Die Schlafwandler - das Buch des australischen Historikers Christopher Clark, der in Cambridge lehrt, hat die Debatte um Deutschlands Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs neu eröffnet. Schlafwandlerisch, will er sagen, also ohne zu wissen, was sie tun, seien die europäischen Mächte in den großen Krieg geraten. Niemand wollte ihn, Kaiser Wilhelm II. zum Beispiel war eher ein Friedensfreund. Deutsche Militärs trugen sich zwar mit Eroberungsplänen, hatten aber keine Macht über die Politik. Andererseits gingen Missgriffe und Provokationen nicht nur von Deutschland aus. Deutschland war am Weltkrieg schuld, aber die anderen waren es auch. Und er trat nicht zwangsläufig ein. Nach dem Attentat in Sarajevo, dem der österreichische Kronprinz zum Opfer fiel, wäre immer noch eine Verständigung möglich gewesen.
Diese Sicht der Dinge stützt sich auf ein immenses Quellenstudium in fünf Sprachen und muss sehr ernst genommen werden, nicht zuletzt wegen der Moral, die sie für die jetzige Weltlage bereitzuhalten scheint. In diese Richtung geht die Diskussion über das Buch. Damals führte "Sarajevo" zur großen Katastrophe, ist es heute Syrien? Man könnte auch erwarten, daß ein neuer "Historikerstreit" beginnt, wie es einen gab, als Fritz Fischer 1961 sein Buch Griff nach der Weltmacht vorlegte, in dem die deutsche Alleinschuld am Kriegsausbruch behauptet wird. Ja, es sieht auf den ersten Blick so aus, als schlage hier nur ein Pendel zurück: Wie Fischer einst einer Historikerzunft widersprach, die Deutschland von aller Schuld freisprechen wollte, musste jetzt einer kommen, der die Debatte von Fischers eigener Einseitigkeit befreit.
Man kann aber auch zu dem Schluss kommen, dass sich in Clarks Version eine Verschiebung des Diskurses offenbart, die im Verlauf eines halben Jahrhunderts eingetreten ist. Denn was vor allem ins Auge springt, ist seine Erklärung des Krieges von "Sarajevo" her. Hinter der Ermordung des österreichischen Kronprinzen steht nicht bloß ein einzelner Serbe, sondern die gesamte nationalistische Politik der Serben zu dieser Zeit, so dass erst einmal diese analysiert wird. Und dann weitet Clark die Kontexte nach allen Seiten aus: zur österreichischen und russischen Reaktion, zur deutschen Reaktion auf die österreichische und so weiter. Dies Verfahren läuft letztlich darauf hinaus, dass er den Grundsatz zurücknimmt, mit dem einmal alle Historiografie begonnen hatte. Seit Thukydides unterschied man Anlass und Ursache eines Geschehens. Bei Clark fällt die Tiefe unter der Oberfläche weg. Alles ist Oberfläche. Alle Faktoren und Ereignisse haben in einer einzigen Vernetzung ihren Ort, wo dann "Sarajevo" nicht weniger zählt als irgendein anderer Faktor.
Er erkläre die Dinge "weniger deterministisch", sagt Clark. Was er aber einräumen muss: Sie waren ungemein komplex geworden. In der Logik der Bündnissysteme fand sich niemand mehr zurecht. Die Komplexität habe die eigentlich immer noch mögliche Aufrechterhaltung des Friedens erschwert. Aber das bedeutet dann eben doch, dass es etwas wie eine Ursache gegeben haben muss, die mit "Sarajevo" gar nichts zu tun hat. Denn überbordende Komplexität hat immer einen besonderen Grund. Bei Marx zum Beispiel führt der "tendenzielle Fall der Profitrate" eine Komplexität herbei, die nicht mehr beherrscht werden kann. Ist es Zufall, dass Clarks Buch gerade jetzt auftaucht - in einer unübersichtlichen Weltfinanzkrise?
Erschienen irgendwann vor ein paar Wochen im "Freitag" (Kulturkommentar, keine Buchbesprechung)
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