Umwandlung der Umwandlung, stetiges Variieren

Musikfest 2014 Vom musikalischen Irrsinn und wie man ihn vorsichtshalber etwas verhüllt

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Für mich war Brahms ein roter Faden im diesjährigen Musikfest. Das war sicher auch eine Folge meiner Auswahl der Konzerte; im Resümee der Musikfestveranstalter, die den Gesamtüberblick haben, werden andere Züge hervorgehoben, so die häufigen Konzerte, die sich ums Horn drehten und von denen ich nur eines besucht habe (Hornkonzert von Georg Friedrich Haas am 15. September). Jedenfalls war Brahms in den letzten Festivaltagen noch einmal üppig präsent. An vier Abenden breiteten die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle sein ganzes symphonisches Repertoire aus, wobei sie jeweils eine Symphonie von ihm mit einer von Robert Schumann zusammenstellten, der auch nur vier solche Werke komponiert hat. (Diese Konzerte werden in den nächsten Tagen noch einmal wiederholt.) Wer am Samstag den Kammermusiksaal besuchte, wo zeitgleich mit dem dritten Brahms-Schumann-Konzert Enno Poppes Speicher I-VI gegeben wurden, vom Ensemblekollektiv Berlin unter Leitung des Komponisten, konnte dann auch noch hören und wurde im Programmheft informiert, dass diese zwischen 2008 und 2013 komponierten Stücke auf Brahms' Methode der "entwickelnden Variation" zurückgreifen.

Die Zusammenstellung von Brahms und Schumann war erhellend, auch wenn man die Nähe im entscheidenden Punkt, eben der "entwickelnden Variation", nicht so unmittelbar hört, sondern sich erst gedanklich klarmachen muss. Es ist freilich trivial, von Nähe zu sprechen, ihrer Nähe im Allgemeinen, die bekannt genug ist: dass Brahms als junger Mann den um eine Generation Älteren besuchte, dieser von ihm begeistert war und ihn der Musikwelt als neuen Messias ankündigte; dass Schumann die letzten Jahre seines kurzen Lebens in einer Irrenanstalt zubringen musste; dass selbst Brahms - man erstaunt heute darüber - in Schumanns letzten Werken Spuren des Wahnsinns zu sehen glaubte und zum Beispiel mitverantwortlich dafür war, dass Schumanns spätes Violinkonzert nicht veröffentlicht wurde (erst die Nazis gruben es aus: Da sie das Violinkonzert von Felix Mendelssohn-Bartholdy als Werk eines Juden aus den Konzertsälen verbannten, brauchten sie einen Ersatz); dass Brahms und Clara Schumann lebenslang sehr eng befreundet waren, auch wenn es zu einer erotischen Beziehung wohl nie gekommen ist.

"Schumanns Wahnsinn", das ist nun allerdings ein dunkles Kapitel. Als er damals eingeliefert wurde, haben seine Ärzte tatsächlich geglaubt, wer so wirr komponiere wie dieser Mann - sie fanden Schumanns Klavierstücke wirr -, der könne ja nur verrückt werden oder es immer schon gewesen sein. Und noch in einer Handreichung aus dem Jahr 1960 finde ich die schlimme Bemerkung, die freilich, ohne es zu wollen, in den Kern der Sache führt: "Der Feuerkopf der deutschen Romantik verfing sich im Satzgefüge der Wiener Klassik, und seine Geisteskrankheit war nichts anderes als die tragische Folge dieser künstlerischen Auseinandersetzung." (Gerth-Wolfgang Baruch, Konzertführer, Frankfurt/M. und Hamburg 1960, S. 76) Was soll das heißen, er "verfing" sich darin? Nein, er setzte sich damit auseinander und das führte zu Ergebnissen, man könnte sagen: zu Zwischenergebnissen, die von Brahms aufgegriffen und zuendegedacht wurden. Jedenfalls von seiner vierten Symphonie kann das gesagt werden, die in der Entstehungsreihenfolge seine zweite war. Hier glaubte er experimentieren zu dürfen, nachdem er mit seiner Ersten Erfolg gehabt hatte, doch das Publikum folgte ihm nicht. Was Schumann wagte, beschreibt Baruch so (S. 82):

"Dass [...] die Regeln des klassischen Sonatenhauptsatzes missachtet werden, musste damals das Publikum schockieren. Nach einer etwas pathetischen Einleitung beginnt Schumann ganz normal mit der Exposition. Wie üblich stellt er ein Hauptthema auf - eine springlebendige Sechzehntelfigur aus abwechselnd gebundenen und gestoßenen Noten. Aber dann streift er die Fesseln der Schablone ab. Das Seitenthema ist kein neuer Gedanke, sondern wird aus der Arabeske des Hauptthemas gewonnen. Die Durchführung folgt an der richtigen Stelle. Doch existiert keine Reprise. Auch die Coda entfällt. Der jubelnde Schluss des ersten Satzes baut sich auf der kurzen Melodie auf, welche die ersten Geigen in die Durchführung einfügen."

Das heißt also, Schumann geht nicht axiomatisch subsumierend vor, derart dass er ein oder zwei Themen / Motivreihen setzt und daraus Figuren und Verläufe ableitet, von denen jede(r) sich unmittelbar auf den Anfang zurückbezieht, indem er ihn umwandelt, zerlegt, verdichtet und so weiter - und weil die axiomatische Bindung im "Durchführungs"-Abschnitt doch immer unkenntlicher wird, folgt ihm sicherheitshalber, oft auch erleichtert, ja auftrumpfend die "Reprise" als wörtliche Wiederholung des ersten Themas -, sondern was nach einer ersten Umwandlung kommt, ist die Umwandlung der Umwandlung und so geht es weiter, entfernt sich der musikalische Verlauf vom Anfang, statt zu ihm zurückzukehren. "Das Seitenthema ist kein neuer Gedanke, sondern wird aus der Arabeske des Hauptthemas gewonnen": Man kann das auch so ausdrücken, dass aus dem Thema ein anderes Thema gewonnen wird, wobei ein Randaspekt, die Arabeske, als gleichsam unfreiwillige Brücke herhalten musste. Das ist wie beim Sprechen, wenn auf eine Frage geantwortet, die Antwort zur neuen Frage wird und sich ein Gedanke immer aus dem vorausgegangenen ergibt, weshalb man denn auch von "musikalischer Prosa" spricht, allerdings nicht schon bei Schumann, sondern erst bei Brahms.

Brahms hat aus den Ansätzen bei Schumann eine Methode gemacht, eben die "entwickelnde Variation". Er war allerdings vorsichtig genug, das Publikum nicht mit Regelbrüchen zu erschrecken. Über seine Verfahren in der vierten Symphonie schreibt Anselm Cybinski im Programmheft, sie könnten

"als 'entwickelnde Variationen' im Sinne Arnold Schönbergs", der den Begriff prägte, "gelten, weil sie stets den Formprozess vorantreiben - mit der logischen Folge, dass den einzelnen Abschnitten nun ganz neue Bedeutungen zuwachsen. So beginnt die Durchführung als Scheinreprise in der Grundtonart e-moll. Und anstatt sich als energiegeladener Kulminationspunkt der Durchführung zu präsentieren, zieht sich der Repriseneintritt in eine fast bewegungslose Stille zurück. Der dramatische Höhepunkt des Satzes fällt auf den Beginn der Coda - er erscheint somit als Resultat der gesamten Entwicklung."

Das heißt, die Reprise ist nicht mehr, was sie mal war, keine bloße Wiederholung, ihren Wegfall aber hat Brahms sich nicht erlaubt. Sein permanentes Variieren hält immer auch die Beziehung zur überlieferten und noch geltenden Form aufrecht, der Sonatenhauptsatzform, beschränkt sich darauf, sie gleichsam nur zu überlagern, oder gibt sich die Miene, weiter nichts als das zu tun. In Brahms einen Kandidaten der Irrenanstalt zu sehen, wäre niemandem eingefallen. Aber es war trotzdem revolutionär, was er tat. Denn so zur Methode verdichtet, konnte dieses Komponieren in späterer Zeit von den tradierten Formen doch wieder und nun viel radikaler abgezogen werden, als selbst Schumann es gewagt hätte. Schönberg hat damit begonnen.

Ich habe mir das Konzert mit den vierten Symphonien von Schumann und Brahms am Sonntag angehört. Besonders wie die Schumann-Symphonie dargeboten wurde, war aufregend. So viel Lebendigkeit, so viel komplexe Details auch, deren Komplexität man gar nicht immer zu hören bekommt, hier aber hören konnte - ich dachte, von da bis zur Rücksichtslosigkeit von Schumanns Klavierwerken sind es doch nur ein paar Schritte. Was soll ich sagen, der Perfektionsgrad der Philharmoniker ist einfach unglaublich. Das ganze Publikum sah es so und spendete nicht nur dem Dirigenten, sondern auch einen Instrumentalisten, der bei Brahms eine Solopassage hat, oder einer Instrumentengruppe den lautesten Beifall. Dieses Orchester erscheint geradezu selbst als Kunstwerk, so dass man geneigt ist, es mit anderen ebenso perfekten Orchestern zu vergleichen und in der Abweichung der Spielweisen einen intertextuellen "Sinn" zu suchen. Tatsächlich erinnere ich mich, dass ich als Gymnasiast an einem Schülergespräch mit Karl Böhm teilnahm, dem berühmten Dirigenten, der in Wien wie in Berlin dirigierte, und ihn fragte, ob die Wiener Philharmoniker anders als die Berliner spielten. Das sei eine kluge Frage, sagte er, und ich Idiot habe mir natürlich nur diesen Satz eingeprägt, nicht was er dann geantwortet hat.

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Dass Brahms trotz allem auf die Einhaltung der Sonatenhauptsatzform achtete, war nicht nur Vorsicht, auch nicht nur konservative Haltung - ich bin schon mehrmals darauf zu sprechen gekommen, dass es ein Gesetz der Musikgeschichte zu sein scheint, dass radikale Vorstöße, die sich vom Tradierten und noch Geltenden vollkommen oder jedenfalls so weit wie möglich abwenden, in einem zweiten Schritt durch den Rückblick aufs Verlassene und dessen Einbezug korrigiert zu werden pflegen; dass das Neue dadurch erst seine Nachhaltigkeit gewinnt. Damit dürfte es zusammenhängen, dass gerade die ganz Großen, Bach, Haydn, Brahms, intensive musikgeschichtliche Studien betrieben haben, was ihrer Musik dann auch anzuhören ist. "Bach und Händel, Schütz und der A-cappella-Stil des 16. Jahrhunderts, die kontrapunktischen Kunststücke der alten Niederländer und die mittelalterlichen Kirchentonarten haben seine schöpferische Phantasie angeregt", lesen wir über Brahms (Baruch S. 48). Die Folge war eben nicht, dass er zu solchen Vergangenheiten zurückkehrte, sondern ganz anders: Die zu Brahms' Zeit neuartige Romantik hören wir uns in seiner Version noch heute an und tun es immer wieder, während Schumanns Symphonien doch seltener im Konzertsaal begegnen.

Die Frage, ob und wie nach einem radikalen Vorstoß das Ältere wieder einzubeziehen ist, hat sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg gestellt. Pierre Boulez, Hauptvertreter der "seriellen Musik", hat mit der Tradition gänzlich brechen wollen. Später wurde immer wieder der Dogmatismus dieser Kompositionsmethode beklagt und es folgte eine Komponistengeneration, die teils die Regeln mit Ansage brach, teils mehr oder weniger zur Tonalität zurückkehrte, teils die ältere tonale Musik, ihre Themen oder bloß ihre Gesten, verfremdet zitierte. Bis heute wird dieser Vorgang diskutiert, als sei er bloß ein Abfall von den Dogmatikern, eine pure Befreiung - dabei mag es doch auch hier darum gehen, dass ein radikaler Vorstoß gerade nicht zurückgenommen wird, sondern man im Gegenteil auf verschiedenen Wegen versucht, ihn nachhaltig zu machen. Diese Verwirrung, wenn es eine ist, wäre aber nicht erstaunlich, denn um diskutiert werden zu können, müsste es den wirklich überzeugenden Rückgriff und Einbau des Älteren von der Art, wie Haydn es mit Bach hielt, ja erst einmal geben, und das ist wohl letztlich noch nicht der Fall.

Der 1969 geborene Enno Poppe versucht ihn von Neuem und sein Weg scheint erfolgversprechend. In seiner 80minütigen Komposition Speicher I-VI sind alle Elemente der aktuellen Musik enthalten und verarbeitet. Diffizile Rhythmik und eine reiche Farbenpalette, mit der kein Ölschinken gemalt wird, sondern ein Aquarell: Man hört es mit Begeisterung, zumal manchmal neben ernsten Passagen auch Jazzgesten anklingen. Wenn man auch von Poppe sagen kann, dass er verfremdet zitiert, so doch nur von aktueller tonaler Musik. Die Schlagzeuge sind umfänglich wie heute gewohnt und liefern beides, starke rhythmische Akzente wie ganz unerwartete Tonfarben. Solche werden auch vom Akkordeon und Keybord und, inzwischen schon weniger unerwartet, vom Saxophon hereingetragen. Das Ensemble ist sonst klassisch besetzt, Harfe, Klavier, Streicher, Holz- und Blechbläser. Aber die Art des Zusammenklangs ist es natürlich nicht. Poppe hat sich unter anderem fürs Glissando interessiert. "Bis zu welcher Tonhöhenschwankung ist ein Ton mit Vibrato noch ein Einzelton?", fragt er. Auf so eine Frage muss man erst einmal kommen. "Es gibt ein Kontinuum von Erscheinungen zwischen Vibrato, Portamento, Glissando und mikrotonalen Abweichungen. Nichts davon wird von unserer Musiktheorie erfasst." Solche Übergänge werden in Speicher I-VI vorgeführt, und man hört sie sogar.

Poppe arbeitet mit avancierten konstruktiven Verfahren ("Eine abfallende Reihe, 8-4-2, und eine aufsteigende Reihe, 3-6-12, werden miteinander verschachtelt: 8-3-4-6-2-12") und betont zugleich, er gehe "subversiv gegen meine eigenen Vorgaben an". Das wirklich Aufregende ist aber, dass er auf Brahms' "entwickelnde Variation" zurückgreift - ausdrücklich und mit dem Hinweis, "geschichtslos" könne er sich nicht vorstellen - und zwar derart, dass man es an vielen Stellen unmittelbar hörend mitverfolgen kann. So eine Musik könnte Bestand haben. Sie macht keine Zugeständnisse und ist doch ein unmittelbarer Genuss. Allerdings hat mich die Gesamtform nicht überzeugt. Von den sechs Stücken hatte Poppe zunächst vier geschrieben, die zusammengenommen doch ziemlich wie eine Symphonie in der bekannten Satzreihenfolge gewirkt haben müssen. Dann hat er noch zwei hinzugefügt, weil er die Möglichkeit einer Großform demonstrieren wollte. Nun hat er es tatsächlich erreicht, eine 80minütige Komposition so abwechslungsreich zu gestalten, dass man ihr bis zum Schluss mit nie erlahmender Spannung zuhört. Aber was die Großform angeht, ist sie durch Hinzufügung eines weiteren Scherzos und weiteren langsamen Satzes nur noch klassischer geworden.

Das ist keine Lösung. Was ist mit der Großform gewonnen, wenn sie nicht erneuert wird? Sie müsste sich aus einer neuartigen Ablauftypik ergeben, damit man nicht das Gefühl hat, die Musik sei nur in Äußerlichkeiten über Beethoven hinaus. In dieser Hinsicht wäre Witold Lutoslawski, der große Pole, schon weiter gewesen als es Poppe bisher zu sein scheint, wenn man ihn nämlich nur nach Speicher I-VI beurteilt. Ob diese Stücke für ihn typisch sind, kann ich aber gar nicht beurteilen. Mit seinem Einbezug der "entwickelnden Variation" könnte er jedenfalls auch anders. - Ich bedanke mich wie immer für zwei spannende Festspielwochen.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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