Wie war die Schule? „Normal Scheiße“

Meinung Schön, dass Erwachsene – längst aus der Schule – über die Bildungskrise geredet haben. Unsere Autorin hat letztes Jahr Abitur gemacht und findet, dass endlich mal die Betroffenen gefragt werden sollten
Der Weg zur Schule ist selten von Freude begleitet
Der Weg zur Schule ist selten von Freude begleitet

Foto: Michael Gstettenbauer/Imago Images

Im Zuge der anhaltenden Bildungsmisere wird seit Jahren über dieselben Themen diskutiert. Daran wird mit Sicherheit auch der Bildungsgipfel, zu dem die Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) am Dienstag und Mittwoch lud, wenig ändern. Denn die Perspektive der Schüler:innen fällt wie so oft hinten runter, obwohl wir doch die Betroffenen sind. Auch der Bildungsgipfel setzt dieses Schema fort: Eingeladen sind Vertreter:innen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Wo sind die Kinder und Jugendlichen? Erwachsene setzten sich an einen Tisch und entscheiden über Kinder. Nein, für die Kinder. Wie immer.

Es sind die altbekannten Baustellen: Lehrer:innenmangel, Digitalisierung, Chancengleichheit, marode Schulgebäude, Lernrückstände der Corona-Pandemie, Kompetenzgerangel zwischen Bund und Ländern. Sind uns dieselben Punkte wichtig? Wieso fragt niemand nach?

In meinen letzten drei Schuljahren haben mich diese Fragen sehr beschäftigt. Das Gefühl, nicht gesehen zu werden, hat mich nicht mehr losgelassen. Wir spüren, dass wir vergessen werden. Wir merken die Unterfinanzierung. Wir wissen um die Ignoranz, die uns Kindern und Jugendlichen von Politik und Gesellschaft entgegengebracht wird. Den Gipfel dieser Vernachlässigung haben wir erbarmungslos in den letzten drei Jahren Corona-Pandemie erlebt. Es waren die Schulen und Kitas, die Anfang März 2020 als Erste geschlossen wurden. Insgesamt 183 Tage. Kein Wunder, dass es signifikante Lernrückstände, besonders unter den Grundschulkindern, gab und gibt.

Etwa ein Drittel der Viertklässler:innen erfüllt laut IQB-Bildungstrend 2022 die Mindeststandards in Schreiben, Rechnen und Lesen nicht. Die Lernlücken entsprechen in etwa einem halben Schuljahr. Was diese Rückstände für die Kinder im Einzelfall bedeuten, Frustration, Selbstzweifel, Mobbing, wird dabei nicht beleuchtet. Die Empörung gilt nur der fehlenden Leistung und wie diese wieder aufgeholt werden kann. Über Formate, wie Aufholprogramme in den Schulferien, konnte ich nur den Kopf schütteln. Jetzt sollen uns auch noch die Ferien gestrichen werden, dachte ich.

Uns Jugendlichen fehlen schlichtweg zwei Jahre

Neben den entstandenen Lernlücken hatte vor allem das nicht vorhandene soziale Leben Nachhall auf uns Schüler:innen. Zwei Jahre Jugendliche:r oder Kind sein fehlen uns schlichtweg. Lernen, sich als Individuum zu verstehen, mit einer Gruppe zu identifizieren, sich von Erwachsenen abzugrenzen – all diese sozialen Fähigkeiten sind mit den Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen weggebrochen. Die enorme psychische Belastung, die sich im Anstieg von Depressionen und Essstörungen messen lässt, fand nur kurz die Aufmerksamkeit im öffentlichen Diskurs.

Dass heute noch 73 Prozent der Kinder und Jugendliche psychisch belastet sind, wie es die Bundesregierung in einem Bericht im Auftrag der Ministerien für Familie und Gesundheit im Februar bekannt gab, scheint niemanden mehr zu interessieren. Ernst genommen fühle ich mich angesichts dessen nicht. Ebenso wenig ernst zu nehmen ist die Debatte um Leistungsprämien für besonders engagierte Lehrer:innen. Dass von der Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger mehr Geld für Lehrer:innen gefordert wird, ist ein notwendiger Ansatz, aber keine Antwort auf den massiven Lehrer:innenmangel in Deutschland. Zwischen 12.000 und 40.000 Stellen seien unbesetzt, da sind sich Kultusministerien und Lehrerverband uneins.

Egal wie hoch die Zahl wirklich sein mag, diese Masse an Leerstellen führt zu weiterem Unterrichtsausfall, noch größeren Klassen und einer zusätzlichen Belastung der vorhandenen Lehrkräfte – worunter am Ende Lehrer:innen genauso wie wir, die Schüler:innen, leiden. Über einen Block-Ausfall freut man sich natürlich immer, aber während der Abiturzeit über mehrere Wochen keinen Englischunterricht zu haben, weil die Schule keine Vertretung stellen kann, lässt die Freude darüber schnell verblassen. Anstelle dessen kommt dann die Sorge, mit diesem Lernrückstand nicht genug aufs Abitur vorbereitet zu sein.

Die Angst, Anforderungen nicht gerecht zu werden, Leistungen nicht erbringen zu können, nicht gut genug zu sein, habe ich in meinen 13 Jahren Schullaufbahn als wahrscheinlich größte Belastung unter uns Schüler:innen wahrgenommen. Egal ob es sich dabei um unsere oder die Erwartungen der Eltern und der Lehrer:innen handelte. Das System trichtert uns ab der ersten Klasse ein, Leistungsträger:innen zu sein. Wir sollen funktionieren. Über diesen permanenten Druck innerhalb der hierarchischen Struktur, beides übrigens Pfeiler, an die sich in der Praxis gern von Lehrkräften geklammert wird, um der absoluten Überforderung noch irgendetwas entgegenzusetzen, wird oft vergessen zu reden.

Schule ist nicht immer ein sicherer Raum

Das hierarchische Verhältnis zwischen Lehrpersonal und Schüler:innen ist dabei nicht selten Quelle von Diskriminierungs- und Bloßstellungserfahrungen der Kinder und Jugendlichen. Es baut außerdem, zusätzlich zur Abhängigkeit im Sinne der Wissensvermittlung, eine emotional sozial hierarchische Abhängigkeit auf, denn als Schüler:in stehst du unter der ständigen Bewertung der Lehrkraft. Ich möchte nicht ausschließlich das Fehlverhalten von Lehrenden anprangern, vielmehr möchte ich, dass mitgedacht wird, dass die Schule nicht immer ein Schutzraum ist. Das verlangt Berücksichtigung, auch bei solchen Veranstaltungen wie dem Bildungsgipfel.

Zum Punkt der von der Politik viel betonten Digitalisierung: Natürlich ist das wie eine verkehrte Welt, wenn wir Schüler:innen dem Lehrer einen Hotspot einrichten, damit der Unterricht wie geplant weiter laufen kann, wenn das Schul-WLAN mal wieder versagt. Besonders spürte man die Chancenungleichheit, wenn es Kinder gab, die bereits Geräte hatten und damit arbeiten konnten, während andere schlichtweg Pech hatten und keinen von den knapp bestückten Schullaptops mehr abbekamen, so zumindest waren meine Erfahrungen. Wieso bis heute nur ein Bruchteil der fünf Milliarden des Digitalpakts geflossen sind, liegt wohl auch daran, dass diese Gelder von den Schulen selbst beantragt werden müssen.

Der Bildungsforscher und Soziologe Aladin El-Mafaalani malte dazu in der vergangenen Woche im „Presseclub“ das Bild der Schule als ein brennendes Haus. Wenn etwas akute Problembehebung fordere, blieben kaum Kapazitäten, um darüber hinauszudenken. Das kennen wir Schüler:innen genauso gut wie alle Lehrer:innen. Hier werden wir zu Verbündeten. Er beschreibt den Status-Quo unseres Alltags: eines Systems am Limit. Wieso weiter darüber hinweggeschaut wird, ist mir ein Rätsel.

Seht ihr nicht, dass wir aus der Schule stolpern und möglichst nie wieder zurückwollen? Ich bekomme heute noch Angstschweiß, wenn ich zufällig meinen alten Schulweg entlangfahre. Wenn ich meine jüngeren Geschwister frage, wie es bei ihnen momentan in der Schule läuft, einigen wir uns immer auf ein „normal Scheiße“, mehr ist nicht drin. Mehr soll nicht drin sein, aber wie kann das sein? Wann hat das wegignoriert werden ein Ende? Es gibt einiges gutzumachen bei uns Kindern und Jugendlichen. Ein Anfang wären jetzt gleich 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bildung. Und uns Jugendliche endlich zu fragen, was wir vom System Schule wollen.

Mikaela Kühn wohnt in Potsdam und ist derzeit Praktikantin in unserer Redaktion. Danach will sie Journalistin werden oder Tanz studieren

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