Sie schweigen so schön

Alltagslektüre Mikael Krogerus hält sich an die Empfehlung seiner Mutter und liest "Alice" von Judith Hermann. Dabei merkt er, dass es ganz verschiedene Arten gibt, zu schweigen

Was haben ich gelesen: Alice von Judith Hermann

Seitenzahl: 189

Amazon-Verkaufsrang:31.839

Warum habe ich es gelesen?

Meine Mutter war entsetzt über meine Lobhymne auf Cormac McCarthys Endzeitroman. Wie kann man etwas so Schreckliches so toll finden?, fragte sie mit der Eltern eigenen Besorgtheit. Und verwies mit Nachdruck darauf, dass sie mir doch Alice von Judith Hermann ans Herz gelegt hatte. Meine Mutter arbeitet in einem Hospiz, kennt die Thematik des Buches – des Todes im Allgemeinen, und die Sorgen von Angehörigen im Besonderen – der Tipp kam also aus erster Hand.

Worum geht es?

Um eine Frau, fünf Männer und den Tod. (Hermann hat öfter gesagt: "Das Buch handelt vom Leben.") Das stimmt vielleicht auch. Denn jeder der fünf Männer – Micha, Conrad, Richard, Malte, Raymond – die den Episoden ihre Titel geben, stirbt. Im Zentrum steht die Überlebende, Alice, eine Berlinerin, Mitte dreißig schätze ich, ein bißchen unglücklich, aber nicht zu viel. Am Schluß ist sie am Leben, aber allein.

Was bleibt hängen?

Wer nach 1989 und vor 2000 mal in Berlin gewohnt hat, wer schon einmal mit Kohle heizen musste, wer gern allein nachts durch fremde Städte zieht, wer mehr raucht als er sollte, wer sich dem Leben aussetzt, wer andere und vor allem sich selbst betrügt, wer an die Sehnsucht glaubt, dem gefällt Judith Herrmann. Ihr erstes Buch war, mit Verlaub, eine Sensation. 2003 kam ihr Zweitling Nichts als Gespenster. Es wurde verrissen. Ich fand es grossartig. Weil sie mit mir oder ich mit ihr älter geworden war. Aus Potentialität war nicht, wie von allen erhofft, Aktualität geworden, sondern lediglich Realität. Sie war nicht besser geworden. Nur anders. Jetzt sind wieder sechs Jahre verstrichen. Und das neue Buch? Nun, sie ist sich, wie mein Kollege Ingo Arend sehr treffend beobachtete, treu geblieben. Weil sie nicht anders will. Oder weil sie, ein schlimmer Verdacht, vielleicht auch nicht anders kann.

Gleichbleiben heißt in diesem Fall: noch immer passiert wenig. Die Leute reden kaum – ahnen mehr. Hermann erkennt Details, wo andere nichts sehen. Sie schreibt wirklich sehr schön. Aber so sehr ich Alice mögen wollte, so schwer fiel es mir. Am meisten störten mich diese Hermann-Charaktere, die immer etwas sagen, indem sie schweigen. Wenn Leute sich anschweigen, dann ist das ja entweder belastend oder nichtssagend. Nicht so bei Herrmann, hier zeigen sie einander ihr schönes Schweigen und der Leser denkt: So bin ich auch. Aber so beobachtungsbegabt die Figuren scheinen, so unglaubwürdig erscheint ihr Schweigen. Denn Hermanns Figuren sind eine Elite: jung, gebildet, städtisch. Sie beschreibt eben keine bedrückende Land-Situation, in der Menschen vielleicht tatsächlich keine Worte haben. Sie beschreibt ein Milieu und eine Generation, in dem es eines ausreichend gibt: Worte. Herrmanns Figuren wirken zu affektiert, zu aufgeklärt, man nimmt ihnen das Schweigen nicht ab. Nehmen wir die Geschichte am Anfang: dass diese zwei Frauen, Maja und Alice, sich nichts erzählen, ist nicht bedrückend, sondern konstruiert.

Aber trotzdem gefiel mir etwas an dem Buch. Ich mochte das Kapitel „Malte“. Lange nach dem Selbstmord ihres Onkels Malte sucht Alice dessen einstigen Lebensgefährten Friedrich auf. Sie schweigen sich schön an. Dann übergibt er ihr die Briefe, die Malte und er sich geschrieben hatten. Und dann schreibt Herrmann: „Was immer drin stand – es würde nichts ändern. Aber etwas hinzufügen, einen Ring mehr um eine unkenntliche, beständige Mitte“. Als ich das las, verstand ich plötzlich, was meine Mutter meinte, als sie mir gesagt hatte, das Buch gefalle ihr, weil es nicht geschwätzig sei, sondern eine Meditation im Loslassen, Gelassenbleiben und im Abschiednehmen. Und genau davon handle auch der Tod.

Wie liest es sich?

Judith Hermanns lakonischer, hochkonzentrierter, viel bewunderter Erzählton merkt man die Anstrengung, die es kostet, so zu schreiben, ein wenig an. Auch wahr: Ich las das Buch in einer Nacht durch.

Das typische Zitat:

„Raymond kam zurück, atmete auf diese bestimmte Weise, wie man atmet, wenn man aus dem Wasser kommt, er trocknete sich ab, sah sich noch mal nach der Strecke um, die er geschwommen war.“

Was lese ich als nächstes?
Bartleby, der Schreiber von Herman Melville.

Die Alltagslektüre: In seiner Kolumne unterzieht Freitag-Autor Mikael Krogerus jede Woche ein Buch seinem persönlichen Lese-Check. Zuletzt: Der Begriff des Politischen von Carl Schmitt.

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