Das Unbewusste ist der Konkurs der anderen

Buch "Erzählende Affen" Samira El Ouassil und Friedemann Karig haben ein Buch über den „Homo narrans“ geschrieben. Überflüssiges Buch zum Hype oder überfällige Anleitung zur Notwehr?

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Der Mensch ist verstrickt in Geschichten, er erzählt Geschichten, es gibt für ihn kein Entkommen aus Geschichten, er ist Narrator by nature. Der Verzicht auf Geschichten führt nicht zu einem asketischen Denken der reinen Vernunft, denn das wäre auch nur eine Geschichte, eine Lügengeschichte dazu. Außerdem stärkt erzählerische Entsagung nur die narrative Hegemonie der anderen.

Aber ist das so? Ein erster Einwand, der sich fast von selbst formuliert: Plötzlich soll alles Geschichte sein. Bzw. Narrativ, weil’s besser klingt und einem die vom Leib hält, die nicht wissen, was ein „Narrativ“ ist. Ist „Narrativ“ nicht das Signalwort eines Milieus, das … (setzen Sie hier eine pfiffige Fleischhauer-Demaskierung Ihrer Wahl ein) … und stöhnen Sie aber ruhig auch aufrichtig auf: Ja, Narrative, Framings, Spins, Deep Stories, die alles Darüberliegende, nicht so Deepe lenken und steuern - es kommt halt doch ein wenig dicke, und Modewörter haben nun mal die Angewohnheit auszuleiern und desto weniger zu meinen, je öfter sie gebraucht (und daher auch missbraucht) werden.

Aber habe ich mich da nicht bereits verheddert? Bin ich nicht schon gleich zu Beginn in ein narratives Spin(nen)-Netz geraten, das ich nicht selbst ausgelegt habe, sei‘s aus Bequemlichkeit oder aus eingebildeter erzählerischer Alternativlosigkeit?

Am Anfang ist die Anfangslosigkeit

Fragen über Fragen also mal wieder, und daher erst mal alles auf Anfang, am besten auf meinen eigenen, der sollte mir ja einigermaßen vertraut sein. Aber da geht es schon los (eben, weil ich nicht weiß, was wo losgeht). War ich von Beginn an ein Homo laber? Oder war ich seit Angedenken nur mittendrin und nur dabei, und also allenfalls eine Demoversion meiner selbst, komplett deutungsunfähig? Erst mal – hey – Objekt unbeeinflussbarer Umstände, bevor ich Subjekt werden konnte? Die ersten Erinnerungen ans Kleinkind, aus dem ich hervorging, sind allenfalls schemenhaft, und vielleicht noch nicht mal das. Sie könnten auch von einer wohlmeinenden Mutter nachgereicht sein, vielleicht sogar in guter Absicht erfunden – bzw. zurechtgepimpt. Oder es ging mit meinen Früherlebnissen wie mit Troja, d.h. im Laufe der Zeit überlagerten sich mehre Erzählschichten übereinander, weil bei jeder Wiederholung mal was weggelassen oder hinzugefügt wurde, und so wurde irgendwann die herzige, niedlichkeitsbezeugende, gewissermaßen flurbereinigte Anekdote draus, die mich fortan dazu verurteilte, in ihr meine Vergangenheit zu sehen. Noch nicht eigen, aber schon enteignet, wie man mal zielführend kalauern könnte.

Die erste von mir selbst beglaubigte Erinnerung ist mein erster Lachanfall (Hörfehler meiner Urgroßmutter mütterlicherseits). Aber auch hier bin ich mir nicht sicher; denn ich erinnere mich natürlich nicht an meinen ersten Lachanfall, sondern nur an den ersten, an den ich mich erinnere.

Der Mensch, schließe ich also von mir auf andere, durchläuft sein Leben ohne klares Startsignal. Jeder Anfang ist eine willkürliche Setzung, ein Raub am Davor. (Dem nur deshalb ein Zauber innewohnt, weil alles ihn bedingende weggezaubert wurde und er also die Bürde des Magischen allein tragen muss. (Und deswegen klappt es auch mit den Neujahrsvorsätzen nicht, weil sich das Weggezauberte wie von selbst wieder herbeizaubert und schon wird aus dem Zauber ein Zauder und aus dem Zauder schließlich ein Weiter-so.))

Kurz gesagt, unser aller Leben steht von Beginn an unter dem Verhängnis einer irritierenden Mittendrinhaftigkeit. Mit Peter Sloterdijk zu sagen: „Wenn wir anfangen ... über Dinge dieser Welt zu reden, so beginnen unsere Sätze … nachzüglerisch“.

Zum Glück gibt es Jacques Lacan, den man, fürs Thema stark verkürzt, als psychoanalytischen Ausleuchter unserer Anfangslosigkeit sehen könne. Für ihn ist der Mensch ein von Kindesbeinen an in Narrativität verwickeltes Wesen, welches diesem Erkenntnis-Gefängnis nicht entkommen kann. Das Unbewusste ist nicht durch eigene, individualkindliche Verschüttungen entstanden, sondern Sediment eines allgemeinen Sprachflusses, in den wir hineingeboren werden. Ich werde um-sprochen, also bin ich. Ich existiere durch den Zu-spruch, den ich erhalte. Es gibt kein reines Erleben, sondern wir werden hineingeboren in eine symbolische Ordnung, und nur durch sie erlangen wir Zugang zum Reich der Bedeutungen. Wir sind von dem geprägt, von dem bereits unsere Mitmenschen geprägt sind. Wir sind weniger autonomer Sprecher, sondern wie ein Chorleiter, der den ganzen Sprech um uns herum, der zum Sprech in uns wurde, zu leiten versucht. Die Sprache, ich zitiere, ist ein „Danaergeschenk, das uns kolonialisiert“. Und die Danaer sind ja, was das Schenken angeht, ziemlich berüchtigt.

Doch was bringt uns das jetzt?

Dass es französische Vordenker für deutsche Nachdenker und -plapperer gibt, macht es auch nicht besser bzw. ist in der Milieukritik eh mitgedacht: der Bionadesäufer ist erst dann zu Ende typologisiert, wenn er zu allem mindestens sein Foucault-Zitat parat hat. Vom Elfenbeinturm der Universitäten in die sprachlichen gated communities des Besserwissermilieus – wie es eben von seinen Gegnern fiktionalisiert ist. Demnach wäre „Narrativ“ und alles, was sich hintendranklugscheißern lässt, nichts weiter als der lauwarme Shit der rotgrünversifften Lastenradprämienerhoffer, die abends beim Rotweinsaufen nicht wissen, worüber sie parlieren sollen, und also parlieren sie übers Parlieren. Und produzieren die passend abgehobenen Meta-Verse für eine abgehobene Schicht, die ihr Gutseinwollen mangels mitmachender Realität ins Semantische verlegt hat. Und weil aber das unaufhörliche Bemühen um PC, um Cancelungen und Gendern langweilig geworden ist, erweitert die Gutmenschmafia ihren Einflussbereich und schafft sich neue preiswerte Progressivismen – solange diese ausschließlich im Sprachsäuberungsbereich verbleiben. Zwar ließe sich das zu sagende auch ganz handfest sagen – aber dann wäre es genau das: handfest, und genau das will die solcherart fiktionalisierte neue grüne Bürgerlichkeit nicht: manifeste Veränderungen.

Womit wir beim zweiten Vorwurf wären, den man dem Buch (und denjenigen, die ihm mutmaßlich gewogen sind) macht: Dass sich die sog. Diskurslinke nur noch um narratives Gedöns kümmert, statt sich um die handfesten Interessen derer zu sorgen, die aussortiert und oder ausgebeutet werten. Quasi: Klugscheißerismus als linke Variante von Klassismus. Und tatsächlich vermittelt der Eigennutz oft den Eindruck, ohne Erklärungen und Erzählungen auszukommen und von selbst zu laufen. Doch die perfidesten Geschichten, auch das lehrt uns das Buch, sind genau die, die keine sein wollen und daher betont un-narrativ daherkommen.

Unsere Eigennutz-Welt würde nämlich längst nicht so gut funktionieren, wenn sie nicht so viel narrativen Rückenwind hätte. Wenn es nicht entsprechende Anschub-Erzählungen gegeben hätte. Deren vermutlich wirkmächtigste die ist, wonach ein ambitioniert betriebener Eigennutz sich wie durch Zauberhand in Gemeinwohl verwandelt. Nun ist zwar auch die Geschichte dieser „unsichtbaren Hand“ eine, die durchaus in Frage steht, aber das hindert sie erstens nicht daran, trotzdem fortzuwirken (weil es eine funktionale Differenzierung auch innerhalb des Narrativen gibt; ein einmal entfaltetes Erzählmuster bildet Untergeschichten, und die können auch dann weiterexistieren, wenn die Leit-Geschichte es nicht mehr tut), zum zweiten ist das Ende der neoliberalen Geschichte eben auch nur wieder eine Geschichte, und wer weiß, wem diese nutzt. (Da könnte man diejenigen fragen, die unverdrossen die Geschichte vom Ende der Ideologien erzählen, damit sie bequem jeden Veränderungswunsch unter „Ideologieverdacht“ stellen können, unter dem gewissen Beifall der Status-Quo-Anhänger.)

Bleibt immer noch die unangenehme Frage, ob ich nicht Gefangener einer fremden Erzählung bin, wenn ich nur gegen solche Einwände formuliere? Wie vielleicht insgesamt die „Diskurslinke“ Gefangene von Fremderzählungen ist, insbesondere dann, wenn sie diese auch noch progehorsam auf sich selbst anwendet (was Wagenknecht halt derzeit so publiziert)? Und der Rezensent ist mitgefangen-mitgehangen, wenn er das, was doch eigentlich eine Lobhudelei sein sollte, die knapp am Kaufbefehl vorbeischrammt, nur entlang fehlgehender oder auch bewusst fehlkonstruierter Vorwürfe entwickeln kann? Und also Teil einer Diskursformation, die sich zu ausschließlich über die Projektionen der Gegner errichtet hat – nur eben auf der anderen, diese Projektionen kritisierenden Seite?

Und - falls ja, wäre dann wenigstens die schonungslose Darbietung dieses Dilemmas ein Ausweg? Weil der wenn auch vagen Hoffnung geschuldet, dass die Vorführung des eigenen Scheiterns symptomatisch ist – für was auch immer? – Ich bin narrativ fremdgesteuert und jeder Strampelversuch macht es nur schlimmer, aber bitte lernt etwas daraus, indem Ihr mir beim Strampeln zuschaut?

In diesem tiefgelegten Sinne liegt der Gewinn des Buches – abgesehen vom Spaß, den die Lektüre macht - in der durch es vermittelten Einsicht in eben diese Notwendigkeit. Wir können unserem narrativen Verstricktsein nicht entkommen, aber wir können dies wissen und das ist dann immer noch besser, als von Tuten und Sprechblasen keine Ahnung zu haben. Wir können den subkutanen und oft verleugneten Geschichten auf der Spur bleiben, und Geschichten auch dann erkennen, wenn sie bestritten werden. Wir können einen Narrationswitterinstinkt hervorbilden, der immer auf der Suche ist nach narrativen Spin(n)fäden, mit denen wir vielleicht umgarnt werden ohne es zu merken. Als Denkhaltung im Sinne Adornos, der seine Kritische Theorie ja auch nicht als (Dauer-)Nörgeln verstand, sondern als Erkenntnisbedingung bzw. Anleitung zu einer bestimmten Form von Erkenntnisempfangsbereitschaft. Einer Welt gegenüber, die im Zweifel Anlass zu Kritik bietet – gerade auch, weitere Quintessenz von „Erzählende Affen“ -, weil sie falsch erzählt wird.

Und das ist die zweite, nicht minder wichtige Anregung des Buches: das Erzählen nicht anderen überlassen. Während die nicht nur allzu bescheidene, sondern vor allem skrupulös gewordene Linke sich immer wieder aufwendig und theorielastig ihres Sprachverstricktseins versichert und zugleich aber auch – mithilfe angelesener „französischer Theorien“ - bewusst verunsichert, wird seitens der Konservativen längst auf die narrative Kacke gehauen. Die Linke denkt, die Konservative diskurslenkt (und sei es, indem sie in Dauerschleife ihr Dominiertsein von einer Diskurslinken behauptet). Und statt eilfertig von Entgegnung zu Entgegnung zu hüpfen (oder auch: durch dauerhafte ironische Bespielung das Gesagte zu bestärken), sollte sich die Linke wieder auf die Suche nach eigenen, progressiven Erzählungen begeben. Denn wenn die Progressiven das Erzählen den Falschen überlassen, ist es kein Wunder, dass falsch erzählt wird; bekanntermaßen gibt kein richtiges Narrativ im falschen Erzählen von falschen Erzählern.

Freihändige Nacherzählung des Buchs „Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen“, von Samira El Ouassil & Friedemann Karig, Ullstein Verlag, Berlin 2021. Für den deutschen Sachbuchpreis nominiert, was hiermit befürwortet wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Niklas Buhmann

Selbstironie ist die schlechteste aller Umgangsformen mit dem durch sämtliche Kränkungen zersetzten "Ich" - abgesehen von allen anderen.

Niklas Buhmann

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