Eine Partei zerfleischt sich

SPD Das Rennen um den Vorsitz wird schmutzig, man sträubt sich laut gegen Veränderung. Dabei stünde ein Abstieg mit einem „Weiter so“ zweifelsfrei bevor

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Wer hat noch Luft?
Wer hat noch Luft?

Foto: Christof Stache/AFP via Getty Images

Das Rennen um die Vorstandswahlen der SPD nimmt bemerkenswerte Formen an. Es regt sich Unmut und harsche Kritik an dem zur Stichwahl antretenden Kandidaten-Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans unter den Bundesabgeordneten und anderen Partei-Oberen. Was war geschehen?

Das Duo hatte angekündigt, sie würden im Falle ihrer Wahl die Große Koalition auf den Prüfstand stellen und den Koalitionsvertrag ggf. neu verhandeln. Eigentlich war dies mit der CDU/CSU ursprünglich genau so vereinbart worden. Nämlich, sich in der Mitte der Legislaturperiode noch einmal zusammenzusetzen, um zu klären, was bisher erreicht wurde. Und was die Koalitionspartner in der verbleibenden Zeit noch erreichen möchten oder gar unbedingt noch erreichen wollen. Und auch um festzustellen, ob diese Ziele in der Koalition überhaupt erreichbar wären und man nicht besser daran täte, sich zu trennen.

Schon vergessen? Oder sollte diese Verabredung der SPD lediglich dazu dienen, es der Partei einmal mehr zu ermöglichen, anschließend das bereits Erreichte zu loben, um dann darauf hinzuweisen, was mit diesem Koalitionspartner leider, leider alles nicht durchsetzbar sei? Wir wollen ja gerne, aber wir dürfen ja nicht?

Carsten Schneider, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, verkündet bei der ARD, die große Koalition arbeite gut und die Wähler würden das auch so sehen und unterstützen. Stimmt: Fulminante 15% glauben immer noch unverbrüchlich an die SPD. Ist denn heutzutage der Beweis der völligen Abstinenz jeglichen Realitätsbewusstseins Pflicht für erfolgreiche Politiker?

Martin Schulz scheint nun endgültig in der Berliner Luft angekommen zu sein, sieht das aber anders. Wusste er noch vor einem Jahr: „Wir müssen schonungslos die letzten 20 Jahre aufarbeiten...“, weiß er jetzt, dass Abgeordnete, die für die große Koalition seien, sich nicht mehr trauten, dies in ihren Wahlkreisen auch zu vertreten, weil sie dann Probleme bekämen. Auch er favorisiert angeblich Klara Geywitz & Olaf Scholz. Hat er tatsächlich schon vergessen, dass es nicht zuletzt Olaf Scholz war, der an seinem Sturz im letzten Jahr maßgeblich beteiligt war?

Und wo sieht er denn da ein Problem? Ist es denn heute nicht mehr üblich, dass ein Abgeordneter versucht, seine Wählerschaft von seiner Sichtweise oder auch nur von politischen Notwendigkeiten zu überzeugen? Und wenn ihm dies nicht gelingt, ist es dann nicht mehr seine Pflicht, die mehrheitliche Meinung seines Wahlvolkes auch im Parlament zu vertreten? Nennt man die Abgeordneten nicht genau deshalb auch „Volksvertreter“? Oder fürchten sich diese Abgeordneten eher davor, damit die Elite der Partei zu verstören, was sicherlich keinesfalls der Karriere förderlich wäre? Was für ein Dilemma!

Empörenderweise hatte Saskia Esken in einem Interview auch noch geäußert, dass sie die Grundrente zwar begrüße und für gut hielte, aber dann auch noch darauf hingewiesen, dass diese Grundrente zunächst einmal nur repariere, was die eigene Politik angerichtet hat. Nämlich, dass „wir einen Niedriglohnsektor geschaffen haben, in dem die Beschäftigten keine ausreichende Rente erwirtschaften können.“ Und schon wird einmal mehr das Aussprechen der nicht zu leugnenden Wahrheit zum Skandal.

Auch Niedersachsens Ministerpräsident Weil erregt sich über die „plumpe Schwarz-Weiß-Betrachtungen“ der Saskia Esken. Wie sie die SPD herabwürdige und das bisher Erreichte schlecht mache, ließen bei ihm die „Nackenhaare“ sträuben. Als sei es ihre Aufgabe gewesen, den Niedriglohn auch noch zu loben. Vermutlich ist ihm Saskia Esken einfach zu sozialdemokratisch.

Etwa 90% der Fraktion unterstützen den Vizekanzler. Ist denn den die Wahrheit kritisierenden Abgeordneten und dem Partei-Establishment immer noch nicht klar, was sie in den letzten zwanzig Jahren den Wählern alles zugemutet haben? Oder sind diese Herrschaften etwa auch noch stolz auf ihre brutale Politik, die den Ärmsten der Armen in diesem Land weiter zusetzte?

Der Abgeordnete Axel Schäfer beckmessert, dass sich Eskens selbst demontiere, weil sie mit ihrem zweiten Satz den ersten dementiere.

Was ist denn da los? Nicht richtig zugehört oder den Zusammenhang von Ursache und Wirkung und Gegenmaßnamen zur Wirkung nicht verstanden? So sei es denn hier noch einmal erklärt: Ursache ist der von der SPD forcierte Niedriglohn, die Wirkung sind die für ein Leben jenseits von Hartz IV nicht ausreichenden Renten. Die Gegenmaßnahme ist also die nun neu geschaffene Grundrente. So einfach ist das.

Aber auch diese Grundrente hat ihre allerdings Tücken, hier ein einfaches Beispiel: Verdient jemand 35 Jahre lang nur 80% des Durchschnittslohns, der bei etwa 2.860 Euro brutto im Monat (Stand: 2017) liegt, dann zahlt diese Person von diesem geringen Lohn in 35 Jahren insgesamt 186 000 Euro in die Rentenkasse ein und erhält nun die grandiose Grundrente von 890,- Euro. Ob das zum Leben reicht, ist fraglich. Zumal er – vorausgesetzt der Renteneintritt findet im 65igsten Lebensjahr statt – 82 Jahre alt werden muss, bis er auch nur das eingezahlte Kapital unverzinst wieder ausgezahlt bekommt. Bedauerlicher Weise liegt z.B. die durchschnittliche Lebenserwartung deutscher Männer aber bei 80,64 Jahren. Da wird wohl so mancher dieser oft körperlich hart arbeitenden Niedriglöhner einfach Pech haben. Bedauerlich, aber was soll man da machen? Sterben müssen wir ja alle mal irgendwann.

Ein anderes Beispiel: Nehmen wir einmal an, jemand verdient ebenfalls nicht den Mindestlohn, aber etwas mehr als der Kollege oben. Und nehmen wir weiter an, dieser jemand zahlt in 33 Jahren ebenfalls 186000 Euro ein und hat seinen Renteneintritt ebenfalls im 65. Lebensjahr. Dieser fleißige Mensch hat noch mehr Pech. Er erhält nämlich keine Grundrente, sondern nur – sage und schreibe – 434,-- Euro Rente und darf sich von Hartz IV alimentieren lassen. Auch müsste er 100 Jahre alt werden, bevor er auch nur einen Cent mehr zurück bekommt, als er eingezahlt hat. Tja, selbst schuld. Hätte doch besser z.B. Medizin studieren oder in die Politik gehen sollen.

Die Abgeordneten sind bei der Rente nämlich fein raus: Diese zahlen während ihrer Zeit im Bundestag nämlich überhaupt keine Beiträge an die gesetzliche Rentenversicherung. Das spart schon mal viel Geld. Die Abgeordneten erhalten eine „Altersentschädigung“, die bis zu 67,5% der nicht geringen „Diäten“ betragen kann. Otto Normalverbraucher darf sich hingegen mit einem Rentenniveau Netto vor Steuern mit 46 % bis 2020 begnügen. Dieses „Niveau“ sinkt dann bis zum Jahr 2030 auf 43 %. Allerdings wird bis dahin die Steuer auf diese Renten sukzessive erhöht werden. Auch das ist bereits beschlossen worden.

Mehr kann man der jüngeren und der noch kommende Generation einfach nicht zumuten. Zumal zu erwarten ist, dass Löhne und Gehälter wohl eher sinken als steigen werden. Eigentlich ein Grund mehr, jeden Einwander, also auch die Flüchtlinge mit offenen Armen zu begrüßen. Aber auch in diesem Punkt reagiert die SPD nur mit einem entschiedenen „Sowohl, als auch“ ...

Zurück zu Saskia Esken. Ja, ihr Satz enthält Kritik. Kritik an der eigenen Partei, mit der Ankündigung, diese Ungerechtigkeiten im Falle eines Wahlgewinns abschaffen zu wollen. Ist diese absolut berechtigte Kritik nun nicht mehr in der SPD erwünscht oder gar nicht mehr erlaubt?

Oder rührt die bigotte Kritik der Partei-Spitzen vielleicht eher daher, dass sich der Kandidat Olaf Scholz betroffen fühlen darf, mehr noch, tatsächlich betroffen ist? Aber ist es denn nicht wahr, dass der heutige Vizekanzler Schröders eifrigster Adept war? Ist es denn nicht wahr, dass es Olaf Scholz war, der als Arbeitsminister diese grausame Politik vollzogen hat?

Und ist denn nicht auch wahr, dass dieser Herr Schröder sich über diese Grausamkeiten auch heute noch freut und gern voller Stolz verkündet: „Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt."

Jedenfalls lobt der Fraktion-Vorsitzende Rolf Mützenich die SPD-Arbeit in der Großen Koalition und den Einfluss seiner Partei auf den Haushalt 2020, der erneut die unsägliche „Schwarze Null“ zelebriert: „Wir nehmen diese Aufgabe mit Stolz und Überzeugung an.“ Dieser Haushalt zeichnet sich im Sozialen vor allem dadurch aus, dass die Einkommensgrenze für den Kinderzuschuss entfällt, damit nun auch die allerreichsten Deutschen davon profitieren. Ist doch nur gerecht: Das selbe Geld für alle. So also stellt sich die heutige SPD den sozialen Ausgleich vor.

Noch ein Beispiel aus jüngster Zeit gefällig? Anfang November hatte das Bundesverfassungsgericht in einem rechtskräftigen Urteil festgestellt, dass eine Kürzung, die „... innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt“ bei HartzIV-Empfängern verfassungswidrig sei. Statt nun diesem höchstrichterlichen Urteil zu folgen und umgehend zu veranlassen, dass dieses auch schleunigst umgesetzt wird, ersann das von SPD-Minister Hubertus Heil geleite Ministerium offenbar eine List, dieses Urteil zu umgehen. Erst im „Weisungskonsultationsverfahren“, an dem die kommunalen Spitzenverbände und die Bundesländer beteiligt sind, wurde diese Schummelei großzügiger Weise gestoppt.

Ein Skandal? Aber Nein. Irgendwie muss man diese „faulen Säcke“ doch zur Raison bringen. Es muss doch möglich sein, diese, den Staat ausbeutenden Schmarotzer zur Arbeit im Niedriglohnbereich zu zwingen. Das gilt natürlich auch für die qualifizierten über 55-jährigen, die durch die heute übliche „Umstrukturierung“ ihren Arbeitsplatz verloren haben. Manche sind leider hartnäckig und widerspenstig. Sie haben sich noch nicht aufgegeben. auch wenn sie von der Arbeitsagentur wegen erwiesener Erfolglosigkeit nicht mehr vermittelt werden.

Vielleicht steckt hinter der Kritik der Abgeordneten ja die bereits beschlossene Absicht, sich nach der Wahl erneut in eine Große Koalition oder eine erweiterte, noch größere Koalition zu flüchten? Denn offensichtlich scheint für die Fraktion die Große Koalition „alternativlos“ zu sein. Anscheinend dreht sich den Abgeordneten bei der Nennung des Wortes „Opposition“ der Magen um. Und Opposition, wie ging denn das noch mal? Nach Jahrzehnten nahezu ununterbrochener Regierungsbeteiligung kann man das schon mal vergessen.

Dass sich Esken/Walter-Borjans bei der geradezu bemitleidenswerten Zustimmung, die der Partei z.Z. widerfährt, in realistischer Sichtweise auch dagegen ausgesprochen haben, einen Kanzlerkandidaten zu benennen, steigert natürlich den Ärger .

Allen voran dürfte Olaf Scholz empört sein, auch wenn er klug genug ist, dies nicht verlauten zu lassen. Will er doch nicht nur Vizekanzler sein, sondern sich auch noch mit dem stolzen Titel „Kanzlerkandidat“ schmücken dürfen.

Leider ist aber keinerlei Koalition in Sicht, in der die SPD überhaupt noch gebraucht würde. Es scheint wenig wahrscheinlich, dass sich Christian Lindner und die FDP auf eine Schwarz-Rot-Gelbe Koalition einlassen würde, falls dies zur Mehrheit überhaupt reichte. Lieber stellt Lindner aus der Opposition heraus Forderungen, die seiner Klientel gefallen. Im Übrigen kritisiert er die die Große Koalition nach Herzenslust. Ein Zustand an den man sich leicht und schnell gewöhnen kann.

Die Grünen hingegen rechnen sich gute Chancen aus, möglicherweise mit der Union gleich zu ziehen oder sogar stärkste Fraktion zu werden. Sich in dieser komfortablen Situation vor den Wahlen auf eine Koalition fest zu legen, wäre nun wirklich kontraproduktiv. Und würden sich die Grünen auf eine Koalition mit der CDU/CSU einlassen, würde die SPD ebenfalls nicht mehr gebraucht.

Mit den vermaledeiten Linken will weder die Union, noch die SPD etwas zu tun haben.

Bliebe noch die AFD, mit der sich die SPD keinesfalls verbünden darf, auch wenn man dieser Partei eine nicht geringe Zahl von Wählern zugetrieben hat. Allerdings mehren sich die Stimmen in den sogenannten christlichen Parteien, dass die AFD ja irgendwie doch auch eine bürgerliche Partei sei und man es ja vielleicht doch einmal mit ihr versuchen könnte.

Will oder kann diese Fraktion denn einfach nicht begreifen, dass viele von ihnen ihren komfortablen Sitz verlieren werden, sollte sich die Politik der SPD nicht unverzüglich ändern?

Man kann nur hoffen, keine Cassandra zu sein, wenn man der SPD den selbst verordneten Untergang prophezeit, sollte das Team Olaf Scholz und Klara Geywitz die Vorstandswahl gewinnen. Denn der weitere Abstieg stünde mit ihrem gnadenlosem „Weiter so“ ganz zweifelsfrei bevor.

Die ehemals für die Republik so wertvolle Partei würde Jahrzehnte brauchen, sich von diesem Schlag ins Gesicht der Wählerinnen und Wähler zu erholen. Und es steht sogar zu befürchten, dass die Partei in die absolute Bedeutungslosigkeit versinkt. Es wäre sehr, sehr schade um die SPD.

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