Schönberg und Nielsen

Musikfest 2015 Nielsen bejaht „das Leben“ und will eine vitalistische Symphonie schreiben, während Schönberg mit Suizid-Gedanken kämpft

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Nielsen

Der gestrige Abend war einer von denen, die Arnold Schönberg und Carl Nielsen direkt miteinander konfrontierten, wobei wieder Kompositionen zu Gehör kamen, die fast gleichzeitig entstanden waren. Schönbergs Die glückliche Hand, op. 18, war 1913 abgeschlossen, Nielsens Vierte mit dem Titel „Das Unauslöschliche“ wurde 1914 begonnen und 1916 beendet. Ja, das ist aber auch schon das Einzige, was sie annähernd gemeinsam haben. Übrigens kannten sich die beiden sogar persönlich; im Konzertheft wird berichtet, wie Schönberg Nielsen an der Cote d’Azur begegnete und von der Zwölftontechnik überzeugen wollte, bei welcher Gelegenheit er vorschlug, den Tönen neue Namen zu geben, weil schon ein Name wie Cis eine Abhängigkeit suggeriere, hier von C, während man doch die Gleichberechtigung aller Töne hervorheben müsse. Nielsen konnte damit nichts anfangen, wie überhaupt Atonalität und Zwölftontechnik in Skandinavien nicht Fuß fassten; er hielt von Schönbergs Musik gar nichts und das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Bezeichnend ist, dass Schönberg wieder eine katastrophische Musik vorlegt, obwohl der Weltkrieg noch gar nicht begonnen hat, während Nielsen i m Weltkrieg wieder eine Jubelsymphonie schreibt. Das Letztere, von mir schon einmal geäußert, muss ich aber doch etwas modifizieren. Es gibt katastrophische Passagen in diesem Werk, und sie sind katastrophischer als in der nachfolgenden Fünften. Sie sind es dadurch, dass sie an den Orten ihres Erscheinens jede musikalische Ordnung aufheben. Dazu kommt es in der Fünften nie, denn dort ist das Beunruhigende, wenn auch noch so schräg in Töne gesetzt, immer aufgehoben in einem grundakkordischen Fortschreiten, das seine pathetische Ruhe eisern durchhält. Dies ist auch der Grund, weshalb erst in der Fünften Nielsens reife Sprache der Polytonalität gefunden ist. Deren Vorläufer in der Vierten sind jene „nachdenkliche Passagen“, von denen ich im letzten Eintrag sprach: „harte unaufgeregte Linien, die schneidend gegeneinander gesetzt sind“; schneidend, aber doch in derselben Tonart. Das Programmheft (Volker Tarnow) spricht hier von einem „expressiven Accompagnato-Rezitativ der Violinen, die ‚wie ein Adler im Wind‘ über die Klänge der Pauken und tiefen Streicher gleiten (Nielsen)“. Wie ein Adler im Wind, das erinnert stark an den Geist Gottes, der den Prozess der Schöpfung einleitet, indem er über den Wassern schwebt, denn auch dieses Bild scheint von der Vorstellung eines Adlers inspiriert zu sein (Deuterononium 32, 11: „Wie ein Adler, der sein Nest erregt, schwebend über seiner Brut“).

Nielsen war tatsächlich Vitalist, was ich im vorigen Eintrag noch relativierend eingebracht hatte: „manche sagen“. Nein, er hat es selbst gesagt. Den „elementaren Willen zum Leben“ wollte er laut Programmheft in der Vierten verherrlichen. „Ich fühle keine Trauer und keinen Jubel, keine Freude und keinen Gram, aber ich kann gleichzeitig jubeln, weinen, lächeln und klagen ohne Ende“, lässt er einmal „die Musik“ von sich sagen. Vitalistisch daran ist die Bereitschaft, alle Facetten „des Leben“ so, wie sie uns zustoßen, auch hinzunehmen. Nietzsche spricht ähnlich, seine Konzeption der „ewigen Wiederkehr“ geht davon aus: Wer das Leben wirklich bejaht, wird bereit sein, sagt er, alles in ihm Geschehene, schlimm oder nicht schlimm, zu wiederholen. Wenn Nietzsche darüber nachdenkt, steht freilich das Metaphysische im Vordergrund. Er spitzt nämlich die Frage, ob das Leben unbedingt bejaht werden kann, auf die Problem der Bejahung des Hässlichen und Bösen zu (und gerät dabei auf Abwege). Nielsen hingegen fügt nur erfreuliche und unerfreuliche Erlebnisse zusammen, wobei sich denn das Erfreuliche zum Schluss immer durchsetzt; auch das ist bei Nietzsche nicht der Fall, im wirklichen Leben so wenig wie in der metaphysischen Lebenskonzeption. Und nun bin ich an dem Punkt angelangt, wo ich „Nielsens Vitalismus“ doch wieder in Zweifel ziehen muss. Denn scheint er nicht eher noch der alten Lebensfreude eines Leibniz verhaftet, der herausstellte, dass wir ungeachtet des Bösen, das doch nur etwas wie eine Kapitalanlage sei, aus der zuletzt immer das Gute hervorgehe, die „beste aller möglichen Welten“ bevölkern? Zumal man vom Bösen in Leibniz‘ Zeit noch einen anderen Begriff hatte. Die Tat des Judas fiel darunter – wäre er nicht aufgetreten, hätte die Botschaft Jesu ihren Lauf um die Welt nicht angetreten -, aber auch das „Übel“, das mir etwa durch eine Naturkatastrophe zustoßen kann.

Es ist übrigens überhaupt eine interessante Frage, ob man sagen kann, es gebe irgendeine Musik – Richard Strauss? Gustav Mahler? Nielsen? -, von der die Zerrissenheit des nietzscheanischen Lebenskonzepts einigermaßen repräsentiert wird. Mir scheint das nicht der Fall zu sein.

Schönberg

Schönberg war alles andere als ein Nietzscheaner. Er hat das Leben nicht bejaht, wie sollte er auch. Schon in der Zeit der Komposition der Glücklichen Hand kämpfte er mit Suizidgedanken. Was ihn da zur Verzweiflung bringt, sind persönliche Beschwernisse, wie man sagt. Seine Frau hat eine Affäre mit dem Portrait- und Landschaftsmaler Richard Gerstl hinter sich. Mehr noch vielleicht macht ihn der ausbleibende künstlerische Erfolg depressiv. Beides wird in dem Einakter, der nur zwanzig Minuten dauert, thematisiert. Die Musiksprache ist immer noch expressiv-expressionistisch, doch gibt es bedeutende Neuentwicklungen gegenüber der Erwartung op. 17 (1909), die am 14. September zusammen mit Nielsens Fünfter aufgeführt worden war. Die Erwartung ist noch jenes sich entwickelnde Mosaikbild, von dem ich gesprochen hatte: zusammengesetzt aus frei atonalen Motiven, die sich quasi polyphon zueinander verhalten. Dass die Musik sich hier schon länger in einem Zug bewegen und zusammenhalten konnte, lag am Text, dem Libretto, von dessen Wörtern sich Schönberg unmittelbar inspirieren ließ. Er komponierte es denn auch in wenigen Wochen. Mit der Glücklichen Hand verhält es sich anders. In einer Zeit, wo er überhaupt wenig komponierte, arbeitete er drei Jahre (1910-13) an diesem Werk.

Das lag sicher daran, dass er nach einer Methode suchte, mit der es wieder möglich war, längere Werke zu komponieren. Die „Methode des Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ wird schließlich herauskommen, kurz Zwölftontechnik genannt, doch ist er in der Glücklichen Hand, einem immer noch frei atonalen Werk, bereits auf dem Weg dahin. „Die Ordnung des Tonmaterials“, so Manuel Gervink, „hat sich von der Vorstellung eines motivischen Netzwerks auf eine abstraktere Ebene verlängert, die bereits als strikte Intervallorganisation bezeichnet werden kann: motivische Gebilde lassen sich auf abstrakte Skalen zurückführen, die lediglich den Tonvorrat regulieren, aber keine Themenbildung oder auch nur diastematische [intervallmäßige] Konturen hervorbringen.“ (Arnold Schönberg und seine Zeit, Laaber 2000, S. 163 f.)

Eine weitere Neuentwicklung kommt hinzu: Wie Gervink vermutet, ist „ein allmählicher Wandel“ von Schönbergs „weltanschaulichen Grundlagen hin zu religiösen Themen“ ein Grund für die lange Dauer des Komponierens. Mir scheint das schon wegen des Chors aus sechs Männern und sechs Frauen plausibel, die am Anfang und Ende des Einakters erscheinen, um den auftretenden „Mann“ mit dem zu konfrontieren, was er tun und fühlen sollte, aber nicht tut und nicht fühlt. Das erinnert doch sehr stark an die spätere Zwölfton-Oper Moses und Aron, die mit Moses‘ Berufung durch den Chor des Gottes beginnt. Dabei gibt es hier wie schon in der Glücklichen Hand neben gesungenen Stimmen auch gesprochene. Gervink fragt sich, ob der Chor der Glücklichen Hand etwas wie ein griechischer Trägödienchor sei? Das scheint nicht zuzutreffen. Man kann eher an den Chor verstorbener Komponisten-Kollegen denken, von dem Palestrina zum Durchhalten aufgefordert wird, in Hans Pfitzners gleichnamiger Oper, die Schönberg allerdings noch nicht kennen konnte. Umgekehrt kann man im Gott der Schönberg-Oper Moses und Aron immer noch einen Rest der Problematik des einsamen Künstlers erkennen, denn eine rein religiöse Interpretation der Oper geht nicht auf, egal ob man jüdische oder christliche heilige Schriften als Referenz heranzieht.

Es war ein ganz wunderbarer Abend mit den Berliner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle. Das Orchester ist oft gerühmt worden, was soll ich hinzufügen? Den meisten Beifall bekam Nielsens Vierte, die Rattle natürlich in aller Klanggewalt zelebrierte. Der Jubelsymphonie antwortete ein jubelndes Publikum. Mir schien das übertrieben; zwar ist die Vierte unter Nielsens Werken immer die erfolgreichste gewesen, ich halte aber doch die Dritte und besonders die Fünfte für bedeutsamer. Begeisternd aber auch, wie Rattle die einzelnen musikalischen Gestalten und Abschnitte der Glücklichen Hand hervorholte. Gestalten zu verdeutlichen, ist ja überhaupt eine große Stärke von ihm. Begeisternd übrigens auch der Solosänger: Florian Boesch, Bassbariton. Ich habe es wieder einmal bedauert, dass Schönberg bei der f r e i e n Atonalität nicht geblieben ist. Das Konzert wird morgen zum letzten Mal wiederholt.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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