Die Daten seien „äußerst ungewöhnlich“, „besorgniserregend“, „erschreckend“ oder einfach „jenseits“ – so reagierten renommierte Klimawissenschaftler auf den starken Anstieg der Oberflächentemperaturen im Nordatlantik in den vergangenen drei Monaten. Als im April die ersten Temperaturdaten im Nordatlantik verzeichnet wurden, die krass über dem langjährigen Durchschnitt und den bisher gemessenen Extremwerten lagen, bestand noch Hoffnung, dass es sich um eine vorübergehende Erscheinung handeln würde. Im Mai jedoch war die Durchschnittstemperatur in der Region so hoch wie seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1850 nicht mehr. Am 12. Juni sorgte der Klimatologe Brian McNoldy für schockierte Reakt
El-Niño heizt die Erde auf: Freak-Ereignis oder neue Normalität?
Klimakrise So warm war der Atlantik überhaupt noch nie: Klimawissenschaftler:innen sind sich weltweit uneins, welche Gründe hinter der Erwärmung liegen. Welche Folgen haben die warmen Ozeane fürs Wetter und den Amazonas?

Klimakrise und das Phänomen El Niño. Da kann man ganz schön ins schwitzen kommen
Illustration: der Freitag
aktionen auf Twitter, als er seine Berechnung veröffentlichte, dass die Wahrscheinlichkeit derart hoher Temperaturwerte auf der Grundlage früherer Daten 1:256.000 betrage.Doch es geht nicht nur um die Erwärmung des Nordatlantiks: Seit April scheint auch das jahreszeitliche Muster des antarktischen Seeeisschildes gehörig aus dem Takt gekommen zu sein. Die globale Meereisfläche ist diese Jahr um mehr als eine Million Quadratkilometer unter den bisherigen Tiefstand gesunken.„Vor einigen Jahrzehnten dachten viele, der Klimawandel sei ein relativ langsames Phänomen: Jetzt erleben wir, dass sich unser Klima in einem erschreckend hohen Tempo verändert“, sagt Professor Peter Stott, der bei dem britischen staatlichen Wetterdienst Met Office das Team für Klimamonitoring leitet. „Wenn sich nun in der zweiten Jahreshälfte auch noch das El-Niño-Phänomen aufbaut und die negativen Folgen der vom Menschen verursachten Erderwärmung noch verstärkt, werden Millionen Menschen auf dem ganzen Planeten und viele verschiedene Ökosysteme vor außergewöhnliche Herausforderungen gestellt werden und leider auch stark in Mitleidenschaft gezogen.“Schwarzer Schwan im Ozean?El Niño bezeichnet ein Wetterphänomen, bei dem ungewöhnliche, veränderte Meeresströmungen im äquatorialen Pazifik auftreten. So etwas tritt in unregelmäßigen Abständen von durchschnittlich vier Jahren auf: Dann schwächen sich die normalen Passatwinde aus dem Osten ab, der kalte Humboldtstrom kommt zum Erliegen und das Oberflächenwasser vor der Küste Perus erwärmt sich so stark, dass die obere Wasserschicht nicht mehr mit dem kühlen und nährstoffreichen Tiefenwasser durchmischt wird. Das führt dazu, dass dort das Plankton abstirbt, was zum Zusammenbruch ganzer Nahrungsketten führt. Der Name des Wetterphänomens leitet sich von „El Niño de Navidad“ ab, also dem neugeborenen Christuskind, weil peruanische Fischer bemerkten, dass sie wegen der Erwärmung des Meeres vor ihren Küsten um die Weihnachtszeit auf einmal viel weniger Fang erzielen konnten: Die Fischschwärme blieben einfach weg.Dazu kommt, dass die zusätzliche Energie im Ozean heftigere Stürme als üblich, zerstörerischere Regenfälle und längere, heißere Hitzewellen mit sich bringen kann.All diese derzeit verzeichneten Anomalien veranlassten einige Beobachter:innen zu der Frage, ob sich im Klimasystem gerade etwas Unvorhergesehenes – eine Art Freak-Ereignis, ein schwarzer Schwan – ereigne. Nüchterne Analysten aber stellten dem die einfachere Erklärung entgegen, dass die Temperaturen die Folge von El Niño und anderen natürlichen Faktoren seien, die aber durch die vom Menschen verursachten Treibhausgasemissionen verstärkt werden.Michael Mann, Professor an der Universität von Pennsylvania, warnte davor, sich einige wenige Daten einer Region über einen relativ kurzen Zeitraum „herauszupicken“. Es sei wichtiger, sich auf das Gesamtbild zu konzentrieren: Die Verbrennung fossiler Brennstoffe führe zu stärkeren und zerstörerischen Wirbelstürmen, zugleich gebe sie Energie an die Atmosphäre ab, die extreme Wetterereignisse wie Dürren, Hitzewellen, Waldbrände und Überschwemmungen verursache. „Wir müssen einen Schritt zurücktreten und uns das Gesamtbild ansehen. Und das ist alarmierend. Die Wahrheit“, so Mann, „ist schlimm genug.“Placeholder image-1Katharine Hayhoe, leitende Wissenschaftlerin der Naturschutzorganisation Nature Conservancy und Professorin an der Texas Tech University, schätzt, dass die Temperaturanomalie im Nordatlantik das Ergebnis einer langfristigen Belastung des Klimasystems mit 380 Zeta-Joule zusätzlicher Wärme aus den menschlichen Emissionen ist. „Fast 90 Prozent davon sind in den Ozean geflossen: Es ist diese allmähliche, aber unaufhaltsame Befüllung des Wärmespeichers der Ozeane über Zeiträume von Jahrzehnten, die uns Klimawissenschaftlern am meisten Sorgen bereitet.“In Irland und Großbritannien sind die Küstengewässer derzeit um mehrere Grad wärmer als im langjährigen Mittel für diese Jahreszeit. Im Atlantik bilden sich jetzt früher als sonst Stürme, was mit ziemlicher Sicherheit auf die zusätzliche Energie zurückzuführen ist, die sich in der Oberflächenschicht des Ozeans aufbaut. Zum ersten Mal gab es im Juni dieses Jahres gleichzeitig zwei tropische Stürme im Atlantik, Bret und Cindy.Richard Betts, Leiter der Abteilung für Klimaauswirkungen am Hadley Centre des Met Office in Exeter, sieht den Ausschlag im Nordatlantik jedoch nicht als einmaliges Ereignis an: „Wir können davon ausgehen, dass diese Art von Ereignissen häufiger auftreten wird – was natürlich Grund zur Sorge ist. Für mich sind diese Temperaturkurven wie ein Weckruf, der die Dringlichkeit der Klimasituation, in der wir uns befinden, verdeutlicht.“Während die menschlichen Emissionen und El Niño wahrscheinlich die beiden Hauptursachen für den Temperaturanstieg im Nordatlantik sind, sagte Zeke Hausfather, Klimawissenschaftler am Breakthrough Institute, dass mehr Zeit benötigt werde, um andere mögliche Ursachen zu identifizieren: zum Beispiel die in diesem Jahr ungewöhnlich niedrige Staubkonzentration in der Sahara, oder die große Menge an Wasserdampf in der Stratosphäre, die Verlangsamung der Ozeanzirkulation oder die zunehmende Häufigkeit von El-Niño-Ereignissen.Im Großen und Ganzen, so Hausfather, stimmten die Trends mit den Klimamodellen des Weltklimarats Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) überein, die zeigen, dass sich die Erwärmung in den kommenden Jahrzehnten beschleunigen wird, wenn die Emissionen nicht reduziert werden. „Ich würde nicht sagen, dass es schlimmer ist als befürchtet, denn was wir in einer Welt erwarten, in der wir die Emissionen nicht reduzieren, ist schon schlimm genug.“Sogar Oberndorf schwitztWie viel schlimmer die Lage wird, hängt von der Intensität und Dauer des derzeitigen El Niño ab. Carlos Nobre, einer der führenden Klimawissenschaftler Brasiliens, sagt, es bestehe eine 60-prozentige Chance, dass der diesjährige El Niño stark ausfallen werde. Dies wäre „sehr besorgniserregend“ für den Amazonas-Regenwald, der schon in den Jahren 2015 und 2016 extrem darunter litt, als El Niño die Trockenzeit verlängerte und die Vegetation anfälliger für Brände machte.Auch anderswo auf der Welt sorgt der jüngste El Niño bereits für Unheil. In Mexiko verzeichneten mehrere Städte, darunter Chihuahua, Nuevo Laredo und Monclova, kürzlich Rekorde für die heißesten Tage aller Zeiten. In vielen texanischen Städten herrschen die schlimmsten Hitzewellen aller Zeiten. Das Gleiche gilt für China, wo mehr als 20 Städte, darunter Shandong, Tianjin und Huairou, neue Höchstwerte verzeichneten. In Europa schwitzte die österreichische Stadt Oberndorf bei einer Mitternachtstemperatur von 36,1 Grad Celsius, einer der höchsten nächtlichen Temperaturen auf dem Kontinent überhaupt. Im Nahen Osten sind die Menschen an Hitze gewöhnt, können aber normalerweise in großen Höhen mit einer gewissen Erholung rechnen. Das war im Iran zuletzt nicht der Fall, als die Temperatur in Saravan 45 Grad erreichte – einer der heißesten Tage, die jemals in einer Höhe von mehr als 1.000 Metern gemessen wurden.Placeholder image-2Wie genau sich die derzeitigen Wetterlagen entwickelt, ist noch ungewiss. Erst in ein paar Monaten werden wir wissen, wie stark El Niño wirklich wird. Seine windabschwächende Wirkung könnte die Bildung von Stürmen verhindern und dazu beitragen, den Druck der Meeresspiegeltemperatur auszugleichen. Die Hitzespitze im Nordatlantik könnte auch wieder abklingen.Unter Wissenschaftlern besteht jedoch kein Zweifel daran, dass derartige Entwicklungen mit dem fortschreitenden Klimawandel – und zusätzlichen Emissionen – zunehmen werden. „Das Ganze macht mich traurig und ängstlich“, sagt Peter Stott vom britischen Met Office. „Traurig über das Ausmaß der Umweltzerstörung auf der ganzen Welt, einschließlich der fortschreitenden Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes. Und ich sorge mich darüber, wie die Menschen damit zurechtkommen werden, wenn das noch länger so weitergeht. Das ist keine sichere und nachhaltige Zukunft, auf die man sich freuen kann. Ich hoffe immer noch, dass wir einen Wendepunkt erreichen, sodass die Treibhausgasemissionen rasch zu sinken beginnen. Ich bin mir sicher, dass wir das ohne Einbußen bei der Lebensqualität schaffen können, ganz im Gegenteil.“