Masken kommender Dissonanzen

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Es ist immer etwas Besonderes, wenn Gustav Mahler aufgeführt wird, und dann gar seine Achte, die "Symphonie der Tausend" mit großem Orchester, großem Chor und Knabenchor. Am letzten Wochenende wurde sie gegeben und am Wochenende davor war die Fünfte zu hören. Über den Menschen Mahler möchte ich gar nichts sagen, so wenig ich Brahms oder Beethoven vorstellen würde. Wer sich überhaupt für "klassische" Musik interessiert, oder wie soll man es nennen - "für E-Musik"? es ist bezeichnend, dass die gemeinte Musik, von der jedenfalls klar ist, dass sie nicht bloß der "Unterhaltung" dient, gar keinen rechten Namen hat -, wer sich also dafür interessiert, der kennt diese Komponisten.

Bei Mahler ist das freilich erst seit den 1970er Jahren der Fall, als er, der Jude, den die Nazis nicht tradieren wollten, seine Renaissance hatte und seitdem zu den Gipfeln der Musikgeschichte gezählt wird. Verschiedene Anlässe und Gründe gab es dafür. Ein Anlass war, dass der Film Tod in Venedig, von Visconti nach der Novelle von Thomas Mann, das Adagietto aus der Siebtem bekannt machte. Diesem Stück konnte sich niemand entziehen, der überhaupt romantische Musik liebte. Es war rätselhaft und reizte zur Nachforschung. Dass es an den Klang des Mahler-Lieds "Ich bin der Welt abhanden gekommen" erinnere, wie Adorno heraushört, kommt mir mindestens unterbestimmt vor, aber der Liedtitel trifft etwas.

Gründe gab es mehrere. Einen, vielleicht den wichtigsten habe ich in einem früheren Eintrag schon genannt: Die Musikgeschichte befand sich in den 70er Jahren - vielleicht kann gesagt werden: nach 1968 - an dem Punkt, wo eine neue Komponistengeneration sich vom seriellen Strukturalismus lossagen und wieder "subjektiv" komponieren wollte, ins musikalische Material aktiv intervenierend. "Sie hasst vorauszuwissen, wie Musik weitergeht", schreibt Adorno über die "musikalische Romanform", derer sich Mahler bedient habe (Mahler, in: Die musikalischen Monographien, Frankfurt/M. 1986, S. 149-319, hier S. 210), und hätte über Wolfgang Rihm dasselbe schreiben können, nicht aber über Pierre Boulez. Das Mahler-Buch erschien 1960, als Rihm acht Jahre alt war. In den 70er Jahren trug es Früchte. Ein weiterer Grund ist, dass Mahler als Übergangsfigur zur neuen, "atonalen" Musik erscheint. In Deutschland jedenfalls war er das. Arnold Schönberg und seine Schüler hatten Kontakt mit ihm gehalten, ja ihn gleichsam als Schirmherrn verehrt. Seine Musik ist zwar absolut "tonal", geht aber auf rätselvolle Art, unüberhörbar fürs Konzertpublikum der 70er Jahre, über den sonst gewohnten spätromantischen Klang hinaus.

Dabei kann man nicht einmal sagen, er habe die Dur-Moll-Tonalität "chromatisch" aufgeweicht (in Läufen von Halbtönen), wie das Wagner attestiert wird, der dadurch schon dem "Komponieren mit zwölf Tönen", also der Schönbergschen Zwölfton-Technik angenähert scheint. Im Gegenteil, er zahlt geradezu, laut Adorno, den Preis einer "Regression": Was er "der entwickelten musikalischen Kunstsprache noch einmal abverlangt, ist nichts anderes, als wofür Dur und Moll einst dem Kind standen". "Moll ist das Besondere, Dur das Allgemeine; das Andere, Abweichende", also das Besondere, "wird, mit Wahrheit, dem Leiden gleichgesetzt." Und wofür zahlt Mahler den Preis? Adorno: "Die Ambivalenz des Tongeschlechts kritisiert insofern schon die Tonalität, als sie diese, durch Rückbildung, so presst, bis sie ausdrückt, was sie nicht mehr ausdrücken kann; auch bei Schönberg wurde Tonalität nicht durch ihre Verweichlichung sondern durch konstruktive Anspannung gebrochen. Die Mahlerschen Moll-Akkorde, welche die Dur-Dreiklänge desavouieren, sind Masken kommender Dissonanzen." (a.a.O., S. 174 f.)

Tatsächlich begriff der Hörer der 70er Jahre sofort die Zweideutigkeit dieser Musik, die sich als, wie soll man sagen, trauernde Zitierung von Musik darbot. Tonale Musik zitiert sich selbst, als wäre sie nicht nur der Welt, sondern auch sich abhanden gekommen und wollte doch nicht von sich lassen. In der Fünften gibt es reichlich Beispiele dafür. Im zweiten Satz, der die Form traditioneller erster Symphoniesätze hat oder ihr nahekommt, also ein "Sonatensatz" mit zwei Hauptthemen ist, ist das zweite ein wahres Kitschzitat. "Mahler spürt Sinn im Sinnverlassenen auf", um mit Adorno zu sprechen (S. 181). Ein sentimentaler Leierkasten, das ist hier aus dem "weiblichen Thema" geworden, während das "männliche" zuvor kaum überhaupt noch eine Form hat; an der Stelle, wo sich Beethovensche Musik "nach oben" bewegt, himmelsstürmend, ist jetzt nur noch Katastrophe, man wird verprügelt, Schläge hageln von allem Seiten. Das Pittsburgh Symphony Orchesta war zu Gast und führte die Fünfte unter Manfred Honecks Leitung eindrucksvoll auf. (Ich füge aber hinzu, dass nach meinem Empfinden und dem, was ich kenne, nichts an die Interpretation des Dirigenten Pierre Boulez heranreicht.)

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Mir selbst war um 1980 herum zuerst die Achte begegnet, nachdem das Adagietto mein Interesse geweckt hatte. Diese Symphonie war offenbar erst gemeint, sie zitiert nicht, sie spricht mit Inbrunst. Aber wie klingen da Dur und Moll? Rein und ungebrochen zwar, aber zugleich schräg. Da stößt etwas hart im Raum zusammen, und das Ergebnis ist nicht Schönheit, jedenfalls nicht im ersten der beiden Sätze. Mahler wollte wahr statt schön sein, so viel teilte sich mit. Nun, dieser erste Satz vertont das alte Kirchenlied Veni creator spiritus, "Komm, Schöpfer Geist" von Hrabanus Maurus, und ist passend polyphon gesetzt. Viele Linien überlagern sich, durchaus zur Harmonie, aber zur gespannten. Es ist, als ob jede Linie im Vollbewusstsein ihrer Wahrheit daherkommt, auch von der Wahrheit der andern Linien einen Begriff und daher insgesamt ein gutes Gewissen hat, sich mit völliger Rücksichtslosigkeit zu entfalten. Die Reibungen, die so entstehen, sind von ganz anderer Art als die Dissonanzen der Musik vor Mahler. Keine Knoten mehr, die gleich anschließend aufgebunden werden, oder von denen das zu erwarten steht, und die Erwartung wird getäuscht. Vielmehr etwas wie Kollateralhärten. Wieder mit Adorno kann man sagen, dass bei Mahler überhaupt und hier ganz besonders die "Verdeutlichung der Einzelstimme [...] auf Kosten der Klangtotale [geht]" (S. 201; vgl. S. 262 f.).

Adorno mochte die Achte nicht. Ihm gefiel nicht, dass sie so "hohe" Literatur evozierte. Ein Kirchenlied! "Ihr Allerheiligstes ist leer", verurteilt er solche "ritualen Kunstwerke im Spätkapitalismus" (S. 283). Dem Kirchenlied ließ Mahler auch noch, im zweiten Satz, die Schlussszene aus Goethes Faust II folgen - "Jauchzet auf, ihr reuig Zarten", "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis", "Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan" -, über die Bert Brecht später eine Persiflage schrieb. Erst ein Gebet, dann diese Szene im Himmel, in der Tat, was sollen "Linke" damit anfangen? Ich meine, man kann sich da schon hineinfinden. Im ersten Eintrag zum musikfest 2011 hatte ich gefragt, warum so viele auch neuere Musik sich religiöser Stoffe bedient. Man scheint antworten zu können, dass Religion metaphorische Modelle von Sachverhalten geschaffen hat, die jedermann beschäftigen und die anders nicht leicht zu versprachlichen sind. So dass eigentlich nicht von Metaphern zu sprechen wäre, sondern von Katachresen: Metaphern, zu denen es kein verbum proprium gibt. In solchen Modellen kann sich Musik wie in einem "Glasperlenspiel" bewegen. Wenn man es wie Mahler mit dem Problem des Nihilismus zu tun hat, ja kurz vor dem Ersten Weltkrieg komponiert und ihn kommen sieht, als Jude und Deutsch-Österreicher, dann kann man, wenn man einzugreifen versucht, auf die Sprache solcher Modelle zurückgreifen, weil sie allgemein genug und konkret genug sind.

Schon für Goethe war die Himmelsszene, in deren Zentrum Mariä Himmelfahrt steht, nur ein Modell gewesen. Genauer fliegt sie gerade vorbei, die "Himmelskönigin", wie eine Rakete, deren Lauf man bald aus den Augen verliert: "Dort ziehen Frauen vorbei, / Schwebend nach oben. / Die Herrliche mittenin / Im Sternenkranze". Goethe meinte das nicht christlich. Wie Albrecht Schöne überzeugend gezeigt hat, stellt die Szene dar, dass es Sache des Menschen sei, vor wie nach dem Tod ins Unendliche zu streben. "Faustens Unsterbliches" kommt in einen Himmel, wo man sich wie bei Dante an heiligen Diskussionen ergötzt, die hier aber dazu dienen, das Aufsteigen voneinander zu lernen. Man ist nicht irgendwo angekommen, sondern auf dem richtigen Weg. Der Weg ist das Ziel. Kein anderes Ende kennt der letzte Vers des gewaltigen Dramas, als dass es uns "hinanzieht".

Dieser Glaube ans Unendliche war wirklich ein guter Stoff, oder hätte es sein können, sich an der Nihilismusfrage abzuarbeiten. Denn vom Unendlichen kann man den Begriff haben, dass es das Ziellose sei. Wenn ein Ziel ein Ende ist - das griechische Wort Telos meint beides zugleich, ebenso das deutsche Wort Schluss(folgerung) -, dann ist das Endlose eben das Ziellose. Dieses aber ist das Nihilistische. Goethe hatte zu seiner Zeit noch einen anderen Begriff vom Unendlichen, für Nietzsche aber dann, der in Mahler einen aufmerksamen Leser fand, war Ziellosigkeit das große Thema. Ja, was war die Achte im Ganzen, wenn nicht ein Weckruf aus dem Nihilismus heraus, hin zu neuen Zielen? Accende lumen, "Entzünde deine Leuchte", heißt es auf dem Höhepunkt des ersten Satzes. Worte, die den Durchbruch benennen, um dessentwillen es die Komposition gibt, und die hier freilich nur ein wenn auch "glaubensstarkes" Gebet sind.

Im zweiten Satz wird der Durchbruch Ereignis, man langt im Himmel tatsächlich an und ist dort, wie gesagt, nur weiter unterwegs zu immer höheren Leuchten. Mahler hat das übrigens nicht herausgelesen. Er komponiert überwiegend eine Musik der Erfüllung. Dass sie nur erhofft ist, wird durch kleine traurige Einsprengsel deutlich, nicht aber dass die Voll-Endung ausbleibt. "Auffällig, wie wenig [die Musik] reproduziert, was an an der Dichtung primär der Komposition sich darzubieten scheint, den Aufstieg von den Bergschluchten in den Marianischen Himmel", schreibt Adorno (S. 285). Immerhin hören wir Klänge, die auf Skrjabin vorausdeuten.

Der erste Satz beginnt gleich mit dem Motiv, das die ganze Symphonie beherrscht: einem entschiedenen stufenweisen Aufsteigen, das die Bitte markiert, der Schöpfer Geist möge kommen. Im zweiten Satz wird dasselbe Motiv nur mehr Begleitfigur sein. Hier fasst sich aber noch alle Energie in ihm zusammen. Vorbereitet in der Motivik der Siebten, scheint es auch auf Themen anderer Komponisten anzuspielen: den Beginn der Neunten von Beethoven, der Vierten von Brahms und sogar des Meistersinger-Vorspiels von Wagner. Aus einer so wunderlichen Mischung entspringt der "glaubensstarke" Choral. Die Stärke ist freilich in sich gebrochen; es ist doch nur Beschwörung. Mahlers Musik folgt da dem Text, in dem bald genug die "Gnade" erbeten wird, die einen erst befähigen würde, nach dem Schöpfer Geist überhaupt zu rufen. "Unsere Schwachheit / Stärke durch deine Wunderkraft, / Entzünde deine Leuchte unseren Sinnen / Ströme deine Liebe in unsere Herzen": Das wird fast trauernd gesungen, als glaubte man leider nicht an Wunder. Und doch reicht dann die Wiederholung derselben Worte, den Durchbruch zu intonieren. Es musste schon wirklich ein Wunder geschehen, im Jahr der Uraufführung 1910 oder möglichst bald danach, damit der Erste Weltkrieg nicht ausbreche.

Mahlers Musik ist letztlich hilflos. Bezeichnend, dass er ausgerechnet die wichtigsten Worte des Lieds von Hrabanus Maurus unvertont lässt: sermone ditans guttura, "mit Rede bereichernd die Kehlen". Dem erst schließt sich accende lumen an. Aber zu reden gibt es leider nichts, keine Botschaft zu sprechen.

In der Aufführung am Wochenende war von trauerndem Singen und anderen Feinheiten wenig zu hören. Die Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle droschen den ersten Satz herunter - im ersten Ärger dachte ich: "als wäre es der Radetzkymarsch!", aber ich nehme das zurück -, ohne Punkt und Komma, sehr schnell und sehr laut. Womit ich nichts gegen Rattles Stärken sage. In meiner Sammlung ist eine Einspielung von Porgy and Bess, die er wundervoll dirigiert. Außerdem habe ich wahrscheinlich Unrecht, denn das Publikum schrie hinterher vor Begeisterung. Und das war's vom musikfest berlin 2011. Es waren wieder spannende Tage.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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