus nur, der Künstler begreift ihn zwar auch nicht, weiß aber und sagt, dass es Nihilismus ist. Und lässt sich, was soll er auch Anderes machen, auf ihn ein. Dass es das nun gerade ist, worin sich sein Künstlertum bewähren wird, hat er sich nicht träumen lassen - wollte er doch träumen, ist deshalb Künstler geworden -, aber es ist nun einmal so.

Ich schließe damit meinen Bericht über das musikfest berlin 2010. Es war eine große Bereicherung. Vielen, vielen Dank!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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