anzösisches Tagebuch, Cabane 3

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Es zog mich wieder zu Michel aus der Cabane. Das hatte drei Gründe: 1)Wir wollten mal wieder ein frisches Huhn essen und Michels Hühner sind nun mal ausgesprochen gut, weil sie wirklich ein glückliches Leben führen. Ich hatte eins bestellt und wollte es abholen.2) mir gingen seine Worte vom letzten Mal nicht aus dem Sinn, wo er "vom Weltall" in uns sprach.3) Ich wollte seiner geheimnisvollen Mutter und seiner Vergangenheit auf die Spur kommen. Also schwang ich ich mich wieder auf's Fahrrad und fuhr die bekannte Strecke durch den Wald, begleitet von einem fast ohrenbetäubenden Konzerto grosso der Mai-Zikaden. Angst vor bösen Menschen habe ich keine, höchstens vor einer Begegnung mit einer Wildsau. Deswegen singe ich gerne und laut im Wald. Manchmal steige ich vom Fahrrad ab, wenn ich an der alten, vom Brombeergestrüpp überwucherten Siedlung vorbeikomme. In den Wäldern hier gibt es viele davon, auch Reste von Schlössern und deren Anlagen, Steinbrüche, alte Mühlen und verschüttete Eingänge zu unterirdischen Gängen. Das muss ich dann einfach still bewundern.

Michel freute sich, mich zu sehen und hatte einen arabischen Pfefferminztee zubereitet. Ich hatte mal erwähnt, dass ich diesen Tee besonders gerne mag, weil ich ihn in Jordanien und Israel so oft getrunken hatte. Den meisten Europäern, die versuchen diesen Tee zu zubereiten, gelingt das nicht. Aber Michels Tee war "echt". Und in kürzester Zeit waren wir in Erinnerungen, eine Geschichte ergab die andere. Ich erzählte von meinen Aufenthalten in Israel und Jordanien, von meiner Schreiberei darüber und er erzählte mir seine Geschichte, ohne dass ich fragen musste. Er sei froh, dass er das mal erzählen könne. Gottseidank kann ich sein Französisch gut verstehen, das ist auch nicht immer so. Was er erzählte, hatte ich nicht erwartet. Michel war katholischer Priester in Algerien, in Mostaganem, er gehörte den Pères Blancs an. Doch dann verliebte er sich in eine um 15 Jahre ältere Algerierin, eine Witwe, die er in einer Oase in der Sahara bei einer Hochzeitsfeier kennengelernt hatte. Irre. Er schilderte sehr nüchtern ihre Flucht, die gelang, seinen Austritt aus dem Orden und seinen Neuanfang in La France profonde. Seine Frau, die ich für seine Mutter hielt, heißt Rashida und Rashida zeigt sich Fremden nicht gern. Ich möchte so gerne Rashida kennenlernen! Ich sagte das auch. Vielleicht das nächste Mal. Eins wollte ich noch wissen, was Michel von der "Liquidierung" Bin Ladens hält. Er sah mich lange stumm an und sagte dann:" Das ist das Weltall in uns. Und das muss überwunden werden."

Als ich mit dem Huhn im Fahrradkorb nach Hause radelte, war mein Kopf angefüllt mit diesen Geschichten und mein Herz groß und schwer.

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Geschrieben von

Novalis

lebt halb in Frankreich, halb in Deutschland, suchte die Blaue Blume, fand sie und erkannte, dass Realität Illusion ist und Illusion Realität.

Novalis

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