Verbriefte Freiheit

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"Ein Herzog erfährt von seinem Diener, dass seine Frau ihn mit einem anderen Mann betrügt, und bringt daraufhin alle drei um." So die Zusammenfassung der Oper Luci de traditrici, "Meine trügerischen Augen", von Salvarore Sciarrino, die am vergangenen Samstag und Sonntag gegeben wurde. Sciarrino stützt sich auf ein Drama aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, dem seinerseits eine wirkliche Tat zugrunde liegt: "1590 ließ der Renaissance-Komponist Carlo Gesualdo Fürst von Venosa (1566-1613) seine untreue Ehefrau Maria d'Avalos und ihren ebenfalls aristokratischen Liebhaber töten." Was hat d a s mit Utopie tun, dieser alte Stoff, aufgewärmt am Beginn des 21. Jahrhunderts?

Im Anschluss ans Thema meines ersten Eintrags ("'Tonale' Musik") ist es verständlich zu machen. Da ging es darum, wie in der modernen Musik das eigentliche Musikalische, und zuförderst der Ton, in zweifacher Hinsicht befreit und gleichsam zu sich selbst durchgelassen wurde: befreit vom Zwang, konventionelle musikalische Formen tragen zu müssen, die nicht nur musikalischer Logik, sondern auch gesellschaftlicher Herrschafts-Logik entstammen, und befreit vom unausgesprochenen Verbot, die eigene Herkunft verleugnen zu müssen. Denn der Ton, wie wir ihn im Konzertsaal hören, ist eine Sublimation von Naturgeräuschen, darunter nicht zuletzt dem menschlichen Schrei. Sciarrinos 1998 uraufgeführte Oper führt dieses Programm sehr nachvollziehbar aus, gerade indem er eine elementare außermusikalische Herrschaftskonvention auf die Bühne bringt. Er zwingt sie dazu, sich in der befreiten Musiksprache zu artikulieren.

Wenn heute in einem Land wie Deutschland, von Einwanderern einmal abgesehen, eine Frau "einen anderen liebt", wird damit keine Konvention mehr gebrochen. Aber gerade wer das feststellt, muss hinzufügen, dass die Gefühle, die in der Renaissance dem Konventionsbruch folgten, dieselben geblieben sind. Es ist ganz offensichtlich: Die Eifersicht reagiert noch heute auf einen Bruch zwar nicht von Konventionen, aber deshalb doch nicht von nichts. Würde da gar nichts gebrochen, gäbe es auch keine Eifersucht mehr. Hier liegt die Aktualität der Oper, die alles andere als altmodisch ist. Was passiert eigentlich, wenn etwas zerbricht und nicht einmal eine Konvention dadurch verletzt wurde? Da kann ich an meinen gestrigen Eintrag erinnern, in dem es um den Bruch der Liebe zwischen Max Frisch und Ingeborg Bachmann ging oder allgemeiner - man darf das sagen, wenn man mehr von ihr gelesen hat - um die Erfahrung der Dichterin, dass Männer Frauen verlassen. Sie hat es in deutlichen Worten dargestellt: Dann wird die Eifersucht noch schlimmer und dann nehmen die Mordgelüste, mögen sie auch unausgeführt bleiben, eher noch zu. "Ich [...] darf / nicht deinen Tod wünschen", dichtet sie zweideutig, "den ich auch gar nicht wünsche, / oder von meiner Hand", und träumt von der Liebe zum schwarzen Mann, um "Rache" zu "üben an allem, was weiß ist / weiß war, weiß sein wird".

Wenn man wenigstens noch glauben kann, man quäle sich wegen des "Ehebruchs", also wegen eines Vertragsbruchs, einer Konvention, dann kann man die Qual selber in etwas Konventionelles umlügen, oder es wenigstens versuchen, und sie dadurch vielleicht ein wenig mildern. Wenn man aber weiß, Max Frisch oder wie immer er heißen mag hat nur getan, wozu ihm seine verbriefte Freiheit jedes Recht gibt, dann stößt man erst auf die Grenzlinie, die in solchem Geschehen wirklich überschritten wird. Bachmann konnte es zur Sprache bringen, wie gestern zitiert: "Da ich in dir nicht mehr lebe, / und ich schon tot bin, wo bin ich." Nicht ein Vertrag, sondern die Existenz geht hier zu Bruch, es bleibt nur, wie Bachmann fortfährt, "fressen zweimal am Tag, dann / die Notdurft verrichten". Ich aber will unterstreichen, dass es, wie eben formuliert, Max Frischs "verbriefte Freiheit" war, sie der Notdurft zu überlassen. Auch das ist nämlich eine Konvention, und es ist eine, die nicht nur in der Liebe, sondern auf vielen gesellschaftlichen Gebieten zu vielen Zerstörungen berechtigt.

Die Dialoge in Sciarrinos Libretto sind aufs Äußerste verknappt, dadurch verschafft sich der Komponist die Möglichkeit, wirklich die Töne, die einzelnen Töne selbst sprechen zu lassen:

L'OSPITE: Che?
LA MALASPINA: Cosa?
L'OSPITE: Nulla
LA MALASPINA: Niente
L'OSPITE: Ohimè
LA MALASPINA: O Dio!

und so weiter. Die Sänger beginnen immer damit, einen Einzelton anschwellen zu lassen, der dann ausfranst. Die Orchesterbegleitung ist ebenfalls knapp. Es sind Fragmente von irgendetwas, die wohl nicht interpretieren sollen, sondern eher die Außenwelt repräsentieren, soweit sie den gequälten Menschen überhaupt noch interessieren kann, nämlich fast gar nicht. Sie sollte ihn ja interessieren, denn vielleicht ist sie mitschuldig an seiner Qual, und man könnte etwas an ihr zu ändern versuchen. Aber sie tut es nun einmal nicht. Im Bühnenbild wird das vom alles beherrschenden Videobildschirm unterstrichen, auf dem etwas Ähnliches wie ein Twombly-Gemälde erscheint, das sich in Abständen verschiebt und auf dem sich Spuren von Sand abzeichnen, die von dahinter draufgeworfen zu werden scheinen.

In der Mitte der Bühne steht etwas großes Verhülltes, erst in der letzten Szene wird der Vorhang aufgezogen und dann sieht man, es ist ein Himmelbett, in dem der schon ermordete Liebhaber liegt. Dorthin führt der Herzog die Ehebrecherin, reißt ihr über der Brust das Kleid auf und zeigt ihr das Bild ihres eigenen Todes, den sie Kürze erleiden wird. Damit endet die Oper, die von Rebecca Horn inszeniert und von Beat Furrer dirigiert wurde. Das Video hat Dirk Schulz gestaltet. Ein von Furrer komponiertes Musiktheater, in dem wiederum Ingeborg Bachmann-Texte einbezogen sind, wird in der MaerzMusik noch zur Aufführung kommen (Wüstenbuch, am 26., 27. und 28. März).

Auch eine Utopie: Das Verlassen der Erde

Beim "szenischen Konzert" Der Sonne entgegen von Lucia Ronchetti ist es mir ehrlich gesagt kaum gelungen, auf die Musik mit analytischen Ohr zu hören - ich kann nur sagen, dass ich sie großartig fand -, weil mich die Handlung so mitgenommen und auch, ja, empört hat. Das liegt nicht am ebenfalls großartigen Libretto der jungen Dichterin Steffi Hensel. Hensel ist offenbar von Hardt/Negris Bestseller Empire. Die neue Weltordnung wie überhaupt von Negris neueren Schriften sehr eingenommen, weshalb sie einige seiner Kerngedanken zur Bühnenhandlung verdichtet und dabei mehr als üblich zur Kenntlichkeit entstellt. Dafür muss man ihr dankbar sein. Es geht um Migration und die inhumanen Grenzen, die den Betroffenen von den Nationalstaaten in aller Welt gezogen werden; auch die Bewohner der Zufluchtsländer, die sie nicht hereinlassen, ziehen dadurch sich selbst inhumane Grenzen. Negris utopische und sehr unterstützenswerte Antwort darauf ist das "Weltbürgerrecht".

Aber seine Lehre hat noch einen anderen Aspekt, nämlich den, dass er das inhumane Projekt eines anderen Menschenkörpers, also der Abschaffung des jetzt vorhandenen, unterstützt. Wer sich mit diesen Dingen näher beschäftigt hat, weiß, dass es in der Realität nicht um einen anderen Menschenkörper, sondern um den Ersatz des Menschenkörpers durch "künstlicher Intelligenz", das heißt durch Maschinen geht, die deshalb angestrebt werden, weil die Erde aufgegeben, ihrem ökologischen Zusammenbruch überlassen werden soll zugunsten einer "Kolonisierung des Weltalls", in der eben nur noch Maschinen anschlussfähig sind.

Hensels Leistung liegt darin, dass sie den Zusammenhang der beiden Negrischen Postulate zeigt, des Weltbürgerrechts und des anderen Körpers. Sie scheinen ja gar nichts miteinander zu tun zu haben. Aber bei Hensel liest sich das so: Die Antarktis ist kein Eigentum irgendeines Nationalstaates, sondern aller Staaten. Ebenso der Mond einem Vertrag zufolge, der nur noch nicht ratifiziert worden ist. Wenn es in dieser Weise keine nationalstaatlichen Grenzen gäbe, nicht nur in der Antarktis und auf dem Mond, sondern überall, dann könnte ein Weltbürggerecht greifen. Aber nun gibt es die Ökologiekrise, und die Antarktis schmilzt. Was tun? In Hensels Text wird die Frage zuletzt von einer Talkshowrunde diskutiert. Der Moderator sagt: "Die Antarktis verschwindet ja nicht, sie wechselt den Aggregatzustand und verneint das Prinzip des Raumes konsequent, indem sie sich in liquider Form über den ganzen Planeten verteilt." Dies mache Angst, stellen die Diskutanten fest, weil man doch gewohnt sei, in Grenzen zu denken. Also: Weg mit den Grenzen! Und da zeigt sich, die Erde selbst ist eine Grenze:

INTELLEKTUELLER C Der Sonne entgegen.
MODERATOR Setz dir eine Sonnenbrille auf und lächle.
[...] Die Sehnsucht nach dem Paradies
INTELLEKTUELLER B Jenseits des Horizonts
INTELLEKTUELLER C Existiert nicht mehr.
MODERATOR Setzt das Sonnensegel.
ALLE Die Sehnsucht nach dem Paradies jenseits des Horizonts existiert nicht mehr. Diese Sonne brennt der Sonne entgegen.

http://img338.imageshack.us/img338/2789/dersonneentgegen03ckaib.jpg

credit: Kai Bienert

Damit endet das "szenische Konzert". Nun neigt sich bei Hensel, wenn sie die Themen Weltbürgerrecht und Verlassen der Erde derart verknüpft, die Waage doch eher zum Weltbürgerrecht hin. Der allergrößte Teil des Textes stellt das Schicksal der Emigranten und die zwischen Menschen, nicht etwa zwischen Erde und Mond gezogenen Grenzen dar. Was die Antarktis angeht, kann man ja auch eine Anspielung auf den erschreckend sich nähernden Eisberg in Enzensbergers Untergang der Titanic darin sehen. Es ist ein wirklich starker Text, in dessen Mittelpunkt der Turnschuh als Realität und Metapher steht. Der Turnschuh, der sich unweigerlich auflöst, wenn die Weltflüchtlinge umherziehen. Aber was macht nun die Inszenierung daraus? Die "szenische Einrichtung" von Michael von zur Mühlen kann ebenfalls nur brillant genannt werden, womit in einer "Rezension" ja schon alles gesagt sein könnte.

Ja, auch zur Mühlen ist ein großer Künstler. Man begreift schon in der ersten Szene, dass er an ein großes Ereignis in der Geschichte der Avantgardekunst anknüpft, nämlich an die russische Oper Der Tod der Sonne, gegeben kurz vor dem Ersten Weltkrieg, von der Malewitschs Gemälde Schwarzes Quadrat inspiriert wurde (er war als Bühnengestalter beteiligt). Bei zur Mühlen stellen sich die Schauspieler vor einem Video auf, in dem ein großes Sonnensymbol wie unter Schutt begraben erscheint. Sie staunen und überlegen. Sie sehen auch, wie der Schatten eines von elektrischen Stößen zitternden Menschenkörpers durchs Bild läuft. Bald darauf läuft der Körper, man sieht nun, er ist schon maschinisiert, zitternd über die Bühne, und die Schauspieler fangen selbst an zu zittern. Das ist wiederum großartig.

Aber jetzt neigt sich die Waage zur anderen Seite, zum Verlassen der Erde. Aus Hensels Turnschuhen werden bei zur Mühlen anonyme Schuhkartons, die sich die Schauspieler in einer sehr langen Szene Hand für Hand und Reihe für Reihe Reihe zuwerfen, bis sie im Bühnenvordergrund zu einer hohen Mauer aufgeschichtet werden, hinter der die Schauspieler verschwinden. Das ist das Symbol "der Grenze", und, ja, wie soll man das denn verstehen? Werden wir durch Schuhe begrenzt, nicht Turnschuhe, sondern Schuhe überhaupt? Ich verstehe es als den Hinweis, unsere Freiheit sei dadurch eingeschränkt, dass wir immerzu die Erde betreten müssen. Würden wir im Weltall schweben, wären wir freier! Und sobald wir das "erkannt" haben, werden wir uns aufopfern für die n o c h f r e i e r e n "intelligenten" Maschinen, die im Weltall, wie gesagt, viel anschlussfähiger sind als wir.

Da kann ich nicht anders, als an Platons viel gescholtene Kunstkritik zu denken. Man hat immer nur ein reaktionäres Herrschaftsgelüst des Philosophen darin gesehen. Es war aber auch die Intention, zu sagen, dass der Kunst nichts Göttliches innewohnt, nichts, weshalb man sie anbeten müsste; zu sagen, dass sie keine Wahrheit verkündet, die gewöhnlichen Sterblichen unzugänglich ist. Nein, sie kann sich furchtbar irren, und dann werden ihre besonderen Mittel, die wirklich nur ihr zugänglich sind, zur Demagogie.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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