Lenin und die Kunst

Musikfest 2018 Der Stummfilmregisseur Abel Gance war „konfus, aber ausdrucksstark“

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Auf die Vorführung des Stummfilms J’accuse (1919) am vorigen Freitag hatte man sich besonders freuen können, war doch das Konzept Filmvorführung plus Live-Orchesterbegleitung schon vor zwei Jahren bei Eisensteins Iwan Grosnij mit der Musik von Prokofjew glänzend aufgegangen. Es war zugleich ein neuer Schritt, auch wenn sich wieder das Rundfunk-Sinfonieorchester unter Frank Strobel der Aufgabe annahm, und wieder im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Diesmal war ja neue Musik hinzukomponiert worden, 2014 von Philippe Schoeller, der bei Pierre Boulez am Collège de France Komposition studiert hat. Iwan Grosnij war auch kein Stummfilm gewesen. Prokofjew hat dort Wortwechsel begleitet, es gibt Lieder und Chöre, so dass wir im Grunde eine Oper sehen und hören. Aber wie vertont man einen Stummfilm?

Zumal einen, der fast drei Stunden dauert. Es ist immer schwierig, eine Musik zu charakterisieren, die man nur einmal gehört hat, und ich hatte noch überhaupt keine Musik von Schoeller gehört, aber so viel kann ich gleich sagen, sie hielt einen die ganze lange Zeit hindurch im Atem. Das ist also erst einmal überhaupt ein Mittel, die Aufmerksamkeit trotz der archaischen Technik und auch Spielweise eines Stummfilms wachzuhalten, ja wiederzuerwecken, denn das lohnt sich, er ist ja nicht weniger künstlerisch als heutige Filme, mehr vielleicht sogar eher, nur ganz anders. Schoellers Musik stellt sich die Aufgabe, vor allem die durchgängige Grundstimmung von J’accuse mitzuteilen. Was da angeklagt wird, ist der Krieg, konkret der gerade erst beendete Erste Weltkrieg. Die Komposition bewegt sich meistens sehr gleichmäßig düster voran, in dicht gewebten Klangteppichen, nur gelegentlich einmal, wenn die Handlung es nahelegt, bricht etwas wie ein Schrei oder sonst eine Gestalt heraus. Man könnte ihren Gestus vielleicht entfernt mit der Einleitung von Bernd Alois Zimmermanns Soldaten vergleichen, nur dass sie bei aller schonungslosen Düsternis noch zurückhaltender ist. Das ist ein guter Gestus, denn er sagt aus, erstens dass es nicht darum geht, die Handlung zu kommentieren, die auch anders sein könnte, da sie ihrerseits „nur“ den Krieg veranschaulicht – wir werden aber noch sehen, es ist eine besonders tiefsinnige Veranschaulichung -, und zweitens, dass auch keine „Interpretation“ des Krieges versucht wird.

Gerade bei J’accuse wäre ein solcher Versuch unangemessen, denn man weiß im Grunde nicht, was Abel Gance, der ihn gedreht hat, genau anklagt. Dass überhaupt Krieg geführt wird? Oder dieser bestimmte? Oder die Deutschen als Feinde? Oder die Geschäftemacher in der Heimat? Oder die Frauen und Alten, die sich anständig betragen müssten, wenn sie schon nicht mitkämpfen? Es ist von Allem etwas, und man muss in diesem Zusammenhang erwähnen, dass Gance zeitweise in der Filmabteilung der französischen Armee gearbeitet hat, wie auch dass der Film zum Teil vom Service Cinématographique de l’Armée finanziert wurde. Gance‘ Kameramann Léonce-Herny Burel hat behauptet, J’accuse sei ursprünglich ein Rekrutierungsfilm und bei Kriegsende fast fertig gewesen, dann aber von Gance umgeschnitten worden. Der hat heftig widersprochen: Die Grundidee sei immer gewesen, die Sinnlosigkeit des Krieges bloßzustellen. Am Ende des Krieges jedenfalls hat er wirklich geschrieben, er würde gern „beide Seiten davon abbringen, sich gegenseitig zu töten“. Auch hier noch würde ich kommentieren, dass vielleicht sowohl Burel als auch Gance die Wahrheit gesagt haben.

Denn es ist einerseits eine Tatsache, dass dem Film, der in vier Jahren dreieinhalb Millionen Francs einspielte - sechs Mal mehr als er gekostet hat -, von nationalistischer Seite Antimilitarismus vorgeworfen wurde. Gance hat ihn deshalb sogar nachträglich etwas abgeschwächt. Man könnte sich vorstellen, dass er wirklich von vornherein pazifistisch an die Arbeit heranging, sein Pazifismus aber anfangs von anderen Motiven, die sich dann auch mit der Finanzierung durch die Armee vertrugen, stärker überlagert war als später. Das wäre ja nicht im Mindesten verwunderlich, wenn man nur bedenkt, dass zum Beispiel auch die SPD, als sie die Kriegskredite bewilligte, deshalb nicht etwa aufhörte, sich für eine pazifistische Partei zu halten. Andererseits springen schon auch die nichtpazifistischen Konnotationen der Gance’schen „Anklage“ ins Auge. So ist es ein oder vielleicht der Scheitelpunkt der Handlung, dass eine Frau von Deutschen, die man als Schatten mit Pickelhauben sieht, verschleppt und mehrfach vergewaltigt wird, und gerade hier wird eindrucksvoller als an anderen Stellen das „J’accuse“ eingeblendet. Gance hat sogar eine Szene gedreht, in der „zwei belgische Kinder [...] – mit abgeschnittenen Händen – vor dem Tribunal der Geschichte Anklage gegen die Barbarei der ‚boches‘ [erheben]“ (Ulrich Gregor / Enno Patalis, Geschichte des Films 1, Reinbek 1976, S. 65). Wenn ich nicht irre, war sie in die uns vorgeführte Rekonstruktion des Films nicht aufgenommen worden.

Und es ist zwar wahr, dass der Höhepunkt im dritten Teil in der Auferstehung der Gefallenen besteht, die sich in langer Kolonne in die Städte und Dörfer hinter der Front begeben, um die Zurückgebliebenen zu fragen, ob sich ihr Opfer denn gelohnt habe. Aber will die Frage sagen, im Krieg zu sterben lohne nicht? Man hört die Toten eher prüfen, ob die Frauen und Alten sich ihres Opfers würdig erweisen. Auch die Geschäftemacher werden gefragt, aber nicht in dem Sinn, dass die Idee aufkommen könnte, der Krieg sei überhaupt ein Werk von Geschäftemachern, sondern nur dass manche in seinem Windschatten tätig wurden. Ich kann auch nicht erkennen, dass die Handlung deutlich gegen Kriegs„opfer“ spräche. In jene Frau, die von deutschen Soldaten oder Offizieren vergewaltigt wird, sind ihr Gatte und ein anderer, ein Dichter, verliebt; als sie von der Untat hören, kehren sie gemeinsam an die Front zurück, um sie zu rächen. Wer denkt da nicht an das Prüfungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer, wo genau das immer gefragt wurde: Was würden Sie tun, wenn Ihre Frau vergewaltigt werden könnte. Ich will aber mit meinen Hinweisen durchaus nicht sagen, J’accuse sei eigentlich kein Antikriegsfilm und Schoeller hätte besser getan, seine Kraft einem anderen Projekt zu leihen. Ganz im Gegenteil. Dass es immer Kriege gegeben hat und noch weiter gibt, ist nichts anderes als das Haupt- und Kernproblem „des Menschen“ und seiner Geschichte: Wer will da erwarten, dass es „korrekt abgebildet“ wird. Man muss die korrekte Abbildung versuchen und ist nach meiner Auffassung recht gut beraten, wenn man liest, was Lenin dazu geschrieben hat, das heißt aber nicht, dass nicht auch der komplexe Zugang der Kunst von Nutzen sein könnte.

In besagtem Filmbuch wird Gance‘ Haltung auch bei seinen anderen Filmen „verschwommen“ genannt; das ist nun einmal so. Er gehörte dennoch zu denen, die „dem Kommerzialismus und der Routine, die bislang das französische Filmschaffen beherrschten, den Kampf angesagt“ hatten. Der „konfuse, aber ausdrucksstarke“ Gance war sogar ihr „Wortführer“. „Gance befreite zum erstenmal die Kamera von ihrer Starrheit“, „experimentierte mit dem Ausdrucksmittel der raschen Montage und strebte in seinen Filmen nach einem ‚visuellen Kontrapunkt‘“. Er scheint nicht zufällig das musikalische Wort gewählt zu haben, da er auch sagte, ein „großer Film“ müsse „wie eine Symphonie konzipiert werden, wie eine Symphonie in Zeit und Raum“. (Alle Zitate ebd.) Man sieht doch, er ist von der Eigentümlichkeit seines Mediums ausgegangen. Was er dann ertastete, muss unser Interesse wecken. Schon manche isolierte Einzelheit ist bemerkenswert und auf keinen einfachen Nenner zu bringen, zum Beispiel dass er, in einem Film, der überwiegend die Hölle der Schützengräben von Verdun zeigt, zwei oder dreimal die Primavera („Der Frühling“) von Botticelli einblendet. Einmal geschieht das in Form eines Triptychons aus gotischen Kirchenfenstern, wofür sich das Gemälde mit Venus und Amor in der Mitte, der Flora, einer jungen Frau und dem Windgott Zephyr rechts und den drei Grazien links ja auch anbietet.

Wichtiger sind aber zwei Grundsachverhalte, die den Film im Ganzen charakterisieren und wo man kaum annehmen wird, dass sie Gance, dem Künstler, bei seinem Schaffen durchs Bewusstsein gegangen sein können. Das ist vor allem die oben schon angedeutete Rolle des Geschlechterverhältnisses. Im Frieden sind die beiden Männer, weil sie dieselbe Frau lieben, erbitterte Konkurrenten und Feinde. Der Krieg hingegen schweißt sie zusammen. Im Schützengraben können sie sich sogar freundschaftlich über ihre Liebe austauschen. Da ist die Frau ja nicht anwesend! Vermittelt und verhütet sie etwa eine Männerliebe? Es ist durchaus möglich, von hier aus über den Krieg an und für sich nachzudenken. Luce Irigaray, die feministische Philosophin, hat es getan: Ihr zufolge ist der Krieg die männliche Flucht in einen anderen Tod als den, der den Frauen von der Männerphantasie zugeschrieben wird. Der Krieg führt den „guten“ Tod herbei, während die Frau den „bösen“ verkörpert. Auf solche Gedanken kommt Lenin natürlich nicht. Der sagte einmal, wenn er einen Pianisten spielen höre, würde er ihm am liebsten übers Haar streicheln – will sagen, Kunst sei gut und schön, er aber habe es mit der ernsten Wirklichkeit zu tun -, aber das spricht weder gegen ihn noch gegen die Kunst.

Der andere Grundsachverhalt war die Rolle der Sonne. Ich sagte schon, dass der Film alles Mögliche anklagt, in der Schlussszene klagt er aber die Sonne an, und das ist nun schon ein hervorgehobener Ort. Sie wird verdammt, weil sie dem Geschehen gleichgültig zusieht, statt einzugreifen. Man wird annehmen, dass sie eine Metapher für Gott ist. „Gott ist tot“ ist der „Sinn“ des Krieges. Gance lässt sie ja schräg durchs Fenster scheinen wie ehemals auf dem Bild von Carpaccio, als sie einem Heiligen im Kloster das Schreibpapier erleuchtete. Die Metapher kann aber auch anders gelesen werden. Die Sonne könnte nicht gleichgültig zusehen, wenn es sie gar nicht gäbe; was da metaphorisiert wird, ist - ob es nun „einen Gott gibt“ oder nicht - ein bestimmter Blick, ein menschlicher und vielleicht besonders ein Männerblick, der auch anders sein könnte und es teilweise auch ist. Leider nur teilweise. Manche, die so blicken, halten sich nicht für gleichgültig, sondern für „objektiv“.

Für die nächsten drei Tage werde ich meine Berichterstattung wegen anderer Tätigkeiten unterbrechen müssen, will aber, dann eben ab Freitag wieder, auch über die letzten Konzerte noch schreiben: das gestrige mit Debussys Martyre de Saint Sébastien und die von heute und morgen, wo zweimal Stockhausen auf dem Programm steht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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