Wollten Sie hier lesen, wie es Harvey Weinstein geht? Von ihm? Wäre absurd, oder? Er wird beschuldigt, Dutzende Frauen belästigt, sechs vergewaltigt zu haben. Trägt eine Fußfessel. Wen interessieren seine Befindlichkeiten? Wer würde den schreiben lassen? Wir nicht. Ian Buruma, bis vor einer Woche Chefredakteur der New York Review of Books, auch nicht, sagte er dem Slate Magazine. Jemanden in seinem Blatt schreiben zu lassen, der der Vergewaltigung angeklagt sei, geschweige denn verurteilt: außer Frage.
Doch er hat Jian Ghomeshi schreiben lassen, der in Kanada ein Radiostar war, bis ihn 2014 zahlreiche Frauen der Gewalt beim Sex beschuldigten. Fünf Fälle kamen vor Gericht, Ghomeshi, der von BDSM-Praktiken sprach, wurde freigesprochen. In einem sechsten um Vorwürfe einer Mitarbeiterin unterzeichnete er einen „peace bond“ (ein Jahr Bewährung ohne Schuldeingeständnis) und schrieb öffentlich, keine berufliche Freundschaft oder kreative Atmosphäre entschuldigten sein Verhalten, vor allem, da ein Machtgefälle bestand.
Ghomeshi war berüchtigt. Eine Uni warnte Studentinnen vor Praktika. Um die 20 Frauen erheben Vorwürfe. Sein Text, einer von dreien über Männer, die sexuellen Fehlverhaltens beschuldigt, aber freigesprochen wurden, hat Empörung hervorgerufen. Die larmoyante Klage, kein Star mehr zu sein, dass er sich als Opfer eines Systems beschreibe, in dem Männer durch „Eroberung“ von Frauen soziales Kapital anhäuften, vor allem, dass er die Zahl der Beschuldigungen herunterspiele, die öffentliche Entschuldigung verschweige, wird ihm vorgeworfen.
Buruma quittierte den Job. Wegen der Kritik daran, Ghomeshi eine Plattform gegeben zu haben, zu sagen, er könne nicht alles selber prüfen, auf Druck wichtiger Anzeigenkunden. Der Herausgeber spricht von Fehlern. Es gibt nun einen Zusatz, der die Schwere der Vorwürfe betont. Derweil werden einem designierten Obersten Richter sexuelle Vergehen vorgeworfen. #MeToo-Beschuldigte wie Comedian Louis C.K. versuchen ein Comeback. Die Vehemenz der Kritik ist nachvollziehbar, wo Öffentlichkeit sich vor allem durch Frontenbildung definiert. Dass sie sich dagegen abzudichten droht, das Problem sexueller Gewalt auch durch Verstehen (nicht Entschuldigen!) der Täter zu schärfen, dass die Debatte darum, wer Täter ist, wenn juristische Mittel zur Bestimmung nicht ausreichen, dass die Möglichkeit, das in einem halbwegs „sicheren“ Raum wie der NYRB zu verhandeln, durch den Rücktritt unwahrscheinlicher wird, ist ein Zeichen dafür. Kein gutes.
Kommentare 4
Mal Hand aufs Herz, Mladen Gladić: So lobenswert die unverholene Ehrlichkeit ist, die sich bereits in der Überschrift ausdrückt, als echte manipulative Leistung im Sinne der Zielsetzungen innovativer, seriöser Presseorgane kann es eigentlich nicht gelten, wenn journalist die Absichten seiner Darlegung so unmittelbar erkennbar offenlegt. Vielleicht nehmen Sie noch einen VHS-Kurs in Subtilität.
Na klar, Angeklagte in Schauprozessen sollten nur dann reden dürfen, wenn sicher ist, dass sie sich selbst beschuldigen und nicht etwa verteidigen werden.
Wäre ja auch das Letzte, wenn sich noch jemand gegen unbewiesene Anschuldigungen verteidigen dürfte.
Ein Verstehen von mit Gewalt oder unter Kontrollverlust herbeigeführtem Sex darf es nicht geben.
Einfalt des Moralismus zu dem wir zurückkehren (, seit Grundlagen der Aufklärung als vermeintlich gegessen verstauben, ohne, daß Zeitgeist ihrer noch kundig wäre), aber mithin auch nicht.
Wenn also sagen wir ein Werk oder sonstige Errungenschaft der Erkenntnislehre oder weiterer Konstruktivität von jemandem geschaffen wurde, von dem sich später herausstellt, ein im Gemüt Gestörter -gewesen- zu sein, ist es nicht zugleich folgerichtig, seine profane Erkenntnis zu verwerfen.
Sprich, wenn sich z.B. heurausstellte, daß Immanuel Kant ein sozialer Berserker war (er möge mir die Hypothese verzeihen), wäre es nicht kongruent, sein Werk zu verbrennen, um zu theologischem Moralgespinst zurückzukehren.
Analog zum besprochenen Fall: Solange nicht erwiesen ist, daß Buruma bewußt darauf aus gewesen ist, einen Vergewaltiger zu unterstützen, sollte kein Kind mit dem Bad ausgeschüttet werden. Sonst macht sich die Gesellschaft zu atmosphärischem Abziehbild retardierten Bibelgürtels oder morgenländischer Bigotterie.
Wer sich an besagten Kontext verstaubter Regale noch erinnert, der weiß zugleich warum es kein Zufall ist, daß in frömmelndem Ambiente höchste Kriminalitätsrate, Heuchelei, Kindes- und allgemein sexuellen Mißbrauchs herrscht.
Hinsichtlich der letzten knapp 40 Jahre ist offenkundig, daß didaktische Auffrischung zum Unterschied zwischen Moral und Ethik, und überhaupt zu Beschaffenheit der Letzteren gefragt ist.
Sie als standardisierter Lehrinhalt an Logik und Dekonstruktivismus, würde zusammen mit täglicher Meditationseinheit und individueller Talentförderung an Schulen einen Sockel humanistisch orientierter Gesellschaft verwirklichen.
Den #MeToo-Gedanken Konsequent zu Ende gedacht: Letzten Endes reicht Cybermobbing sowie die Ruinierung der beruflichen Existenz nicht aus. Frei nach dem Prinzip der Sippenhaft müssen auch die gecybermobbt und ruiniert werden, die die Beschuldigten zu Wort kommen lassen.
Wo wir gerade bei dem unbedingt zu unterstützenden Gedanken der Kontaktschuld sind: Laufen Harvey Weinsteins Eltern, Großeltern, Cousinen etc. noch frei herum?