Wir brauchen einander, um uns abzuschotten

Winter Sleep Hitzigen Szenen vor dem Kino zum Trotz, bringt der neue Film Nuri Bilge Ceylans das Filmfestival Cannes zur Ruhe: Der erste wirklich große Film im Wettbewerb!

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Wir brauchen einander, um uns abzuschotten

Die tiefere Logik der Festival-Programmpolitik bleibt für Nicht-Eingeweihte gerne opak, ein Fakt, der in der professionellen Zuschauerschaft meist allerlei Gerüchtebildung Vorschub leistet. Warum zum Beispiel Winter Sleep, der neue Film des türkischen Cannes-Veteranen Nuri Bilge Ceylan, als einziger im offiziellen Wettbewerb ohne Pressevorführung auskommen muss, ist etwas rätselhaft. Wollte man sicher gehen, dass die Vorstellung knackevoll ist, nachdem Ceylan's Once Upon a Time in Anatolia vor zwei Jahren in der letzten, spätabendlichen Vorstellung sein halbes Gala-Publikum vergrault hatte? Glaubt die Festivalleitung, dass sich an einem mediterran-heißen Freitagnachmittag nur die ganz Verbissenen dreieinviertelstunden sprödes Weltkino genehmigen, selbst wenn der Regisseur hier bereits dreimal mit Preisen ausgezeichnet wurde? Oder hat es mit der wegen anstehender Europawahl verkürzten Festivallänge zu tun, dass an einem Tag gleich drei Wettbewerbsfilme gezeigt werden?

Solche Fragen könnten den Aussenstehenden natürlich etwas minder spannend dünken, aber die Vorführsituation spielt ja eine ziemlich gewichtige Rolle beim Filmerlebnis. Und wenn man sich mit Ach und Krach durch die lautstark ihren Unmut kund tuenden Massen schlussendlich zum Einlass vorgedrückt hat, ist ein Gutteil der Kräfte schon verbraucht, bevor Ceylans durchweg aufmerksamkeitsfordernder Dialogfilm überhaupt nur angefangen hat. Aber die Anstrengung soll sich gelohnt haben, denn Winter Sleep ist ein ganz famoses Stück Kino. Auch wenn er – da stimmt die Erfahrung pessimistisch – wahrscheinlich nie den Weg auf deutsche Leinwände finden wird.

Nun gut, Licht aus, Vorhang auf. Der Titel deutet es ja schon an: Ceylan transportiert seine Zuschauer sofort weltenweit weg von der hitzigen Cote d'azur. Seine digital entsättigte Farbpalette mutet in ihrer gelbstichigen Sprödheit wie in Once Upon a Time in Anatolia wieder leicht lebensfeindlich an, und wieder öffnen sich nach überall hin leergefegte anatolische Hügellandschaften. Wo er aber zuvor fast jegliche Wiedererkennbarkeit verweigernde Wüsteneien aufgesucht hatte, ist die Shooting Location von Winter Sleep leicht zu benennen: Es ist kalt in in den Schluchten zwischen den jahrtausendealten Felsenbehausungen Kappadokiens, und in Aydin Beys (Haluk Bilginer) aus Höhlen und Einbuchtungen zusammengesetzten Hotelkomplex lassen sich nicht viele Gäste blicken. Viel Zeit also, um sich auseinanderzusetzen mit seiner weit jüngeren Frau Nihal (Melisa Sözen), die sich die öde Langeweile mit karitativer Energie vom Leib zu halten versucht, und seiner Schwester Necla (Demek Akbag), die aus ähnlichen Gründen zu metaphysischen Zweifelein neigt.

Ceylan lässt seine Figuren in kunstvoll ziellosen, ständig absackenden und sich wieder aufraffenden Dialogen einander herausfordern, lässt sie sich piesacken, erzürnen, vergraulen. Es sind Inselmenschen, die sich tragischerweise unbedingt brauchen, um beständig ihre Einsamkeit im Gespräch bestätigt zu sehen. Mehr noch als in der Vergangenheit schlägt Ceylans Passion für Anton Tschechow durch: Wie sich die Figurenpsychen hier immer nur über Bande entziffern lassen, wie das Subjekt den Anderen als Gegner unbedingt benötigt, um sich stets von neuem abzuschotten, und wie diese paradoxe Dialektik letztendlich nur mit tiefem Humor akzeptiert werden kann, all das spricht die Theatersprache des Russen. Winter Sleep ist ein wahrlich theatraler Film in der Hinsicht, dass er als sprachlich gespanntes Netz verstanden werden will, dass die Worte hier erst die Menschen hervorbringen.

Aber der ehemalige Fotograf Ceylan, der ganze Jahre für die digitale Postproduktion seiner Werke verschleißen kann, damit am Ende jeder Quadratmillimeter Leinwand stimmt, bereitet seiner Sprachkomödie eine exquisit gezimmerte Bühne. Jedes Bild hier enthält andere Bilder: Hinter den Großaufnahmen liegen Landschaftspanoramen, die Blicke in den öllampenorangenen Höhlenzimmern prallen oft über Spiegel gegeinander, an den Wänden hängen Masken und Kunstdrucke. Visuell erzählen diese Verschachtelungen ganz eigene, von den Gesprächen emanzipierte Geschichten; Geschichten von sehnsuchtsverschluckenden Steppen, von verwehten Träumen, von augenzwinkernden Widersprüchen.

Und all die Bilder, all die Worte legen sich allmählich über die verwitterten Gesichtszüge Aydins. Winter Sleep ist letztendlich das hochkomplizierte, fein gesponnene Psychogramm eines Typen, der sich so total in zynischer Selbstgenugtuung verbarrikadiert hat, dass es die versammelten Kräfte all seiner fernsten Nächsten braucht, um ein paar Risse in die in überlegenem Grinsen versteinerte Mimik zu schlagen. Der in sich verkrochene, essentiell jämmerliche Alpha-Mann war ja schon stets Ceylans Lieblingsthema. Und derzeit entblößt im Weltkino niemand wie er dessen klägliche Herrschaftsgesten, die gerne Mitleidsrufe wären. Das ist kein Zufall, denn Ceylans Männerfiguren sind immer auch konzentrierte Spiegelbilder des türkischen Paternalismus. So flammen auch in Winter Sleep ganz diskussionsbedürftige Themen auf wie quasi-feudale Strukturen im anatolischen Hinterland, lebenserstickende maskuline Ehrkonzepte oder die kulturelle Hochnäsigkeit der istanbuler Intellegenzia gegenüber der ländlichen Bevölkerung.

196 Minuten nach dem Gedrängel am Eingang wogt lang anhaltender Beifall durch das große Premierenkino Cannes'. Gegangen sind nur wenige, und der Rest hat einen nahezu makellosen, wenn auch in seiner Gesprächslastigkeit nicht unanstrengenden Film gesehen. Und dann dämmert eine nur auf den ersten Blick unwahrscheinliche Verwandschaft herauf: Im Todesjahr Alain Resnais', der sich jahrzehntelang wie kaum jemand sonst um das Niederreißen der Mauern zwischen Theater und Kino bemüht hat, gibt es eine neue Vision, wie diese Künste ihre Stärken vereinen können.

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