Antarktis hat so wenig Eis wie nie zuvor: Ohne Klimawandel statistisch undenkbar
Klimakrise Bislang galt das Meereis am Nordpol als besonders bedroht. Doch jetzt schlagen Wissenschaftler auch am Südpol Alarm: Ein Grund für die überdurchschnittliche Erhitzung ist der sogenannte Albedo-Effekt
Unter dem Eis kommt das dunkle Wasser zum Vorschein
Foto: Mario Tama/Getty Images
Seit vielen tausend Jahren ist das immer wieder das gleiche Spiel: Am Nordpol scheint derzeit 24 Stunden lang die Sonne, der arktische Sommer strebt seinem Höhepunkt entgegen. Und Sonne bedeutet natürlich, dass viel Energie auf den arktischen Ozean trifft – das Meereis, das hier schwimmt, taut langsam ab. Am Südpol dagegen geht die Sonne derzeit gar nicht auf, es ist 24 Stunden dunkel. Tageslicht gibt es erst Ende September wieder, bis dahin friert das Meereis, das auch hier auf dem Ozean schwimmt, wieder zu, es ist bitterkalt derzeit. Und wenn dann am Nordpol ab November Polarnacht herrscht und dort der Ozean wieder zufriert, beginnen die schwimmenden Eismassen am Südpol wieder zu schmelzen.
Allerdings ist dieses jahrtausendalte Wechselspiel zwischen Tauen und Sch
en und Schmelzen durch den Klimawandel gehörig durcheinander geraten: Neuen Untersuchungen zufolge (nature.com) hat der menschgemachte Treibhauseffekt die Arktis in den vergangenen 50 Jahren fast viermal so stark erwärmt wie die Welt im globalen Durchschnitt, wie Forscher:innen aus Norwegen und Finnland belegen. Sie werteten Temperatur-Datensätze aus, nach denen sich die Arktis in den vergangenen vier Jahrzehnten durchschnittlich um 0,75 Grad erwärmte. Insgesamt ist das also bereits ein Plus von 3 Grad.Ein Grund für die überdurchschnittliche Erhitzung ist der sogenannte Albedo-Effekt: Wie ein Spiegel reflektiert die helle Eisoberfläche Sonnenlicht – und damit auch die Strahlungsenergie. Dort aber, wo das Eis weggetaut ist, kommt die dunklere Wasseroberfläche zum Vorschein. Diese absorbiert die Strahlungsenergie stärker. Sehr helles Eis weist einen Albedo-Wert von 0,8 auf; es werden also 80 Prozent Strahlungsenergie in das Weltall zurückgestrahlt. Wasser besitzt dagegen nur den Albedo-Wert 0,1. Bedeutet: 90 Prozent der Energie gehen in den Ozean.Nordpol eisfreiUnd so erwärmt sich die Arktis immer stärker, was einen immer stärkeren Rückgang des Meereises zur Folge hat. An der Messkurve kann man diese Entwicklung seit Jahren verfolgen. Waren Anfang der 90er Jahre am Ende des arktischen Sommers noch mehr als 7,5 Millionen Quadratkilometer mit Eis bedeckt, so sank die Fläche 2012 auf gerade noch 3,4 Millionen Quadratkilometer. Eine Studie der Universität Cambridge (nature.com) kommt in Zusammenarbeit mit dem britischen National Meteorological Service zu dem Ergebnis, dass der Nordpol bereits im Sommer eisfrei sein könnte. Andere Arbeiten (agupubs.onlinelibrary.wiley.com) hatten dies erst für die 2050er Jahre prognostiziert. Unstrittig ist: Wird die Klimaerhitzung auf global durchschnittlich 1,5 Grad begrenzt, ist ein zeitweise eisfreier Nordpol rund alle 40 Jahre zu erwarten. Bei 2 Grad mehr wird das jedoch schon alle drei bis fünf Jahre der Fall sein.Während die Forscher am Nordpol schon lange Alarm schlagen, galt der Eisbildungsprozess in der Antarktis lange Zeit als stabil. Doch in diesem Jahr scheint alles anders. Das ging schon mit dem Ende des antarktischen Sommers 2023 los: Nie war mehr Eis geschmolzen, im Februar waren lediglich noch 1,8 Millionen Quadratkilometer Meereis übrig (nsidc.org), ein Zehntel der normalen Winterausdehnung. Und während die Messdaten jetzt eigentlich einen kräftigen Anstieg belegen müssten, fehlen zu normalen Jahren gut 3 Millionen Quadratkilometer schwimmendes Eis. „Das, was wir derzeit in der Antarktis sehen, wäre ohne den Klimawandel nur einmal in fünf Millionen Jahren denkbar“, sagt Olaf Eisen, Professor für Glaziologie am Alfred-Wegener-Institut AWI: „Aber er wirkt nun einmal bereits jetzt.“ Noch sei nicht genau verstanden, warum das Meereis Mühe habe, auf den gleichen Stand wie in den früheren Jahren zu kommen. „Sicherlich spielt der wärmere Ozean eine Rolle“, so der Glaziologe. Der Freitag hatte gerade über Rekordtemperaturen im Atlantik und den anderen Ozeanen (freitag.de) berichtet.Für diese These spricht, dass auch das Schmelzen am Nordpol auf Rekord-Talfahrt (nsidc.org) ist: Die Kurve bewegt sich am bislang absoluten Tief aus dem Jahr 2012, als Ende September nur noch halb so viel Meereis wie im Mittel der Jahre 1981 bis 2010 übrig war. „Sicherlich wird auch El Niño Einflüsse auf das Geschehen in der Antarktis haben“, sagt Professor Eisen. Das Wetterphänomen, das in unregelmäßigen Abständen alle paar Jahre zu veränderten Meeresströmungen im äquatorialen Pazifiks führt, entwickelt sich gerade. Allerdings könne man El Niños Einflüsse – Hunger, Dürre, Flut und Hitze sind oft Begleiterscheinungen für den Menschen – „erst im Nachhinein erforschen“, so Eisen.Antarktischer Schelfeis-Gürtel: Büchse der PandoraWarum uns die Eismassen an Nord- und Südpol interessieren sollten? Zunächst: Weil sie unser Wetter bestimmen – über den Jetsream (spektrum.de), einen Höhenwind, der Hoch- und Tiefdruckgebiete von West nach Ost über die Nord- beziehungsweise ein anderer über die Südhalbkugel bläst. Angetrieben werden diese Winde von der Temperaturdifferenz der Pole zu den Tropen. Weil es am Nordpol aber immer wärmer wird, verliert dieser Jetstream seine Kraft und bewegt sich nicht mehr in den gewohnten Wellenbewegungen über die Nordhalbkugel. Aktuell ist es in der russischen Barentssee wärmer als in Mitteleuropa und das wird wegen des „lahmem“ Jetstreams auch noch bis Mitte August so bleiben, prognostizieren Meteorologen (focus.de). Vergleichsweise harmlos, zu anderen Hitzeanomalien: So schreiben Meteorologen die Trockenheit im Frühjahr 2018, die Hitze im Sommer 2019 und das Hochwasser an Ahr und Erft 2021 dem lahmenden Jetstream zu.Zweitens leben unter dem Meereis zahlreiche Arten, die direkt vom Eis abhängen, verschiedene Einzeller, Schnecken, kleine Krebse oder die Larven des Krills: Diese garnelenförmigen Krebstierchen sind unerlässlich für das Nahrungsnetz der Ozeane. Weniger Eis bedeutet weniger Krill, bedeutet weniger Nahrung für andere Organismen: Die Organisation „SOS Rescate Fauna Marina“ betrauerte in sozialen Medien geschätzt mehr als 5.000 verendete Magellan-Pinguine, die an die Küste in Uruguay angespült worden waren. Die Tiere hätten wegen Fischmangels im Meer nicht genug Nahrung gehabt und seien wegen fehlender Fettreserven sie unterkühlt gewesen.Placeholder image-1Drittens treibt der jährliche Zyklus von Schmelzen und Gefrieren wichtige Meeresströmungen an und versorgt so die Ökosysteme der Ozeane auf der ganzen Welt mit Nährstoffen und Energie – im Norden ist es etwa der Golfstrom, im Süden die Antarktische Umwälzzirkulation (awi.de). Eine Studie der University of Southampton (nature.com) legt nun nahe, dass die Antarktische Umwälzzirkulation bereits jetzt schwächelt, bis Mitte des Jahrhunderts könnte sie 40 Prozent ihrer Kraft einbüßen. Solche Warnungen gibt es auch für den Golfstrom (spektrum.de), der wie ein Wärmeband Europa mit Energie versorgt.Und dann ist da noch die Büchse der Pandora, vor der die Wissenschaft eindringlich warnt: Das Antarktische Festland ist von Gletschern bedeckt, die zum Wasser hin von einem Schelfeis-Gürtel festgehalten werden. „Dieses Schelfeis verhindert, dass die Gletscher in die Ozeane fließen“, sagt Glaziologe Eisen. Wenn die Ozeane aber zu warm sind und sich nicht mehr genügend schwimmendes Meereis bilden kann: Was wird dann aus den Gletschern der Antarktis? Olaf Eisen: „Allein wenn der Westantarktische Eisschild schmilzt, steigt der Meeresspiegel um drei bis fünf Meter“.Emden liegt ein Meter hoch.