Sichtbare Spuren von Dante (I)

750-Jahr-Feier Die Florentiner machen nicht viel aus ihrem Dante-Jubiläum. Auch seine Spuren in der Stadt sind rar gesät. Aber wer ihm begegnen will, dem zeigt er sich

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Sichtbare Spuren von Dante (I)

Foto: Michael Jäger

Eine gute Woche habe ich mich in Italien aufgehalten, in Florenz und Orvieto genau genommen. Einer der Gründe war Dante, für dessen Spuren ich mich bei früheren Besuchen nie interessiert hatte. 1265 war sein Geburtstag gewesen. Dass es meiner Erwartung entgegen keine großen 750-Jahr-Feiern gab, wusste ich längst vorher, und meine Freunde in Florenz haben es bestätigt. Wie sie mir erzählten, ist es üblich, dass immer mal wieder jemand einen Canto aus der „Göttlichen Komödie“, der Commedia öffentlich vorliest, und diesmal hat sich’s gehäuft und der Bürgermeister von Florenz hat es in eigener Person getan. Das war der einsame Gipfel! So blieben mir nur bildliche Spuren, die ich mir auch bei früheren Besuchen hätte ansehen können. Hauptsächlich war ich auf den berühmten Freskenzyklus des Renaissancemalers Luca Signorelli im Dom von Orvieto gespannt, eine Darstellung des Endes der Welt, der Auferstehung und des Jüngsten Gerichts. Dies Thema kann zwar nicht an und für sich mit Dante assoziiert werden, nur weil auch er es vorher behandelt hat. Denn wie oft es behandelt wurde, lässt sich gar nicht zählen. Aber die Schöpfer der Cappella di San Brizio im Dom von Orvieto, wo man zu den Fresken aufschaut, haben den Bezug selber hergestellt – mit gutem Grund, wie wir sehen werden -, indem sie auf der Wandzone darunter ein Dantebildnis unterbrachten.

Rechts daneben, auf dem Foto oben nicht sichtbar, brachten sie auch ein Vergilbildnis unter. Ein großer Teil der „Rahmenhandlung“ der Commedia besteht ja darin, dass Dante sich vom römischen Dichter, der ein Zeitgenosse des Augustus war, den Läuterungsberg hinauf und vorher durch die Hölle führen beziehungsweise begleiten lässt. So zeigt denn das Gemälde, wie Dante in zwei Bücher gleichzeitig schaut, die Bibel und Vergils Aeneis vermutlich. Auf dies Epos in der Nachfolge Homers, das die Vorbereitung der Gründung Roms durch den Trojaner Aeneas darstellt, spielt er in der Commedia häufig an.

Doch der Reihe nach! In Florenz, wo ich zuerst war, sind nicht so bedeutende Bildzeugnisse zu besichtigen, wie Signorelli welche geschaffen hat. Dante ist freilich präsent genug. An einem „Dante Alighieri florentine leather fashion“-Geschäft läuft man vorbei und Plakate weisen auf eine Ausstellung hin, „Dalí meets Dante“ im Palazzo Medici Riccardi, die ich mir nicht angeschaut habe. Und natürlich heißt die Straße, an der sich das Museo Casa di Dante befindet, Via Dante Alighieri. Den Museumsbesuch trete ich nicht gerade mit hochfliegenden Gefühlen an, quetscht man sich doch durch eine laute Baustelle, um hineinzugelangen, und das bei 39 Grad im Schatten, der nicht selten verlassen werden muss. So ein Museum ist aber ohnehin nur mäßig spannend, man kennt das, es werden ein paar Dokumente ausgelegt, eine Graphik zeigt, wie klein Florenz damals war, eine zeitgenössische Kriegsschlacht ist mit Bleisoldaten nachgestellt und so weiter. Eine wichtige Anregung gibt es immerhin: Im Video werden einige der Commedia-Illustrationen von Gustave Doré gezeigt. Die sind großartig, und ich hatte von ihnen nicht gewusst.

Man stößt natürlich im Casa di Dante und schon auf der Außenmauer auf weitere Dante-Bildnisse, und aus welcher Zeit sie auch stammen, alle zeigen den düsteren Ernst dieses Mannes. Davon war erst mal auch nicht viel zu gewinnen. Gut, man weiß ja, er wurde aus Florenz, seiner Heimatstadt, verbannt und durfte nie zurückkehren. Darunter litt er schwer. Parteikämpfe, an denen er teilgenommen hatte, waren der Grund. Aber die Bildnisse, deren künstlerische Qualität manchmal bescheiden ist, schlüsseln das nicht weiter auf. Dennoch wurde mir „Dantes Ernst“ zum Stichwort, an dem sich dann doch die Augen öffneten. Sicher auch deshalb, weil ich ein anderes ernstes Gesicht wieder aufsuchte, das nun wirklich mit Dante nichts zu tun hat, sich aber zum Vergleich eignet. Wer Florenz besucht, wird immer zur Piazza della Signoria gehen und sich dort vor allem den Perseus anschauen, der das abgeschlagene Haupt der Medusa mit der linken Hand hochhält - wie eine Lampe, die Finsternis verbreitet statt Licht; grässlich quillt noch das Blut heraus - und es traurig zu betrachten vermeidet. Ich habe die Skulptur Benvenuto Cellinis, sein Hauptwerk, mit anderen Augen gesehen als sonst.

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Will man in ihr den überlieferten Mythos sehen, mag man noch Verständnis für die dargestellte Tat des griechischen Helden aufbringen. Wer das Gesicht der Medusa erblickte, dem stockte der Atem und er erstarrte zu Stein. Perseus hatte in einen Spiegel geschaut, um es nicht leiden zu müssen. Die großen Götter Athene und Hermes unterstützten ihn. Aber das alles zeigt die Skulptur nicht, sie zeigt nur zwei schöne Menschen, einen nackten Mann und eine nackte Frau – einen Frauenmord. Es ist eine symbolische Darstellung der Macht der Herrscherfamilie, der Medici. Das hatte ich schon bei früheren Besuchen gewusst. Was ich diesmal sah, war die Jugend des Täters, der fast noch wie ein Knabe aussieht, und eben den Ernst in seinem Gesicht.

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Soll man es Trauer nennen oder Melancholie? Melancholie wohl eher. Es scheint eine Tradition zu geben, „legitimen Mördern“ diese Eigenschaft bildlich zuzuschreiben. In Orvieto werde ich darauf zurückkommen, denn dort habe ich weitere Beispiele gesehen. Was seine Jugend angeht, so war er zwar auch im Mythos zur Tatzeit gerade erst herangewachsen, doch kann man auch an die klassischen Darstellungen der „Zwölfgötter“ durch den Athener Phidias denken. Das sind fast immer sehr jugendliche Gestalten, in deren Gesichtern sich dennoch alle Spuren der Weisheit abzeichnen, die man dem hohen Alter zuzuschreiben pflegt – da sie unsterblich sind, hat die Zeit keine Macht über sie -, wobei auch ihre Stellung jenseits von gut und böse unübersehbar ist; locker und lässig, als spielten sie Tennis, unterhalten sie sich und töten etwa nebenbei einen Sterblichen. Denn alles, was sie tun, ist richtig. So gibt es eine Skulptur des Apollo, auf 17 Jahre würde man ihn schätzen, wie er im Begriff steht, seinen Pfeil abzuschießen: Ein Sterblicher hat ihn nicht genug geehrt. Wäre Apollo ein Mensch, man würde sagen, er sei „verletzt“ gewesen, doch was seine Miene zu erkennen gibt, ist nur Erstaunen - es ist, als würde er eines missgestalteten Insekts angesichtig. (Darauf macht Erika Simon aufmerksam.) Er scheint sich zu fragen, ob es so etwas überhaupt geben dürfe. Mit solchen Göttern und ihren Helden zu leben, kann eine Zumutung sein. Wie Rilke sagt: „Ein jeder Engel ist schrecklich.“ So auch Perseus, dessen ernste Melancholie uns in keiner Weise tröstet, auch wenn mit ihr behauptet wird, er jedenfalls sei ein Mensch und habe Gefühle.

Das war der Hintergrund, vor dem ich dann das Florentiner Dante-Denkmal wahrnahm. Auch an ihm war ich bei jedem Florenzbesuch vorbeigegangen, steht es doch neben Santa Croce, der bedeutenden Franziskanerkirche. Ich hatte es nie seinerseits für bedeutend gehalten. Es wird auch in den Kunstführern kaum erwähnt. Was Dantes ganz anderen Ernst angeht, ist es aber sehr aufschlussreich.

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Auch Dante ist jugendlich, wenngleich nicht knabenhaft dargestellt und man kann sogar sagen, dass quasigöttliche Ruhe des Betrachtens zu den Dimensionen seines Gesichtsausdrucks gehört. Dante wäre ja kein Künstler, wenn er die Kälte nicht hätte, auch Gegenstände, über die er sich erregt, möglichst so nackt zu sehen, wie sie sind, statt durch gefärbte Brillen. Man sieht aber, er erregt sich mächtig. In der Commedia hat man gelesen, wie er Bonifatius VIII., dem Papst, der sich über den Kaiser erheben wollte, die Hölle an den Hals wünscht und sich die Qualen ausmalt, die er dort erleiden soll. Doch Dante tötet nicht selbst, schon weil er vollkommen wehrlos ist und das, wie deutlich zu sehen, auch weiß. Besser gesagt, scheint das Denkmal den Augenblick festzuhalten, in dem er das Bewusstsein gerade erlangt hat. Schon wollte ja sein linkes Bein auf die Gegner zuschreiten - der daneben gleichsam Gewehr bei Fuß stehende Adler dürfte den Kaiser vertreten; wäre er mehr als ein Symbol, würde er Dante mit Waffengewalt unterstützen -, aber das rechte steht schon still und weist in eine andere Richtung.

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Der Kopf folgt noch dem linken Bein, ist noch ganz mit den Gegnern befasst und ihnen zugewandt, wiederum steht dem aber die linke Hand entgegen, die mit entschiedener Bewegung das Gewand rafft, stark nach rechts hin und ein Gewandstück bildend, das den Schild vertritt, den Dante nicht hat. Das ist eine Gestalt, die nicht umhin kann, sich zu verdrehen! Kein Gott eben, sondern einer, der mit den Umständen, wie sie kommen und gehen, von Klippe zu Klippe fällt. Melancholisch ist daran gar nichts. Nicht Rilke fällt einem hier ein, sondern Brechts „An die Nachgeborenen“:

Dabei wissen wir doch,
Auch der Hass gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
[...] Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Bemerkenswert ist noch, dass Dantes Züge sich recht verschieden ausnehmen je nach dem Blickpunkt, aus dem man sie betrachtet. Mal wirken sie gar nicht verzerrt, sondern nur das Übel konstatierend; mal gar nicht wehrlos, sondern eher autoritär strafend – und eben das, denke ich, nehmen die Passanten, die nur flüchtig hinschauen, in der Regel als falschen Haupteindruck mit, mir selbst jedenfalls ist es immer so ergangen -,

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dann aber wieder kann er geradezu hinterhältig verklemmt aussehen

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wie einer, der auf heimliche Rache sinnt. Das Denkmal wurde 1865 errichtet, 600 Jahre also nach Dantes Geburt. Der Künstler heißt Enrico Pazzi, und wie ich auf einer Internetseite lese, wurde es „am 14. Mai [...] von Vitorio Emanuele II., dem König des vor kurzem vereinigten Italiens, [...] mit großem Pomp enthüllt“. Das klingt nach Billigkunst, doch die Logik, die dahinter steht, ist sehr wichtig. Tatsächlich lagen damals Rachegedanken nicht fern. Florenz war 1865 noch Hauptstadt des erst 1861 gegründeten Königreichs Italien, dessen Beziehungen zur römischen Kirche mehr als gespannt waren. Noch gab es den Kirchenstaat. Rom wurde erst 1870 eingenommen und zur Hauptstadt gemacht. Dante hatte gleichsam Recht behalten. Dass sein Denkmal eine mehrdeutige Ausstrahlung hat, ist kein Zufall: Kaum war es aufgestellt, musste die Bonifatius-Kirche dem König geben, was des Königs war.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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