Halb lustig, halb stolz

Musikfest 2016 Antonin Dvoraks vierte Symphonie wird wenig beachtet, kann aber geradezu rauschhafte Gefühle wecken

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Antonín Dvořák
Antonín Dvořák

Bild: Hulton Archive/Getty Images

Dvoraks vierte Symphonie ist in Deutschland praktisch unbekannt, wie auch seine anderen frühen Symphonien. Und wie ich im Programmheft lese, hat er dem selbst Vorschub geleistet, denn erst angefangen mit der Fünften hat er seine Symphonien zu publizieren begonnen. Die Vierte, komponiert 1874, revidiert 1887/88, wurde von seinem Berliner Verleger Fritz Simrock erst 1912 veröffentlicht, acht Jahre nach seinem Tod. Für mich aber ist dieses Werk ein Ohrwurm, seit ich, wie lang ist‘s her? zehn Jahre, fünfzehn Jahre? eine Box mit allen Dvorak-Symphonien erstanden habe. Man spielt ja hierzulande fast nur seine Neunte Aus der neuen Welt, die aber hatte ich schon als Schüler so oft auf den Plattenteller gelegt, dass ich sie am Ende nicht mehr hören konnte. Sicher überragt die Neunte auch wirklich ihre Vorgänger, und sicher ist die Vierte „nichts Besonderes“, auch wenn das Programmheft nicht zu rühmen versäumt, dass sie „schon etliche Schaffenszüge [enthüllt], die im Spätwerk und in den Opern neue Relevanz gewannen“ (Habakuk Traber). Und doch...

Der objektive Fortschritt, den die Vierte im Vergleich mit der Ersten bis Dritten bietet, ist für meine Faszination bestimmt nicht (allein) verantwortlich, sei aber mit Otakar Sourek hervorgehoben: „War die Dritte Symphonie in Es-Dur [...] ein Beweis für Dvoraks gewaltige Fortentwicklung in der Satztechnik und in der formalen Bewältigung des musikalischen Baumaterials, bringt die vierte Symphonie [in d-moll] einen weiteren Fortschritt namentlich insofern, als sehr wohl zu ersehen ist, wie sehr der Komponist sich in dem neuen Werk von den früheren auffallenden Beeinflussungen durch die Musik der deutschen Neuromantiker freimacht.
Wohl ist auch dieses Werk in der Erfindung nicht frei von Anklängen an Wagner; es sind dies aber doch nur Anklänge von geringerer Bedeutung, deren Tragweite durchaus zurücktritt gegenüber dem, was Dvorak hier in Gestalt von Eingebungen und deren Verarbeitung an Eigenem bietet und worin sich auch in Melodik und Rhythmus seine zum Teil durch das Beispiel von Smetanas Schaffen freigewordene national-persönliche Eigenart kundgibt. Gewiss steht damit in wechselseitigem Zusammenhang, dass das Gedankenmaterial dieser Symphonie [...] wesentlich knapper und symmetrischer ist als in den vorhergegangenen Symphonien, und dass auch der Satzbau und mit ihm die thematische Arbeit hier einen weiteren Fortschritt in Dingen der Übersichtlichkeit, des Ebenmaßes und der plastischen Gestaltung hervortreten lassen.“ (Antonin Dvorak. Werkanalysen I: Orchesterwerke, ohne Ort und Jahr [Prag 1955], S. 68).

In der Tat treten die Wagner-Anklänge zurück. Im vierten Satz sind einige zu hören und im zweiten fühlt man sich, wie auch Traber schreibt, an die Tannhäuser-Ouvertüre erinnert. Es ist wirklich nur ein sehr entfernter Anklang. Der aber interessant genug ist für die Frage, was sich in welche Richtung verschoben hat: Jene Ouvertüre ist ein Choral, der sich in so viel leidenschaftliche Inbrunst hineinsteigert, dass mit Recht erhebliche Zweifel an seinem christlichen Charakter aufkommen. Es soll ja der Chor der Rompilger sein, die vom Papst Sündenvergebung erlangen, in Wahrheit spricht die Musik aber doch wohl von Heinrichs, des Tannhäusers, unerfüllter Sehnsucht, so sein zu können wie die anderen Pilger; ihn weist der Papst zurück, ausgerechnet weil er geliebt hat. Dieser christlich-heidnische Zwitter, der eine Verschmelzung von Gottes- und Menschenliebe, agapé und eros, zum Gegenstand hat, die es so nicht geben kann, gehört zu den süchtig machenden Wagner-Kompositionen, von denen wohl jede(r) zum Geisel genommen wird, dem oder der sie zu Ohren kommt.

Dvorak indessen hat eine ganz andere Sehnsucht, und keine vergebliche mehr, in den Choral gepflanzt: die nationale. Obwohl er es nicht mehr erlebt, werden die Tschechen wirklich aufhören, Teil des Habsburgerreichs zu sein. Und so sinkt denn sein Choral zwar herab wie der Wagnersche, entbehrt aber gänzlich jener ergreifenden Haltlosigkeit, mit der uns die Tannhäuser-Musik erschreckt. Sie sinkt auch typischerweise nicht nur in gemessenen Schritten - b a as in der Anfangsfigur -, sondern diese wird später zum Auftakt einer erregten Aufwärtsbewegung: Ihre „Verkleinerung wandert“ dabei „von Instrument zu Instrument und trägt eine große Unruhe in den getragenen Gesang der übrigen Stimmen“ (S. 73). Nun, ganz unähnlich der Wagner-Ouvertüre ist auch das nicht. Doch die Stimmung ist völlig gewandelt, man hört jetzt der Selbstbestärkung von Kämpfern zu, die siegen werden. Dvoraks Choral unterstreicht jedenfalls die bekannte Tatsache, dass der Nationalismus des 19. Jahrhunderts, schlimm genug, aber wahr, eine Spielart des Heiligen gewesen ist. Mit der Französischen Revolution, die über einen „Altar des Vaterlands“ verfügte, der den Menschenopfern des Krieges galt, hatte das begonnen.

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Dass ich persönlich von dieser Symphonie so fasziniert bin, hängt mit ihrer von Sourek hervorgehobenen „plastischen Gestaltung“ zusammen. Besonders der dritte Satz, von der Form her ein fast schulmäßiges Scherzo mit obligatem „Trio“ in der Mitte, hat es mir angetan. Besonders das Trio. Der Satz beginnt gleich mit heftigster Leidenschaft, auch Entschlossenheit, Sourek spricht von „einer geradezu diabolisch tollenden Fröhlichkeit“. „Dieser Eindruck wird gleich von dem harten, abgehackten kleinen Motiv hervorgerufen, das, von drei wuchtigen Akkorden der Bläser abgelöst, den Satz im Unisono der Streicher eröffnet“. Es folgt dann „das sehr weitgesponnene Hauptthema“, [...] das anmutet, als endete es nur ungern“. (S. 74) Dieses Thema ist sehnsüchtig und zugleich balladenhaft; Dvorak denkt hier schon an den unterstellten nationalen Ursprung zurück – soweit ich weiß, hat er ihn niemals wie Smetana als Nachklang der Hussitenkriege gestaltet, sondern immer durch volksliedartige Weisen veranschaulicht -, der endlich einmal zum Inhalt eines faktischen Ursprungs, der Staatsgründung werden soll. Es wird später auch im Zyklus Aus dem Böhmerwald für Klavier zu vier Händen Verwendung finden, steht dort für das Bild „Aus stürmischen Zeiten“. Nachdem es sich eher leise vorgestellt hat wie eine traurige Erinnerung, steigert es sich in der rauschhaften Wiederholung zur vollen Lautstärke, so dass man den Eindruck hat, der Komponist beginne zu phantasieren.

Ich glaube auch wirklich, dass er dies Erlebnis des Phantasierens bei den Hörern hervorrufen wollte; Religion, nationale in diesem Fall, wird mit Marx zu sprechen als „Opium des Volkes“ eingesetzt, damit das Volk sich auf Taten vorbereitet und den Glauben nicht verliert. Mag es negativ klingen, wenn ich das so sage! Doch der tschechische Nationalismus war unschuldig, hat sich später in der nationalen Selbstbestimmung erschöpft. Man kann ihn bis dahin der italienischen und deutschen Staatswerdung zur Seite stellen. Auffällig bleibt dennoch, dass Deutschlands große Musik es kaum als ihr Aufgabe ansah, die nationale Vereinigung mit vorzubereiten. (Wagners Meistersinger könnte man nennen, doch spielt auch dieses Musikdrama weniger auf die Nation als darauf an, wie sich Bismarck über 1848 erhob.) In Italien tat sie es, Verdi ist anders nicht zu denken.

Im Trio geschieht noch einmal dasselbe: verhaltener Beginn, laute rauschhafte Wiederholung und hier nun eine „plastische Gestaltung“, die mich in mancher schwachen Stunde die Wände hat hochgehen lassen. Das Thema „ist halb eine lustige Grimasse, halb ein stolzes Dahinschreiten“ und Sourek meint, es melde sich darin „eine[.] leichte[.] Erinnerung an das Schneidermotiv aus dem letzten Bild der Meistersinger“ (S. 75): Zwei langgezogene Triller zunächst, beim zweiten Mal mit Anlauf, dann ruhiges Schreiten e g f e d. Warum elektrisiert mich das so? Man könnte ja sagen, es ist ganz banal. Aber es ist eben der Rausch - Ekstase, die Dvorak in so vielen Werken immer wieder gelingt, dadurch wohl vor allem, dass eine schlichte, dabei „plastische“ und originelle Gestalt in nachgerade einschläfernder Manier immerzu wiederholt wird. Zur Abweichung vom Schulmäßigen kommt es dann noch in der Wiederkehr des Scherzo-Anfangsteils, denn so rauschhaft er schon selber ist, wird hier auch noch ein weiteres Mal der Trio-Rausch eingebaut. Die Tagtraumphantasie vom Ziel, als wäre es schon erreicht, ist vollkommen.

Soureks Eindruck, das Trio sei „ein rhythmisch kerniger, behäbig schwerfälliger Marsch schlichter, bieder-vergnügter Leute“ (ebd), kann ich überhaupt nicht teilen. Schlicht ja, doch höre ich eher die Schlichtheit einer Transzendenz. (Es gibt ein zweites Scherzo, das ich mit vergleichbaren Gefühlen höre – nicht rauschhaften aber auch irgendwie außerirdischen -, den dritten Satz von Mozarts achter Symphonie aus dem Jahr 1768, möglichst in der alten Aufnahme mit Karl Böhm.) Doch war es interessant zu sehen, dass der Dirigent der Aufführung am Sonntag ebenfalls Tscheche war: Jakub Hrusa, seit dieser Saison Chef der Bamberger Symphoniker, leitete das Deutsche Symphonie Orchester Berlin. Vielleicht gibt es da eine tschechische Aufführungstradition? Hrusa nämlich gab das Trio in der Tat behäbig und schwerfällig – er setzte es durch Langsamkeit von der musikalischen Umgebung ab, so dass die phantastische Steigerung, von der ich sprach, nicht zustande kam. Ich selbst kenne CD-Aufnahmen eines Ungarn und eines Deutschen, István Kertész und Otmar Suitner, die beide das Trio im selben Tempo wie die Eckteile geben, wobei besonders Suitner die Verzögung und das Nebelhafte, die andeuten, dass es von Vergangenem handelt und dergestalt sozusagen eine Insel bildet, in den Übergängen von den Eckteilen zu ihm hervorhebt.

Ich habe die Partitur nicht zur Hand und kann also nicht entscheiden, welche Geschwindigkeiten sie verlangt. Mir scheint trotzdem, dass Kertész und Suitner „recht haben“, schon weil das Trio, wenn es wirklich langsamer gespielt würde, dies auch bei seiner Implantation in den wiederholten Ecksatz geschehen müsste. Bei Hrusa ist es tatsächlich so und der Satz verliert auch da noch seinen Reiz. Aber wie auch immer, hier sind wir an dem Punkt, wo die Frage philosophisch interessant wird. Denn was bedeutet es, wenn Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit im selben Tempo gespielt werden – einmal angenommen, Kertész und Suitner liegen richtig? Es bedeutet, dass alle Zeiten nur gegenwärtig sind und dass die Musik es nicht verhehlt. Es bedeutet, dass Musiker über Mittel verfügen, so etwas wie eine Polyphonie der Zeiten zu komponieren. Diese Polyphonie gestaltet eine Gleichzeitigkeit im Nacheinander. Dabei hängt alles von dem Paradox ab, das in dieser Formulierung liegt und das entmächtigt ist, wenn die Takte langsamer gegeben werden, die der Vergangenheit gelten.

Es wäre noch Vieles zu sagen, doch muss ich hier abbrechen, weil das Konzert heute Abend – das gesamte Klavierwerk von Pierre Boulez – schon um 19 Uhr beginnt. Nur eine Assoziation, die sich anschließt, will ich noch mitteilen: Von der Frage, ob gewisse aufeinanderfolgende Takte oder ganze Teilstücke im gleichen oder wechselnden Tempo gespielt werden, hängt auch in anderen Werken viel ab und da ist gerade Boulez ein Beispiel, wenn er die Sechste von Gustav Mahler interpretiert. Deren beide Themen im Kopfsatz und auch die Choraltakte dazwischen pflegen in drei Tempi vorgetragen zu werden, Boulez überzeugt aber damit, dass er alles in einem Zug spielt. Eine berühmte Streitfrage ist auch, ob in Beethovens Neunter nach „Und der Cherub steht vor Gott“ gleich schnell oder sehr viel langsamer weitergespielt werden soll, und auch da finde ich den Tempowechsel nicht so überzeugend. Doch genug jetzt...

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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