Was wenige wissen: Nachdem Johann Christoph Gottsched am 21. Juli 1756 nach der Zeitungslektüre mal wieder wütend die Perücke vom Kopf flog, entschloss er sich, bestärkt durch den Genuss einer halben Flasche Markenbranntwein, endlich seine Regelpoetik für die teutsche Zeitungs-Debattirey niederzuschreiben. Obschon das 1.300-seitige Konvolut nie in den Druck ging und das Manuskript bis zuletzt verschlossen im Geräteschuppen von Günter Grass lagerte, sind bis heute die meisten Feuilletonisten mit dem Inhalt vertraut.
Dieser besagt, dass Großdebatten nicht in anarchistische Kakophonie abgleiten dürfen, weshalb stets auf die strenge Einhaltung der Fünf-Akte-Regel zu achten sei. Geht es thematisch zum Beispiel um Innovationen im Maschinenwesen, heißt das: 1. Exposition des Hypes, 2. Steigerung des Hypes, 3. Kritik des Hypes, 4. Auftritt deutscher Datenschützer, 5. Schlusswort von Botho Strauß. Zudem wird Wortführerinnen und Wortführern zwar punktuell Freiraum zur Affirmation eingeräumt („Ein Selbstversuch“), dennoch sollte ein Mindestmaß an anthropologischer Skepsis („Was macht das mit uns?“) klar erkennbar bleiben. Fragen der Technologie, das weiß jeder anständige Humanist, müssen nämlich stets in einen zivilisatorischen Grundkonflikt zwischen Gut und Böse münden.
Vor diesem Hintergrund kann man mit der aktuellen Diskussion um Pokémon Go relativ zufrieden sein. Das weltweit wahnsinnig erfolgreiche Spiel, bei dem man nach dem Prinzip der Augmented Reality auf Suche nach Monstern wie Glumanda oder Pikachu durch die Straßen streift, hat hierzulande nämlich zu grundlegenden Einsichten über die Conditio humana geführt („Das macht was mit uns!“).
Anders verhält es sich im anglophonen Raum, wo man bekanntlich nicht vor der schnöden Prosa der Verhältnisse zurückschreckt. Unter dem Stichwort „Pokénomics“ wird die App, die mittlerweile mehr User als Tinder oder Twitter hat, dort, believe it or not, aus ökonomischer Perspektive betrachtet.
Ob Nintendo mit dem Spiel langfristig wirklich Geld verdient, etwa durch In-App-Käufe, wird sich erst zeigen müssen. Klar ist indes, darauf hat Timothy B. Lee auf vox.com hingewiesen, dass Pokémon Go als Geschäftsmodell exemplarisch für ein Akkumulationsproblem des gegenwärtigen Kapitalismus steht. Verbrachte man vormals seine Freizeit mit Bowling oder Kinobesuchen, so floss das ausgegebene Geld an lokale Gewerbetreibende, die damit wiederum Jobs geschaffen haben. Gibt man sein Geld hingegen bei Pokémon Go aus, bei Amazon oder chattet man auf Facebook, fließt dieses fast ausschließlich an die beteiligten Technikkonzerne. Und im Gegensatz zu älteren Großindustrien wie der Automobilwirtschaft kreieren diese nicht nur weit weniger Jobs und nur in Ballungszentren, sondern sie verfügen auch kaum über lokale Anschlussökonomien wie etwa Werkstätten oder Reifenhändler.
Das verstärkt nicht nur ein ökonomisches Stadt-Land-Gefälle. Ist die Digitalindustrie weit weniger kapitalintensiv als frühere Innovationsbranchen, statt Fabriken und Fließbändern braucht es nur noch Büros und Rechner, findet freies Kapital weit weniger Investmentmöglichkeiten, was wiederum die Zinsen fallen lässt und die Nachfrage mindert. Ein – klassisch keynesianischer – Weg aus dem Dilemma wäre, sagt Lee, sozialpolitische Umverteilung. Der nächste linke Steuerwahlkampf könnte also unter der Überschrift stehen: It’s Pikachu, stupid!
Kommentare 6
Guter Artikel.
Ansonsten fehlt mir nur leider Bezug auf das Phänomen der "shifting baselines", dem schleichenden verschieben von Grenzen im Denken, Ansichten und Leben miteinander.
Vor wenigen Jahren nahm das Phänomen schon sehr stark zu, dass man eigentlich "offline" am "socialisen" ist, die Person gegenüber aber nur am Handy hing. So verhielt sich noch nicht jede Person und es war noch relativ gesellschaftlich verrufen, wurde als asoziales Verhalten aufgefasst (zurecht).
Ganz von selbst, aber durch Games wie Pokemon Go um ein vielfaches beschleunigt, verschieben sich die Grenzen der gesellschaftlichen Akzeptanz von solchem Verhalten.
Im einen Moment haben alle noch Spaß mit einem Game und in 10 Jahren gibt es in Restaurants dann extra Räume für Menschen die noch mit anderen Menschen reden möchten, damit die Zombies an Smartphones ja nicht gestört werden von irgendwelchen Unruhestifern die auf die waghalsige Idee kommen sich mit echten Menschen zu beschäftigen.
Ich hoffe sehr auf den Rest von intelligenten, intelektuellen, humanen, mitfühlenden Menschen.
Wenn ich am Bahnhof, im Zug, In der Fußgängerzone Mütter mit Kinderwagen sehe die nur auf elektronische Teile tippen oder durch diese mit abwesenden Leuten quatschen, die nicht mal Blickkontakt mit ihren Kindern suchen graut mir. Das ist Hospitalismus pur. Soziopathische Eltern erzeugen hospitalisierte Kinder/Erwachsene. Pokemon matter
Stupid?
Die Entwicklungschancen sind ja noch nicht mal im Ansatz klar.
Ich könnte mir vorstellen z.B. örtliche Unternehmen einzubinden.
Auf der Suche nach Pokemons findet man die Meisten dann in der Nähe von Unternehmen, die vorher eingekauft haben, nämlich Pokemons.
Da müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn der Kunde, der bei der Suche direkt vorm Geschäft steht, nicht einkehrt, und auch noch einen Bonus bekommt.
So eine Art Lenkung. Hieß früher Rabattmarken.
Stupid ist der Kapitalismus nicht, er ist perfide.
@Rita
Ach, Gottchen, isses mal wieder soweit? Nun droht also, wie zuvor schon durch Videospiele und davor durchs Fernsehen, der totale Untergang.
@Grundgütiger
Sie haben das Zitat nicht verstanden.
"It's the economy, stupid" hat sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag.
Nun droht also, wie zuvor schon durch Videospiele und davor durchs Fernsehen, der totale Untergang.
Jede neue Form von Technologie und jede Änderung an gesellschaftlichem Verhalten muss hinterfragt und kritisiert werden dürfen. Man sollte das nicht durch solche Aussagen bagatellisieren.
Wenn Menschen zu großen Teilen nur noch am Smartphone hängen, selbst wenn sie sich mit anderen Menschen treffen, Gespräche oft so ablaufen dass man sich 3x wiederholen muss, weil die Person gegenüber nur so tat als würde sie zuhören, sich in Wahrheit aber gerade bei Instragram das Mittagessen anderer Menschen anschaute... dann ist das extrem erschreckend und in keiner Weiste vergleichbar mit Zockern. Der Unterschied ist nämlich extrem wichtig. Zocken findet oft in den eigenen vier Wänden statt. Manchmal natürlich auch gemeinsam auf LANs, tendentiell ist Zocken aber Zocken und Socialising Socialising. Durch die relativ strikte Trennung ist Socialising als solches nicht in Gefahr.
Hätte ich zum Beispiel ein Date zu einem Dinner in einem Restaurant und würde dort meinen Gameboy auspacken und los zocken, alle würden mich für asozial, bekloppt und respektlos halten. Zurecht. Hole ich mein Handy raus und beschäftige mich damit dann mehr als mit der Person gegenüber ist es schon gesellschaftlich anerkannt. DAS ist das Problem.
Horrorszenarien?
Auf die Gefahr, dass mir wieder Bagatellisierung vorgeworfen wird: Aber eine komplette Generation von Soziopathen, so wie das von Rita heraufbeschworene Szenario, sehe ich noch nicht anrollen. Darauf bezog ich mich nämlich, Smaddi. Auf die Auswirkung auf die Sozialisation.
Es ist alles nicht unproblematisch, fügt sich aber in das Parken der Kinder vorm TV oder Zockersucht bei Kindern ein und ist nicht eine völlig neue, alles bisher dagewesene in den Schatten stellende Entwicklung.