Michael Tilson Thomas dirigiert die Vierte von Charles Ives auf Stereo Super Audio Compact Disc – das muss was sein! Es ist was. Die Konstellation Thomas, San Francisco Symphony Orchestra und SACD war mir schon 2013 durch die Einspielung der West Side Story von Leonard Bernstein bekannt geworden. Ihm gelingt es da, aus einem Werk, das als Musical daherkommt, die symphonische Qualität herauszuholen.
Und SACD macht auch dann noch einen Unterschied, wenn man es auf gewöhnlichen CD-Playern abspielt. Glänzende Voraussetzungen für jene Ives-Symphonie, in der sich Klänge so komplex überlagern, dass sich zunächst kein einzelner Dirigent an die Aufführung herantraute. Für die schon hervorragende Einspielung von 1992 bei DECCA hatte Christoph von Dohnányi einen zweiten Dirigenten herangezogen. Was Thomas allein gelingt, ist noch besser.
Es ist auch als Komposition von Kompositionen bemerkenswert. Die CD enthält auch Ives’ dritte Symphonie und elf Lieder aus Kirchengesangsbüchern. So kann man sich ein Bild machen von Ives’ Werdegang, der von 1874 bis 1954 lebte, und seiner Intention. Als Organist in der Presbyterian Church hatte er begonnen. Seine erste Symphonie (1908), mit der er sein Musikstudium abschloss, war ein Kommentar zur europäischen Musiktradition, zu Schubert, Dvořák und Mendelssohn.
Die zweite (1909) bereits hatte europäische Musik mit US-amerikanischen Liedern aller Art gemischt. Die dritte (1911) konzentriert sich ganz auf Kirchenlieder, was schon ihr Titel The Camp Meeting (eine Erweckungsversammlung) ankündigt. Hier deutet sich an, dass Ives die „Volksmusik“ seiner Nation, der USA, nicht derart in die kompositorischen Strukturen integriert, dass sie in ihnen aufgeht, sie wird vielmehr als äußerlicher Höreindruck wiedergegeben. Alles bewegt sich aber noch in traditionellen Bahnen der Tonalität. Ganz anders die vierte (1925), ein Höhepunkt der symphonischen Literatur. Auch sie trägt Züge von Programmmusik.
Kindheit, Kontrabass, Kirche
Im kurzen ersten Satz fragt Ives in einer Art Rezitativ der Kontrabässe nach dem Was und Warum des Lebens. Die musikalische Faktur ist bereits hochkomplex, man meint, sich in einem großen dunklen Raum zu befinden, in dem sich alles Mögliche zugleich abspielt, nur ein Kirchenchor ist deutlich konturiert. Der Raum bleibt im zweiten Satz, aber nun ist es Tag geworden und wir sind auf einer Eisenbahnfahrt. Was sich hier an verschiedenen Klangfetzen von Straßenmusik dissonant und polyrhythmisch überlagert, immer wieder unterbrochen von leisen Erinnerungsversuchen an die Kindheit in der Kirche, ist unbeschreiblich – man muss es hören und wird begeistert sein. Es ist der Versuch, jene Frage zu beantworten: Wirr und fesselnd ist das Leben, einen Sinn scheint es nicht zu haben.
Der dritte Satz ist eine Orchesterfuge mit Anklängen an Bach und Wagner, die ganz traditionell beginnt, sich dann aber in einer Art Endlosschleife verliert. Was die Musik hier zu ahnen anfängt, wird im Finale ausdrücklich: Das Anfangsrezitativ wird wiederholt, es folgen Bilder des „nunc stans“, der stillstehenden Ewigkeit. Die Gesellschaft, so höre ich das, muss verändert werden (was nicht Ives’ Thema ist), man selbst aber müsste nicht irgendwohin, man wäre immer schon da.
Info
Symphony No. 3, No. 4 San Francisco Symphony & Michael Tilson Thomas Charles Ives (Komponist), SFS media 2019
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