Wir Jungen, Schönen, Glücklichen

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Nach langer Zeit mal wieder in einem heimatlichen Forum Bekanntschaftsanzeigen gelesen. Nach einer guten Handvoll hatte ich die Nase voll. Vielleicht, weil ich derzeit nicht dafür offen und disponiert bin, mir für mich selber eine Kontaktanbahnung darüber vorzustellen. Ganz bestimmt aber auch aus folgenden Fragen und Beobachtungen heraus:

Warum bloß lügen die Menschen sich derart selber die Hucke voll, sobald es darum geht, ein Bild von sich selber zu zeichnen sowie von einem Menschen, den sie sich als Ergänzung wünschen und von den Dingen, die man gerne mit ihm erleben und verwirklichen würde, aber alleine nicht oder nicht auf die gleiche Weise erleben kann oder möchte?

Das ist doch eigentlich die ganze Wissenschaft, zu der selbstverständlich dazugehört, dass man den anderen gerne ansehen und anfassen möchte und gerne von ihm angeschaut und angefasst werden möchte, oder?

Ja, das wäre vielleicht die ganze Wissenschaft, wenn es eben zumal um die Menschen als Personen ginge. Es geht aber nicht um die Menschen als Personen, es geht um die Menschen als Waren. Und der Warenmarkt folgt seit jeher einem bestimmenden Prinzip: Ich muss für einen möglichst geringen Wert, den ich anbiete, einen möglichst hohen Gegenwert eintauschen. Sonst gibt es keinen Gewinn.

Jedoch: welcher vernünftige Mensch gibt denn freiwillig etwas Wertvolles gegen etwas Wertloses her?

Das ist in der Tat ein Problem, und da die Marktgesetzlichkeit aber nun mal ist, wie sie ist, hilft nur eins: der schöne Schein, mit dem ich meinen Artikel, hier: MICH, aufputze, damit er wertvoller erscheint, als er ist. Für den übrigen Warenmarkt gilt auch noch: den angestrebten Artikel als wertlos heruntermachen, um den Preis zu drücken. Doch das ist hier ein Problem, denn der Verkäufer ist hier selber die Ware und möchte und sollte deshalb tunlichst gelobt werden. Das Heruntermachen kann dann in diesem Falle nach dem Erwerb geschehen.

Konzentrieren wir uns also auf das scheinhafte Verschönern der angebotenen Ware! Dafür gilt es, nach ganz bestimmten allgemein anerkannten Wertkriterien vorzugehen:

1. Es ist ohne weiteres jedem Menschen von einigem Verstand klar, dass ALLE Leute, die hier inserieren, einsam sind. Aber Einsamkeit ist eine defizitäre Eigenschaft, und deshalb kommen hier, so paradox das klingen mag, keine Einsamen vor, und schon gar nicht mit den entsprechenden depressiven Verstimmungen, die zumal sonntagsnachmittags auftreten, wo man sich nicht unter die glücklichen Paare und jungen Familien mischen möchte, die am Fluss oder im Park spazieren gehen. Die Menschen hier stehen alle mitten im Leben, haben sogenannte Freundeskreise, sind quietschlebendig, ausgefüllt mit vielerlei sportlichen und kulturellen Aktivitäten und auf dem ansonsten ganz und gar zufriedenstellenden Leben fehlt nur jemand als klitzekleines Sahnehäubchen, damit es zu einem ganz und gar glücklichen Leben werde.

2. Junge Menschen sind wertvoller als alte. Da sollte man denken, da gäbe es, außer den bekannten "dreißig Jahre und vierundvierzig Monate" , wie es als Bonmot einer Filmschauspielerin auf die bohrende Nachfrage eines Reporters in den Mund gelegt wurde, nicht viel zu verheimlichen, zu schönen und vorzutäuschen. Weit gefehlt: Hier sind alle Menschen jung, wirklich alte Menschen, die es schon im alltäglichen Sprachgebrauch nicht gibt, dort heißen sie "Senioren" oder allenfalls "ältere Menschen", sucht man hier vergebens. Peinlich und lächerlich, welche Blüten das hier treibt, dazu gehört nicht nur der "große Junge, 72" und nicht nur die über 60-Jährige, die "kein Oma-Typ" ist, obwohl sie locker Urgroßmutter sein könnte, vielleicht sogar ist, sondern:

a) Wer älter ist, als er sein möchte, und das sind hier fast alle, sieht wenigstens jünger aus. Sagen die Freunde zumindest.

b) Wer das realistischerweise, auch nach dem wohlwollendsten Urteil der Freunde, nicht von sich behaupten kann, "fühlt" sich zumindest jünger. In der Regel sogar erheblich, also: ein 60-Jähriger ist "gefühlte 48", usw..

3. Schlanke sind wertvoller als Dicke.

Wer schon einmal mit hier inserierenden Frauen verabredet war, wundert sich teilweise doch sehr, wo in so manchen Köpfen die Grenze zwischen "schlank" und "etwas füllig" verläuft. Und die Fülligeren sind auch nicht füllig, sondern haben eine "Normalfigur". Wer das ehrlicherweise nicht mehr von sich behaupten kann, ist auch nicht dick, sondern strapaziert als Kunstkennerin den hier hundertfach in Anspruch genommenen armen Rubens.

4. Was ich noch nicht verstehe.

Wünschen die Inserentinnen (und vielleicht Inserenten, deren Texte ich seltener lese) eigentlich jemanden, mit dem zusammen sie dasselbe tun und erleben können wie bisher ohne ihn, oder wünschen sie jemanden, mit dem sie zusammen das Neue tun und erleben können, das der bisher ohne sie getan und erlebt hat? Wo doch alle so schon so ausgefüllt leben, wie wollen sie das ausgefüllte andere Leben noch mitleben?

Das Interessanteste in der Hinsicht ist der Wunsch nach einem "Mann, der weiß, was er will". Welche Frau will denn wirkich so jemanden? Ich dachte, die ehrliche Anzeige laute: "Suche Mann, der weiß und tut, was ICH will".

Ich beschreibe das alles zwar kritisch, würde mich jedoch keineswegs ausnehmen oder mich gar über die Inserierenden erheben wollen. Die entsprechenden gesellschaftlichen Muster sind so bestimmend und prägend, dass sich dem niemand wirklich entziehen kann.

Und die entsprechenden Lügen sind, um nur beim Alter zu bleiben, schon in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Denn in Wahrheit ist ein Mitte-60-Jähriger natürlich Mitte 70, und nicht Mitte 60. Oder ist ein Fünfjähriger etwa "Mitte 0" und nicht "Mitte 10"?

Klar, dass junge Menschen schöner sind als alte (oder unterliege ich hier auch bloß einem gesellschaftlichen Muster?) und schlanke schöner sind als dicke, Rubens zum Trotz, der m.E. mit seinem Bildern hauptsächlich den vollgefressenen Adeligen und Großbürgern schmeicheln wollte, deren Männer sich aber jedenfalls für ihre Lust gerne bei den Jungen und Schlanken der unteren Schichten "bedienten" - Aber warum gibt es keinen Diskurs über die Frage, an dem ich mich beim unentrinnlichen Älterwerden orientieren könnte, oder finde ich ihn bloß nicht?

Ich will nicht "in Würde" alt werden, ich will mit Lust und Vergnügen und Bereicherung alt werden, für Körper, Geist und Seele.

Tatsächlich würde wohl auch niemand "noch mal jung" sein mögen, der sich wirklich richtig erinnern kann. Wir wollen bloß noch ein wenig leben, und "ein wenig" heißt "ewig" (Tucholsky). Auf unseren alten Fotos sind die herausgehobenen und glücklichen Momente festgehalten. Das weit überwiegende Mühsame, Frustrierende, das Unglück und Leid verschwimmt uns in der Erinnerung.

Oder, mit Diether Krebs, der vom Hautarzt eine Salbe bekommt, mit dem Kommentar: "Wenn Sie die regelmäßig auftragen, bekommen Sie eine Haut wie ein 18-Jähriger", worauf der, entsetzt: "Akne?".

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