Stille

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Um erste Umrisse für Luigi Nonos Oratorium Prometeo, 1984, soll es heute gehen. Zunächst muss man das Werk in Nonos musikalischer Biografie situieren. Der Komponist wird immer als einer der großen Drei der seriellen Musik genannt - Boulez, Stockhausen, Nono. Dabei sei gleich vorweg daran erinnert, was ich voriges Jahr zum musikfest berlin 2010 ausgeführt habe: Der Serialismus ist kein Zwangssystem, das der Musik übergestülpt worden wäre, sondern eine Methode, mit der sich Komponisten dazu erzogen haben, nicht nur einen sondern alle "Parameter" der Musik ihrer kompositorischen Aufmerksamkeit, ihrem schöpferisch planenden Willen zu unterziehen; also nicht nur den Tonhöhenverlauf, wie es seit eh und je in der Musikgeschichte gehalten worden ist, sondern auch den Verlauf der Rhythmen, der Lautstärken, der Klänge und so weiter. Nono war kein Pionier dieser Bewegung, hat sich ihr aber ab 1955 angeschlossen und hat bis zuletzt, immer in recht freier Form, von der seriellen Technik Gebrauch gemacht. Für später, wenn ich wieder über Wolfgang Rihm schreibe, mögen wir das im Merkbuch festhalten: Rihm, der so sehr auf die Freiheit des Komponisten jenseits aller strukturellen Zwänge pocht, war gerade mit diesem Serialisten Nono befreundet und von ihm inspiriert. Wie passt das zusammen? Wir werden sehen.

Jetzt geht es um Nono und darum, dass sein Schaffen in zwei deutlich verschiedene Phasen zerfällt; dass Rihm wie auch die Programmgestaltung des musikfests 2011 nur auf die zweite Phase Bezug nimmt. Nonos erste Phase vor dem Ende der 1970er Jahre war die eines musikalisch aktiven Kommunisten. Da bedeutende Werke in ihr entstanden sind, hätte eine wirkliche Nono-Ehrung nicht nur den Prometeo aus der zweiten Phase, sondern auch ein Hauptwerk der ersten erklingen lassen, am besten die Canto sospeso von 1956, eine Vertonung von Briefen Gefangener, zum Tod Verurteilter in Nazi-Gefängnissen. Vielleicht auch La fabbrica illuminata von 1964, die "beleuchtete" oder "erleuchtete" Fabrik; dieses Werk hätte sich besonders geeignet, die Verschiedenheit der Phasen sinnfällig zu machen. Es ist nämlich sehr laut. Hier werden Maschinenklänge und das Sprechen und Schreien von Arbeitern elektronisch verarbeitet und vom Tonband wiedergegeben; dazu singt oder spricht ein Solosopran. Das ist übrigens keine Musik, die sich fürs Privatleben nicht interessiert, vielmehr erinnert sie daran, dass auch Fabrikarbeiter eins haben. Giro del letto heißt einer der beiden Teile, in denen ihre Situation dargestellt wird, "Reise ums Bett", das ist die Schichtarbeit, die dazu führen kann, dass Mann und Frau nur abwechselnd statt gemeinsam in ihm liegen.

Die zweite Phase von Nonos Schaffen ist nicht etwa eine, in der er aufhört, Kommunist zu sein. Obgleich manche es mutmaßten: "Wendet sich [...] der Komponist in seinem Streichquartett von Revolution und sozialem Fortschrittsgedanken ab, der reinen Innerlichkeit zu [...], wobei mit dem ideologisch-politischen Rückzug eine ästhetische Regression einhergeht?", fragte ein Kritiker (Max Nyffeler, zitiert in Jürg Stenzl, Luigi Nono, Reinbek 1998, S. 97), als 1980 Fragmente - Stille. An Diotima uraufgeführt wurde. Dieses Werk war freilich für viele ein Schock. Es weist lange Pausen auf, und die Klanginseln dazwischen sind äußerst leise, bewegen sich meist zwischen ein- und fünffachem piano. Im übrigen ist das sozusagen eine Hölderlin-Vertonung. "Sozusagen", weil die Partitur zwar durch Hölderlin-Zitate gegliedert ist, diese aber, wie Nono schreibt, "in keinem Fall während der Aufführung vorgetragen werden [sollen] // sondern", und nun hören wir, was ihn bewegt hat: sondern es "sind vielfältige Augenblicke, Gedanken, Stille 'Gesänge' / aus anderen Räumen, aus anderen Himmeln, / um auf andere Weise die Möglichkeit wiederzuentdecken, nicht der Hoffnung Lebewohl zu sagen // Die Ausführenden mögen sie innerlich 'singen' in deren Selbstbestimmtheit / in der Selbstbestimmtheit von Tönen, die in eine 'zarte Harmonie des inneren Lebens' streben."

Mit "Diotima" ist an Hölderlins Hyperion erinnert, den Roman über einen scheiternden griechischen Freiheitskämpfer. Ist für Nono der kommunistische Kampf gescheitert? In dieser Richtung wird man suchen müssen. Zunächst bemerken wir, das Werk ist den vier Interpreten der Uraufführung gewidmet (dem LaSalle-Quartett), wozu Nono sagt, die unhörbaren Fragmente aus Texten von Hölderlin seien "für die inneren Ohren der Ausführenden bestimmt". Das mag sich nun wie eine Wende zur "Innerlichkeit" anhören, es ist aber keine. Vielmehr geht es darum, die Empfänger der Musik - nicht nur die Ausführenden, sondern auch das zuhörende Publikum - zum Mitdenken, zur eigenen Aktivität zu veranlassen. Man darf hier durchaus an das Ziel des Brechtschen "epischen Theaters" denken: Die bloß passive Identifikation mit dem Dargebotenen soll aufgebrochen werden. Nono will freilich nicht nur, wie Brecht, dass die Zuhörer etwas aktiv nachvollziehen, was der Künstler immer schon weiß. Aber so haben wir erst einmal die Grundelemente beisammen, die seine Musik nach der Wende und auch gerade den Prometeo charakterisieren: Das Neue, mit den Worten Martin Zenks gesagt, besteht darin,

"dass die 'Leerstellen' der Stille und der endlosen Fermate dem Spieler und Hörer die Generierung von Sinn abverlangen. Ist das Spielen und Hören von klassischer Musik also in hohem Maße von dem Verstehen eines anderen, nämlich der Musik abhängig, so ist das Verstehen der Musik von Nono [...] ein Sich-selbst-Verstehen [...]. Die andere: die Stille und das Schweigen wirft den Hörer ständig auf sich selbst zurück, gibt ihm eine Freiheit, die er beim Verstehen des logischen Diskurses einer Klaviersonate nicht hatte." (zitiert in Friedemann Kawohl, Kammermusik zwischen Moderne und Postmoderne, in Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1975-2000, Laaber 200, S. 131-170, hier S. 151; die Nono-Zitate ebd. und S. 149)

"Sich selbst verstehen" sollen die Hörer nicht irgendwie abstrakt existenzialistisch, sondern wegen der Fragen und Dilemmata, die die politische Geschichte auf die Agenda gesetzt hat. Ich zitiere dazu die Darstellung von Jürg Stenzl (a.a.O., S. 102 f.):

"So schockierte Nono bei einem von der UNESCO in Budapest veranstalteten Kongress die versammelten, selbstsicher auftretenden musikalischen Apparatschiks aus den real-sozialistischen Ländern durch die Forderung, es gehe heute 'um den Versuch, etwas zu finden, nicht aber eine Sicherheit', es gelte, 'mentale und kulturelle Krämpfe (Wittgenstein) durch eine bewusste Suche neuer Lösungen aufzubrechen'. Er forderte nicht bloß 'eine neue Hörkultur', sondern bezeichnete El Salvador, Afghanistan und besonders Polen als Beispiele von 'Konfliktlösungen nasch dem Muster alter Dogmen und mentaler Krämpfe'. Die Dolmetscher übersetzten diese Worte nicht; als dies von neutraler Seite nachgeholt wurde, reagierte die ungarische Musikzeitschrift 'Muzsika' auf derartige 'Ansichten. die von denen der ungarischen Außenpolitik von Grund auf abweichen', mit dem Vorwurf, das sei 'mehr als Taktlosigkeit' gewesen."

Afghanistan - der sowjetische Einmarsch dortselbst war für Nono ein "mentaler Krampf". Das war 1981, und hören wir auch, was er zu Polen sagt (zitiert ebd.):

"Im Oktober 1981 bat mich die Leitung des Festivals 'Warschauer Hernst', für das folgende Jahr einen zweiten 'Diario polacco' zu komponieren. Dann kam der 13. Dezember [die Verhängung des Kriegsrechts durch General Jaruzelski]. Von den Freunden, die mich gebeten hatten, erhielt ich keine Nachricht mehr. Die Leitung wurde aufgelöst, das Festival konnte sich nicht halten. Umso mehr wollte ich diesen 'Diario', dieses 'Tagebuch', schreiben. Ich widme es den polnischen Freunden und Genossen, die im Exil, im Untergrund, im Gefängnis, an der Arbeit ausharren - hoffend das nicht zu Hoffende, glaubend das nicht zu Glaubende."

Die Stille also, mit der Nono den Hörer auf sich selbst zurückwirft, ist von derselben Art - nur weit radikaler gedacht - wie die ausgeführt hörbaren 36 Variationen über "El pueblo unido", das chilenische Kampflied, für Klavier solo von Frederic Rzewski. Dieses Werk war "von der Pianistin Ursula Oppens für die amerikanische Zweihundertjahrfeier 1976 im Kennedy-Center in Washington D.C. in Auftrag gegeben [worden] - vielleicht mit der Absicht, dieses selbstgefällige Forum zu benutzen, um implizit Kritik an der interventionistischen Außenpolitik Amerikas zu äußern". Rzwski setzte das Nono-analog um, bevor Nono selbst darauf kam; er sagt: "Indem sie eine Stunde lang meinem Stück zuhörten, würde bei ihnen vielleicht ein Interesse am Gegenstand erweckt werden." (im Programmheft zur Berliner MaerzMusik 2010; S. 249) Und allgemeiner: "Die Grundidee ist, die Völker [...] gegen den Faschismus zu einigen. Man gibt ihnen etwa eine Stunde, um über die Tatsache nachzudenken, dass Chile nicht weit von den USA ist [...]. Die Variationsform erschien mir am geeignetsten, die Idee der Einigung klarzumachen." (zitiert in Hanns-Werner Heister, Geschichte als musikalische Gegenwart, in Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert. 1945-1975, Laaber 2005, S, 285-297, hier S. 297)

Nono schien die Stille am geeignetsten, weil er mehr wollte, als dass sich die Völker "einer Tatsache" bewusst werden: Er hoffte, dass sie neu denken und einen neuen Weg finden würden. Dafür musste er sie, das heißt jeden und jede einzeln, "auf sich selbst zurückwerfen".

Nun haben wir sein Oratorium Prometeo situiert und können uns denken, weshalb er es als "Tragödie des Hörens" bezeichnet. Diese Tragödie lebt aber auch von ihren Texten, über die nachgedacht werden soll, in der Stille, wie bei jenem Streichquartett über Hölderlins Freiheitskämpfern. Ich werde dazu in der nächsten Woche etwas schreiben, rechtzeitig vor der Aufführung am Freitag und Samstag, den 16. und 17. September. Vorher schreibe ich über Konzerte zwischen dem morgigen Donnerstag und dem kommenden Sonntag: Busoni, Rihm, Mahler stehen auf dem Programm.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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