Trauer

Musikfest Berlin Musique funèbre von Lutoslawski, Romeo und Julia von Prokofjew, Babi Jar von Schostakowitsch

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Daniele Gatti dirigiert das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam
Daniele Gatti dirigiert das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam

Foto: Kai Bienert / Berliner Festspiele

Höhepunkt des Konzerts vom Mittwoch Abend - das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam spielte unter Daniele Gatti - war Witold Lutoslawskis Musique funèbre für Orchester. Sie dürfte auch ein Höhepunkt des Musikfests gewesen sein, sie ist gewiss ein Höhepunkt in Lutoslawskis Schaffen, obwohl zugleich erst seine Selbstgründungstat. Von diesem Stück an komponiert er ungehemmt in der eigenen Musiksprache. Dazu steht nicht im Widerspruch, dass es das erste und auch letzte Stück ist, in dem er die Regeln der von Arnold Schönberg bereitgestellten "Methode des Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen", der sogenannten Zwölftontechnik, vollständig beachtet. Dies war vor dem polnischen "Tauwetter" seit 1954 nicht möglich gewesen. Von 1954 bis '58 entstand die Komposition. Das Verblüffende und ganz Eigene an ihr ist, dass sich, wenn man sie anhört, gar nicht der Eindruck aufdrängt, man sei da mit atonaler Musik konfrontiert. Sie spricht einen vielmehr unmittelbar an. Man kann sich dem Sog ihrer tiefen Trauer nicht entziehen. Ja, wer meint, er könne atonale Musik nicht verstehen, geschweige denn mitfühlen, der höre sich nur zuallererst dieses Stück an. Es ist nicht lang.

Warum die tiefe Trauer? "In Memoriam Béla Bartók" ist der Untertitel. Auf dessen Musik hat sich Lutoslawski immer wieder bezogen, sie wird auch hier gelegentlich zitiert. Aber Bartók ist bereits zehn Jahre tot. Wahrscheinlich ist die im Programmheft geäußerte Vermutung richtig, dass Lutoslaswski auch der niedergeschlagenen Revolution in Bartóks Heimatland gedenkt, Ungarn 1956. Es war ihm bestimmt durchsichtig, wie dies Ereignis mit dem "Tauwetter", das ihm selbst mehr Freiheit brachte, die er brauchte, gerade zusammenhing. 1956 hatte der neue sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow den Stalinismus verworfen. Doch so weitreichende Schlussfolgerungen, wie Ungarn daraus zog, konnte oder wollte Chruschtschow nicht dulden. Bartók wiederum war seinerzeit wegen der Nazis in die Vereinigten Staaten emigriert. Das alles zusammengenommen ist schon zum Verzweifeln. Aber Lutoslawskis Musik ist nicht nur ein Kommentar zum Geschichtsverlauf, sondern auch ein brisanter Eingriff. Denn man braucht sich nur zu erinnern, wie Dmitri Schostakowitsch in der Sowjetunion - gleich vielen anderen in realsozialistischen Ländern - nicht nur dann Schwierigkeiten mit der Partei bekam, wenn er "formalistisch" komponierte, sondern auch wenn er dem offiziellen Optimismus nicht huldigte.

Die Musique funèbre ist kein Trauermarsch, geht aber doch in sehr gleichmäßigen, quasi gefesselten Schritten voran. Sie stellt sich dem Zwang der Ereignisse. Sie ist alles andere als monoton, evoziert aber Monotonie als Signum des Auf-der Stelle-Tretens. Eine Entwicklung kann es nur darin geben, dass Verzweiflung sich anbahnt, ausbricht und wieder abebbt. Das Stück nähert sich dem "Ausbruch", der darin besteht, dass alle Töne zusammenklingen, ganz konsequent, ja geht kontinuierlich in ihn über. Die Musik implodiert, das ist es gerade, was sie herausschreien will. Wir haben anlässlich Mozarts gesehen, eine Musik kann gesellig heiter sein und doch zugleich die persönliche Inschrift der Melancholie tragen. Von den Umständen seiner Zeit genötigt, geht Lutoslawski viel weiter. Er spielt der Gesellschaft ein unerhörtes, unerhört trauriges Lied vor, das ganz allein sein eigenes ist. Doch die Gesellschaft soll es hören. Das Lied wendet sich nicht etwa von ihr ab.

*

Nach der Konzertpause stand Sergej Prokofjews Ballettsuite Romeo und Julia auf dem Programm, komponiert 1935/36. Genauer gesagt waren es Auszüge aus zwei Suiten dieses Namens. Es gibt in dieser Musik eine einzige Szene, die alles andere überschwärzt, so dass ich nicht anders kann, als nur von ihr zu sprechen. Und das, obwohl es sich um einen bekannten Ohrwurm handelt. Er fand sogar schon einmal in einer Fernsehwerbung Verwendung. Die Rede ist vom "Tanz der Ritter", auch "Die Montagues und Capulets" genannt, das sind die beiden Familien, deren Verfeindung das Liebespaar in den Tod treibt. Auch von dieser Musik kann gesagt werden, dass sie mit Punktierung und Synkopen, die tatsächlich wie Schwerter von Rittern zusammenstoßen und ein greulich faszinierendes Reibegeräusch erzeugen, eine Monotonie zur Schau trägt. Ihr Gestus ist derselbe wie in Lutoslawskis Musique funèbre: Indem sich persönlicher Schmerz äußert, wird auf eine gesellschaftliche Kalamität verwiesen.

Ich habe das Stück mit andern Ohren gehört als sonst. Man weiß zwar, wie Shakespeares Tragödie endet: Romeo sieht die schlafende Julia und hält sie für tot, tötet sich deshalb selber; Julia erwacht, sieht den toten Romeo und tötet sich deshalb selber. Das schreckliche Missverständnis ist auf Umwegen die Folge der Feindschaft der Familien, der die Liebenden angehören. Es ist aber gar nicht so einmalig. Irgendwelche Menschen, die ihrem Leben ein Ende gesetzt haben, hätten es vielleicht nicht getan, wenn vorher in Gesprächen ein Punkt berührt worden wäre, den sie sorgsam verschwiegen. Auf Umwegen, die anders als bei Shakespeare nicht offen zutage liegen, haben gesellschaftliche Umstände mitgewirkt. Die grelle Monotonie der Musik, sind es sich reibende Schwerter? Solche des Schmerzes, kein Zweifel. Aber mehr noch höre ich die Zwangshandlung des im Leben Zurückbleibenden, dass er den Todesfall immer von Neuem erzählen muss.

*

Die 13. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch trägt den Titel Babi Jar, so ist zugleich der erste ihrer fünf Sätze überschrieben. Babi Jar ist eine Schlucht bei Kiew, in der fast hunderttausend Menschen von der SS und ukrainischen Kollaborateuren erschossen wurden, Juden zumeist, aber auch Roma, Ukrainer und Russen. Die 1962 entstandene Sinfonie vertont ein Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko. Zu beiden, Gedicht wie Sinfonie, wäre es nicht gekommen, wenn es nicht auch in der Sowjetunion ein "Tauwetter" gegeben hätte. Allerdings wollte man ihr dann doch nicht zuhören. Sie wurde zwar uraufgeführt, verschwand aber bald in der Versenkung. Wie das Programmheft berichtet, warf ihr die Zeitung Sowjetskaja Belorussia "nichtreparierbare Defekte" vor, denn dem Komponisten fehle "der höhere Sinn für Verantwortung" und er habe "nicht verstanden, was die Gesellschaft braucht".

Dabei war diese Trauermusik, denn um eine solche handelt es sich wieder, durchaus nicht ohne Optimismus, aber es war freilich nicht der parteioffizielle. Das vertonte Gedicht schlug schon gleich beim Nachdenken über Babi Jar ganz ungewohnte Töne an: "O Russland, du mein Volk! - Getreulich denkt du international in deinem Handeln." Es ist offenbar von Sowjetrussland die Rede. "Doch ehrfurchtslose Frevler suchen längst die Reinheit deines Namens zu verschandeln." "Kürzlich, keiner wagt es zu verbieten, hat eine Schar Antisemiten sich höhnisch 'Bund des Russenvolks' genannt!" Dagegen der Sänger, der von einem Männerchor unterstützt wird: "Mir ist, als wenn ich selbst ein Jude bin". Und gerade dieser ganz persönliche Weg, sich den Massakern zu nähern, wird aus dem Tal des Todes herausführen. Ja, der Dichter geht so weit, sich mit Anne Frank zu identifizieren: "Jetzt scheint mir: Ich selbst bin Anne Frank, ein knospenzarter Zweig im Frühlingswehen. Ich liebe nur." Wenig später wird die Tür zerschlagen und man holt sie ab. Aus der Erinnerung macht der Dichter sein politisches Programm: "Was hier geschah: ich kann es nie vergessen! Die 'Internationale' tönt und gellt, wenn keine Menschenseele mehr besessen von Judenfeindschaft hier auf dieser Welt." ("Tönt und gellt" mit dem pejorativem Beiklang ist bestimmt keine angemessene Übersetzung.)

In Schostakowitschs Schaffen war der persönliche Ton eine Überraschung. Seine Sinfonien hatten sich so angehört, als käme ein Subjekt in ihnen gar nicht vor, vielmehr nur objektive Geschichte. Doch vielleicht war das immer eine Täuschung. Das Subjekt hatte sich nur nicht offenbart, hier offenbart es sich. Denn der Ton der 13. Sinfonie unterscheidet sich nicht so grundsätzlich von den vorausgegangenen. Es ist Schostakowitschs gewohnte avantgardistische Plakatkunst - musikalisches Analogon der Plakate eines El Lissitzky, also nicht mit "plakativ" zu verwechseln -, die ungemischte Farben nebeneinandersetzt und mit einfachen Gesten haushält. Alles ist ganz deutlich, aber man muss sich auch öffnen, und zuerst der Dirigent. Denn auch diese Musik kann dargeboten werden, als wäre sie subjektlos. Marek Janowski und das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin haben das am Donnerstag Abend nicht getan. Sie haben das Persönliche und die Leidenschaft hörbar gemacht. Erleichtert wurde es ihnen durch den Vortrag des deutschen statt russischen Textes.

Der zweite Satz schlägt eine überraschende Volte. Er heißt "Humor". "Cäsaren, Regenten und Könige, die Herren im Rampenlicht, sie kommandierten nicht wenige, beim Witz jedoch - beim Witz jedoch! - ging das nicht." So geht es weiter. "Man rief: 'Knallt den Witz übern Haufen!' Da tät er das Hinterteil zeigen!" Das Persönliche, das sich äußert, ist noch in einer konventionellen Rolle verpuppt: Äsop und Nasredin Hodscha werden genannt, auf Till Eulenspiegel wird angespielt, den man hinrichtet und der darüber lacht. Im dritten und vierten Satz tritt das Persönliche erst einmal wieder zurück. Die russischen Frauen, die vor den Läden Schlange stehen, werden beklagt und es ist von "Ängsten" die Rede. Doch dann im fünften Satz tritt das Subjekt frei heraus in Gestalt Galileis, der nicht an seine "Karriere" dachte. Oder dessen überlegene Karriere es eben war, sich "mit Dreck beschmieren" zu lassen. "Ein Wissenschaftler jener Zeit, er war wie Galilei gescheit, fand auch, dass sich die Erde dreht - er hat Familie, ihr versteht..." Er "denkt: so mache ich Karriere, doch in der Tat zerstört er sie."

Die Musik des fünften Satzes beginnt mit zarten Klängen eines Frühlings, der schon begonnen hat, um dann die ruppigen Gesten des "Humor"-Satzes aufzunehmen. Das Individuum, das der Gesellschaft sehr kritisch gegenübersteht, sieht sich seinerseits als gesellschaftliches Individuum. Es privatisiert nicht. Es ist "knospenzart" und sein Vorbild ist Galilei.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden