Das hat Folgen

Filmserie Nach zehn Jahren Arbeit ist „La Flor“ nun über 14 Stunden echtes Kinoglück
Ausgabe 30/2019

Wer sich tatsächlich immer noch an Diskussionen über Vorzüge und Nachteile von Kino und Fernsehen beteiligen möchte, kann sich jetzt mit einem interessanten Beitrag wichtigmachen: Serienfilme. Im Kino. Und zwar als Argument gegen die gelobten komplexeren Erzählungen von Qualitätsserien und deren einzigartige Möglichkeit, den Charakteren beim Entwickeln zuzuschauen.

Natürlich wird da wie dort mit zweierlei Maß gemessen, und dass das Serienfernsehen mehr mit dem Fortsetzungsroman des 19. Jahrhunderts zu tun hat als mit dem Kino, sollte auch wieder mal gesagt werden. Wie und ob das Kino sich überhaupt gegen die sogenannte Qualitätsserie im Fernsehen, also im Internet, zur Wehr setzen soll, muss jedoch an anderer Stelle besprochen werden. Hier ist die Rede von einer Serie, die explizit für das Kino geschrieben, produziert und gespielt wurde – und die somit bestens dazu geeignet ist, über das als angespannt betrachtete Verhältnis zwischen den alten Verbündeten Film und Kino nachzudenken.

Freilichtkino oder Handy

Zunächst hängt die Frage, wie man einen Film wahrnimmt, noch immer davon ab, wo und wie man ihn sieht. Am Fernseher, im Programmkino, im Multiplex, am Laptop oder – geht es nach Jeffrey Katzenbergs und Steven Spielbergs jüngster Idee namens Quibi – gar am Mobiltelefon? Was das Blockbusterkino etwa seit Jahrzehnten als Alleinstellungsmerkmal verspricht, ist der Kinobesuch als Event. Doch Kino als Erlebnis kann auch sein, wenn man nicht für zwei Stunden im Saal überwältigt wird, sondern – wie im konkreten Fall – knapp vierzehn. Womit wir bei der Wahrnehmung als Erlebnis in Form der argentinischen Filmserie La Flor angelangt wären.

Denn auch Mariano Llinás’ mehrteiliges Epos macht aus dem Kinobesuch (wieder) ein Erlebnis: Mit jedem Kapitel, das La Flor aufschlägt, erwartet das Publikum eine neue Überraschung. Doch keine auf Plottwists oder plötzliche Heldentode beruhende, sondern eine, die das Zuschauen – und das Zuhören! – selbst zum Thema macht. Die gespannte Erwartungshaltung bei Serien, wie die Erzählung weitergehen wird, bekommt bei Llinás jedenfalls eine völlig neue Ausrichtung.

Nun gibt es Serials im Kino bereits von den frühen, episodischen Stummfilmen eines Louis Feuillade (Fantômas, Les Vampires) bis zu den Sozial- und Liebesstudien von Jacques Rivette (Out 1). Doch im Gegensatz zu den Autoren dieser historischen Kinoserien hat Llinás ganze zehn Jahre an La Flor gearbeitet und mit einem völlig neuen Konzept einen Bogen quer durch die Filmgeschichte gespannt. Gezeigt wird der in sechs Episoden und acht Kapitel gegliederte La Flor meistens in drei Teilen (niemand setzt sich vierzehn Stunden lang ins Kino). Doch egal ob drei Blöcke, sechs Episoden oder acht Kapitel: Die Wirkung ist umwerfend und zählt zum Außergewöhnlichsten, was man seit Jahren ausschließlich im Kino zu sehen bekommen hat.

La Flor beginnt als simpler Horrorfilm. Doch der Schrecken, den die in der argentinischen Wüste ausgegrabene und in ein Labor eingeschleppte Mumie unter den Mitarbeiterinnen verbreitet, pflanzt sich direkt über die Körper der Menschen fort – als bestialisches Virus. Und auch La Flor erweist sich in der Folge als ansteckend. Bereits zu Beginn unterwandert Llinás die gängigen Topoi des Genres, indem er sich diese für sein eigenes Spiel zunutze macht: Schwarze Katzen, ein suspekter Archäologe und eine zur Hilfe herbeigezogene Beschwörerin sorgen weniger für Nervenkitzel als für pure Lust an dieser Konstellation und am Wiedererkennen von Verweisen und Zitaten. Kaum hat man sich darauf eingerichtet, wird man mit dem nächsten Teil in ein Eifersuchtsmelodram katapultiert, in dem ein klassisches Hollywoodmusical mit bestechenden Gesangsnummern aufscheint – und wiederum erste Spuren für die nächsten Episoden gelegt werden.

Mit dem zweiten Kapitel spielt Llinás auch seinen nächsten großen Trumpf aus: ein formidables Schauspielerinnen-Quartett, das in jeder Folge, die sich auf ein anderes klassisches Filmgenre bezieht, auftauchen wird. Aber in einer anderen Rolle. Denn Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa und Laura Paredes spielen in jeder Episode eine andere Figur. Die Wirkung dieser im Grunde so einfachen Idee ist so verstörend wie fantastisch.

Erzählerischer Wildwuchs

Es wäre an dieser Stelle wenig sinnvoll, die weiteren Erzählungen der einzelnen Teile zu verraten, nur so viel: ein Entführungsthriller im Kalten Krieg mit Schauplätzen in Europa und Südamerika, eine Grenzüberschreitung im noch geteilten Berlin (an der Ecke „Fritz-Lang-Straße“!), geheimdienstliche Maulwürfe in London und Brüssel, Referenzen an den französischen Autorenfilm, die Memoiren Casanovas, ein Heimkehrerinnen-Western und nicht zuletzt ein Kostümfilm, in dem die Kostüme buchstäblich zur Enthüllung werden, bilden den labyrinthischen Pfad, an dem Llinás’ Landsmann Borges genauso seine Freude gehabt hätte wie die postmodernen Verwirrspieler Italo Calvino und Umberto Eco. Langsam wachsen sich die gelegten Spuren zu ineinander verwobenen Geschichten aus, mit eigens für Fährtenleser gemachten Wegen, mit so vielen und zugleich keinen Ausgängen. Apropos wachsen: Warum La Flor diesen Titel trägt, zeigt sich, als Llinás, an einer verlassenen Raststätte sitzend, die Erzählstränge seines Films in ein kleines Nozizbuch kritzelt: Wie bei einer Blume wuchern vier Linien nach oben, rundet sich die fünfte zu einer Art von Knolle und bildet die sechste einen Stängel.

Das serielle Erzählen auf der Kinoleinwand – und eben nicht in Form langweiliger Prequels und Sequels – erlebt mit La Flor jedenfalls eine neue, wenngleich einsam aus der Filmlandschaft ragende Blüte.

Info

La Flor Mariano Llinás Argentinien 2018, 808 Minuten

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