Wie Odysseus sich einst an den Mast binden ließ, so handelte auch die deutsche Bundesregierung im Sommer 2009: Um nicht den Sirenengesängen der ausufernden Staatsverschuldung zu verfallen, führten CDU und SPD eine Schuldenbremse für Bund und Länder ein. Auf maximal 0,35 Prozent des BIP muss die Kreditaufnahme seitdem pro Jahr begrenzt bleiben, Ausnahmen wie Pandemien oder Kriege bestätigen die Regel.
Schuldenregel mit Verfassungsrang
Dieses Seil, mit dem sich die Regierung selbst gefesselt hat, ist aus einem besonderen Material: Ein einfaches Gesetz schien den Verfassern der Schuldenbremse zu riskant, weil zu leicht kippbar. Daher erhielt diese Regel Verfassungsrang, womit eine Abschaffung quasi undenkbar ist, da eine einfache Mehrheit im Parlament nicht ausrei
Daher erhielt diese Regel Verfassungsrang, womit eine Abschaffung quasi undenkbar ist, da eine einfache Mehrheit im Parlament nicht ausreicht. Unter Ökonomen und Wirtschaftspolitikern ist die Regel seitdem dementsprechend umstritten: Während die einen darin die Garantie intergenerationeller Gerechtigkeit erblicken – Stichwort: Schuldenberg, solide Staatsfinanzen etc. –, halten die Kritiker die Schuldenbremse für undemokratisch, da sie das Parlament der Budgethoheit beraubt und dabei auf eine mehr oder minder willkürlich festgelegte Kennziffer zurückgreift. Ein ewiger Zankapfel war dieses Gesetz von Anfang an, linke Ökonomen forderten seit Jahren die Abschaffung.Tricks für Christian LindnerNun ist das mit Odysseus am Mast so eine Sache: Er will ja nicht bloß den Sirenen lauschen, sondern versucht sich durchaus aus seinen Fesseln herauszuwinden. In ganz ähnlicher Manier hat die Ampel-Koalition, die mit dem großspurigen Slogan „Mehr Fortschritt wagen“ angetreten war, einen schwierigen Spagat gewagt: Auf der einen Seite sollten die Schuldendogmatiker rund um Christian Lindner befriedigt werden, auf der anderen Seite sollte es dann aber doch nicht an Geld für die zukunftsträchtigen Vorhaben mangeln. Und so hat sich die im Dezember 2021 ins Amt gehobene Bundesregierung von Anfang an Tricks einfallen lassen, um die Schuldenbremse zu umgehen, etwa durch Sondervermögen – um nicht zu sagen: Schattenhaushalte –, die nicht unter die Schuldenbremse fallen. Dementsprechend groß ist nun die Aufregung, da das Bundesverfassungsgericht eines dieser Sondervermögen für verfassungswidrig erklärt hat. Das Wort Paukenschlag scheint da noch untertrieben, eher handelt es sich um eine Paukenmesse für die deutsche Haushaltspolitik: Denn die höchstgerichtliche Entscheidung, den zweiten Nachtragshaushalt 2021 der Ampelkoalition zu kassieren, kommt einer klaren Aufforderung an die Regierenden gleich, dass nun Schluss sein muss mit Taschenspielertricks. Bemängelt wurde vom Bundesverfassungsgericht einerseits, dass die Verschiebung ungenutzter Corona-Kredite in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) unzureichend begründet worden war. Was die Bekämpfung des Klimawandels mit der Bewältigung der Pandemie und ihrer Folgen zu tun haben soll, wurde von der Bundesregierung nach dieser Lesart nicht ausreichend erklärt. Andererseits wurde der Nachtragshaushalt für das Jahr 2021 erst im Januar 2022 beschlossen, was ebenfalls dazu führte, dass das Gesetz rückwirkend für nichtig erklärt wurde. Und auch die mehrjährige Verplanung von Kreditermächtigungen wurde bemängelt, da diese im Jahr ihres Beschlusses hätten in Anspruch genommen werden müssen. Der „Doppel-Wumms“ steht in FrageDamit fehlen dem KTF in Zukunft 60 Milliarden Euro, die eigentlich dazu dienen sollten, in Zukunftstechnologien zu investieren oder den öffentlichen Nahverkehr zu stärken. Als wäre dies nicht dramatisch genug, scheinen nun aber auch andere Sondervermögen der Regierung fraglich: Auf den Prüfstand könnte als Nächstes der „Doppel-Wumms“ kommen, also die 200 Milliarden Euro, die dazu dienen sollten, die Folgen gestiegener Energiepreise für Industrie und Verbraucher abzumildern. Auch in diesem Fall wurde in Form eines Sondervermögens Geld aufgenommen und über mehrere Jahre hinweg verplant.Dementsprechend gehässig zeigt man sich aufseiten der Opposition, die schon immer auf die Einhaltung der Schuldenbremse gepocht hatte: Friedrich Merz kündigte bereits an, die Rechtmäßigkeit des „Doppel-Wumms“ möglichst schnell überprüfen zu lassen – und forderte Einsparungen an anderer Stelle, um die Projekte des KTF weiterhin zu ermöglichen. Ganz dem christdemokratischen Gedanken verpflichtet erklärte er im ZDF heute Journal das aus seiner Sicht dringendste Einsparpotenzial: „Die Kindergrundsicherung bringt für keine Familie und kein Kind Verbesserungen.“Die FDP will den Sozialstaat schrumpfenDamit dürfte dann auch die zu verfolgende Stoßrichtung klargestellt sein: In Zukunft gilt wieder die Schuldenbremse – und das ohne Wenn und Aber, egal ob Schulen verfallen oder das Bahnnetz darunter leidet. Und wann immer die Frage nach der Bezahlbarkeit solcher langfristigen Investitionen aufkommt, wird man aufseiten der FDP und breiter Teile der Opposition auf den angeblich viel zu aufgeblähten Sozialstaat verweisen. Dessen Schrumpfung bleibt dann als einziges realpolitisches Haushaltsinstrument übrig, da Steuererhöhungen unter Christian Lindner ähnlich wahrscheinlich sind wie eine liberale Abtreibungspolitik unter der AfD.Dieses Nullsummenspiel kennt viele Verlierer und nur einen Gewinner: die Schulden-Dogmatiker aus CDU und FDP, die voller Freude gefesselt am Mast stehen, während das Boot gegen eine Felswand kracht. Die SPD hingegen steht vor den Trümmern ihrer eigenen Fehlentscheidung aus dem Jahr 2009 und bekommt eine alte Binsenweisheit zu spüren: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet.“