Ultraschall, das von zwei Rundfunksendern veranstaltete Berliner „Festival für neue Musik“, feierte vergangene Woche seinen 20. Geburtstag. Immer wieder spannend an solchen Konzertreihen ist die Frage, ob neue Kunstwerke zur Erklärung der Gegenwart etwas beitragen. Einige taten es. Und wenn neueste Musik mit Werken der schon klassisch gewordenen Avantgarde zusammengestellt wird – eine Besonderheit von Ultraschall –, ist der Erkenntnisgewinn umso größer. Mit einem wahren Zentralwerk älterer Zeit, Bernd Alois Zimmermanns Photoptosis aus dem Jahr 1968, wurde das Festival eröffnet.
Diese nur zehnminütige Komposition lässt Klangflächen, die den „Lichteinfall“ bedeuten (so die Übersetzung des altgriechischen Titels), sich bis zum Ende unablässig steigern, ergänzt sie aber im Mittelteil durch Zitate aus tonalen Kompositionen, wobei besonders die Strecke Beethoven-Wagner-Skriabin hervortritt.
Zitiert werden Gesten des Willens zur Befreiung, die sich nicht nur untereinander erstaunlich ähneln, sondern auch mit der abstrakten Spannungssteigerung als solcher konvergieren, die vorausgeht und nachfolgt. Das ist eine Deutung der 68er-Revolte – auch sie konnte die Mauern nicht durchbrechen, die der Menschheitsgeschichte gesetzt scheinen – und gleichzeitig eine Deutung der Geschichte selbst: Sie war nie etwas anderes als dieser Durchbruchsversuch, der doch einmal gelingen muss. Ob das der Grund ist, weshalb Zimmermann sein Stück für großes Orchester im Untertitel Prélude nennt?
Und heute? Das Festival endete mit woher ... wohin (2015/17), einer Orchesterkomposition von Mark Andre. Dieses Werk wurde angekündigt als Reihe von Variationen des Verschwindens. Andre, der vor der Aufführung befragt wurde, erklärte dazu, er habe sich von der Geschichte der Emmausjünger im Lukas-Evangelium inspirieren lassen. Zu den Jüngern gesellt sich ein Unbekannter. Er erklärt den Verzweifelten den Sinn der Kreuzigung Jesu, dann verschwindet er: „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten ihn“, als den Auferstandenen nämlich; „dann sahen sie ihn nicht mehr.“ (Lukas 24, 31)
Schon ist Schweigen
Mark Andre macht daraus, dass gerade das Verschwinden zum Erkennenkönnen führte – und auch heute noch führt. Seine Musik scheint es zu bestätigen. Man hört etwa ein paar leise Töne und denkt, das ist ja nur eine Einleitung, hört also kaum hin; aber dann schweigt das Orchester schon, und nun muss die Erinnerungsarbeit beginnen.
Lehrt uns diese Musik, an der Gegenwart nicht zu verzweifeln? Wenn sie in ihrer unglaublichen Klanggestaltungskraft an Arnold Schönbergs Fünf Orchesterstücke op. 16 (1909) denken lässt, entdeckt sie doch nicht wie diese das Schreckliche – das damals wirklich bevorstand –, sondern ist eine Aufforderung, das Potenzial einer besseren Zukunft in der Gegenwart zu suchen, auch wenn sie nicht laut ist. „Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt“, um mit Nietzsche zu sprechen.
Die Lehre ließ sich, wo Werke den Charakter von Gegenwartsdiagnosen hatten, oftmals beherzigen. Ja Nári (2003) etwa, von Samir Odeh-Tamimi, einem Palästinenser, war eine Meditation über den Zusammenhang von Wut und Trauer für Trompete, Horn, Posaune und Schlagzeug. Der Titel bedeutet Mein verbranntes Herz. Was in dem sechsminütigen Stück als Wut beginnt, ist am Ende die Entdeckung der Trauer, die ihr zugrunde liegt. Die Wut distanziert sich vom Anderen. Die leisere Trauer, die auch ein Nachdenken ist, bezieht ihn mit ein.
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