Im Zusammenhang mit den abstrusen Absonderungen des Herrn S. hat Magda in ihrem Satirebeitrag "Gentheorien" die Frage nach Veränderungen in den Genen durch lange Anpassung, nach einem Wechselverhältnis von Umweltveränderung-Anpassungsreaktion- Genveränderung aufgeworfen.
Ganz ernsthafte Antworten auf diese Frage sucht der noch recht junge Forschungsbereich der Epigenetik. Wurde einer breiteren Öffentlichkeit wohl erstmals zum Begriff, als die populärwissenschaftliche Sendung “Abenteuer Wissen” im Mai 2008 einige wissenschaftliche Erkenntnisse und Standards in “light”-Version präsentierte.
http://www.coaching-kiste.de/graphiken/epigenetik.jpgSonderlich gut ist das jener ZDF-Sendung in ihrer Oberflächlichkeit (sorry, Karsten Schwanke) allerdings nicht gelungen. Schon der damalige Titel “Die Wahrheit jenseits der Gene” klang nach reisserischem Enthüllungsjournalismus, mehr noch die Aussage, es würden die Grundsätze der Darwin’schen Evolutionslehre in Frage gestellt.
Tatsächlich liefert die Epigentik eine Erweiterung der Grundlagen von Darwins Theorien und stützt die Hypothesen zu einer Vererbung von Umwelt- und Lebensbedingungen schon seit Jahren mit empirischen Belegen. Die jahrhundertelang gültige These “Die Gene sind unser Schicksal” stimmt in ihrer Eindimensionalität nicht mehr. Denn selbst wenn Menschen exakt über die gleichen Gene verfügen, unterscheiden sie sich häufig in den Mustern der Genaktivität und damit auch in ihren Eigenschaften.
Conrad Waddington wird oft zugeschrieben, den Begriff Epigenetik im Jahre 1942 geprägt zu haben, und zwar als „Zweig der Biologie, der die kausalen Wechselwirkungen zwischen Genen und ihren Produkten untersucht, welche den Phänotyp hervorbringen“.
Der Begriff Epigenetik taucht allerdings bereits in der Literatur Mitte des 19. Jahrhunderts auf, seine Ursprünge gehen sogar schon auf Aristoteles (384-322 v. Chr.) zurück. Der Grieche glaubte an die Epigenese: die Entwicklung individueller organischer Formen aus formloser Substanz.
Die wissenschaftliche Epigenetik untersucht nicht nur die Sequenz oder die Organisation der Gene, sondern wie, wann und warum sie ein- oder ausgeschaltet werden. Dabei sorgen kleine chemische Schaltergruppen direkt am Geschehen, also an der Erbsubstanz DNA, für die Formatierung im Buch des Lebens: Sie können ganze genetische Kapitel so verändern, dass sie nicht mehr lesbar sind, sie können in anderen Kapiteln die Schriftgröße verändern und sie somit betonen, und sie können sogar neue Informationen erzeugen.
Schon 1999, also noch vor der gefeierten “Entschlüsselung des menschlichen Genoms” gelang der Biologin Emma Whitelaw der Nachweis, dass epigenetische Marker von einer Säugetier-Generation auf die nächste übertragbar sind und also mit dem Tod eines Individuums nicht verloren gehen. “Heute glauben viele noch, dass die Information, die wir von den Eltern erhalten, in der Abfolge der DNS-Bausteine liegt. Unsere Studie zeigt jedoch, dass mehr als nur die DNS vererbt wird. In gewisser Weise ist das sogar einleuchtend; denn was wir von unseren Eltern erben, sind Chromosomen, und Chromosomen bestehen nur zu 50 Prozent aus DNS. Die anderen 50 Prozent bestehen aus Eiweiß-Molekülen.”
Eine zusätzliche Denk-Erweiterung haben die Genetiker zu verkraften, seit sich immer deutlicher herausstellt, dass die Vererbung epigenetischer Merkmale nicht bei den unmittelbaren Nachkommen endet, sondern sich weiter fortpflanzen kann, bis zu den Enkeln, Urenkeln, Ururenkeln.
Während unseres Lebens ermöglichen epigenetische Veränderungen den Zellen, auf Umweltveränderungen und Einflüsse zu reagieren, ohne dass die DNA selber geändert werden muss - und diese Erkenntnis hat Folgen für unsere bisherigen Vorstellungen evolutionärer Abläufe und deren Zeitrahmen.
Es gibt da mehr offene als beantwortete Fragen und deshalb ist es ziemlich hypothetisch, wenn ich mein Lieblingsthema “Kulturelle Evolution” jetzt da dran tackere. Aber möglichweise werden auf diese epigenetische Weise auch bewusst erlernte Fähigkeiten bis zu einem gewissen Grad biologisch (und nicht nur durch Erziehung) an die Nachkommen weitergegeben.
Und damit sind wir auch schnell bei einer anderen Betrachtung der Cluster-Entwicklung von “Meta-Memen” wie Religionen, philosophischer Konzepte, Moralvorstellungen und somit auch historischer gesellschaftlicher Prozesse durch den “epigenetischen Code” - eine hübsche Spielwiese für humanistische Utopien…
Für weitergehend Interessierte gibt es brauchbare Artikel zum Thema bei wissenschaft.de (Ausgabe 09/2003), aktueller und umfangreicher bei GEO 4/07 (da wird u.A. erklärt, warum die im Grünen Tee enthaltene Substanz Epigallocatechin-3-gallat (EGCG) die körpereigene Abwehr gegen Krebszellen unterstützt) und wer “Insider” werden will, kann ein Lesezeichen fürs “Epigenom Exzellenznetz” setzen: die mehrsprachige wissenschaftliche Plattform der europäischen Epigenetiker.
Kommentare 4
Hallo oxnzeam - Gern gestupst, sag ich mal noch von dem Scherzblog her. :-))
Sehr interessant. Mir kam es einfach immer schlicht logisch vor, dass alles Leben dieser Erde ohne auch genetische Anpassung an die Umwelt nicht überlebt hätte...usw. wie ich es ja schon geschrieben habe. Dass dieser Gedanke breiter und gründlicher erforscht wurde und wird, finde ich sehr interessant.
Mit scheint, als sei das Bestehen - so eindimensional - auf den "Genen als unser Schicksal" auch mit einem herrschaftsideologischen Hintergrund versehen? Soll es - aus der Sicht der Definitionsmächtigen - nicht manchmal einfach so sein? Kann man mit diesem Hintergrund nicht viele Bemühungen um den Menschen und seine Umwelt vernachlässigen und alle Last auf den Menschen als Individuum werfen? Mir fällt das nur auf, weil in ähnlicher Richtung und mit ähnlicher Zielsetzung in letzter Zeit das Thema "freier Wille" bearbeitet wird. Forschung hat ja immer auch etwas zu tun mit "Richtung geben" mit Ideologie Oder warum setzen sich Denkschulen durch?
Und nicht nur ganze Denkschulen, sondern wissenschaftliche Slogans, die den Menschen was suggerieren, was so einfach nicht ist. Mir ist das jetzt mal wieder bei Darwin eingefallen. Lange Zeit war immer die Rede vom "Überleben des Stärkeren" auch im Blick auf die Verfasstheit der Gesellschft, will sagen "Sozialdarwinismus".
Es heißt aber gar nicht, "survivial of the strongest", sondern "survival of the fittest". Und da denke ich auch immer, dass das jene Art ist, die die Anpassung - per Genveränderung und auch sonst - am besten geleistet hat. Und da ist Stärke immer nur ein Merkmal. Na, Du siehst, das hat mich angeregt.
Die Erweiterung zur "Kulturellen Evolution" finde ich auch sehr interessant, bin aber nicht sachkundig genug, das gleich zu "bewerten". Das hat aber ganz sicher auch Einfluss auf das Menschenbild.
Also danke für Deine Anmerkungen, die - aus meiner Sicht - zu den Sachen gehören, die die Leser auch mitnehmen in ihre Überlegungen und nicht ausschließen, wie ich es in letzter Zeit hier manchmal erlebe. Das aber nur am Rand.
Gruß Magda
Da ich mich der allgemeinen politischen Stammtischgeschwätzigkeit in der S-Debatte weitgehend entzogen habe, weiß ich gar nicht, ob die Epigenetik dabei überhaupt thematisiert wurde - damit hätte man ja verschiedene Argumentationsketten gut munitionieren können.
@ Magda: Die wissenschaftliche Forschung arbeitet bei uns ja nicht (mehr) in einer ideologisch vorgegebenen Richtung, ihre Ergebnisse werden aber gern zu ideologischen Zwecken auf passende (und verkäufliche) Slogans runtergebrochen. Alle Fehlinterpreationen zum Thema Darwin sollten doch spätestens seit dem 2009er-Darwinjahr mit seinen tausenden von Veranstaltungen und Beiträgen auch in der Öffentlichkeit ausgeräumt sein; auch Dawkins Thesen (der die "Meme" übrigens in den 70ern salonfähig machte) erschienen mit der epigenetischen Erweiterung plausibler.
Es sind aber wohl keine "Denkschulen", "die den Menschen was suggerieren, was so einfach nicht ist", sondern schlichtweg die Interessensvertreter der "Vertraue-mir"-Fraktionen, die auf die Macht der komplexitätsreduzierenden Slogans setzen - und denen das gelingt, weil diese Debattanden gar nicht auf einem Mindestniveau an wissenschaftlicher Kenntnis und Bildung einsteigen, sondern in politisch-weltanschaulichen Schubladen kramen.
Sie neigen auch zu der - mir gar nicht ganz fremden Haltung - anzunehmen, ein Thema sei "durch" und alles klar, wenn man selbst es so halbwegs inhaliert hat. So ist es eben leider nicht.
Das Darwin-Jahr hat sicherlich viel Diskussionsstoff gebracht, aber nicht alles ist so klar. Mir schon gar nicht. Ich bin interessierte Lain.
"Es sind aber wohl keine "Denkschulen", "die den Menschen was suggerieren, was so einfach nicht ist", sondern schlichtweg die Interessensvertreter der "Vertraue-mir"-Fraktionen, die auf die Macht der komplexitätsreduzierenden Slogans setzen -"
Nee, das stimmt natürlich.
Hallo oxnzeam,
Aufklärung ist gewiß besser als Gegenaufklärung ;-)
Aber Du demonstrierst auch recht gut die Seite von Aufklärung, die mich mißmutig stimmt. Du schriebst:
"Die jahrhundertelang gültige These “Die Gene sind unser Schicksal” stimmt in ihrer Eindimensionalität nicht mehr. Denn selbst wenn Menschen exakt über die gleichen Gene verfügen, unterscheiden sie sich häufig in den Mustern der Genaktivität und damit auch in ihren Eigenschaften."
Zum ersten erscheinen in den simplen Fehlern, die Du gewiß vermeiden könntest, die leitenden Interessen.
a) "Gene" sind erst seit 60 Jahren bekannt, den Vorläufern, mendelsche Allele, wurde nicht die mythische Macht zugeschrieben, die Du ihnen zumißt.
Dieser "Fingerfehler" ist wichtig, weil der Mythos einer maßgeblich unabänderlichen "Substanz" der Person allerdings wesentlich älter ist, womit klar ist, daß er in der Genetik in erster Linie nur neues Bildmaterial fand
b) Eine "These" kann nicht gültig sein bzw stimmen oder nicht stimmen.
Ich bin ziemlich sicher, Du kommst auf diesen Unfug, weil Du implizit an der Kehrseite des Mythos anknüpfen willst, nämlich daß fast noch jedermann den Einwand gehegt hat, "so", "so ganz" könne das mit der Determination der Person nicht stimmen.
Damit komme ich zum eigentlichen Punkt.
Aus a + b) hättest Du den Hinweis darauf gewinnen können, daß der Mythos stets "the dark side of the moon" war, nämlich die Kehrseite des moralischen Auftrages, zwischen Gut und Böse zu wählen.
Spätestens das hätte einen Grund abgegeben, den Mythos anzugreifen, statt ihn mit dem Verweis auf Epigenetik nur einzuschränken und in dieser Einschränkung zu relativieren , weil solche Relativierung im gg. Zusammenhang nur zur Befestigung dienen kann.
Stattdessen teilst Du den Mythos halt bloß.
Indem Du schreibst:
"Denn selbst wenn Menschen exakt über die gleichen Gene verfügen, unterscheiden sie sich häufig in den Mustern der Genaktivität und damit auch in ihren Eigenschaften."
Unterstützt Du die 121 -Beziehung zu "Eigenschaften", die ihm zugrunde liegt.
Falls Du - z.b. - meine Auseinandersetzungen über das Thema "Intelligenz" verfolgt haben solltest, gibt es da die Verkennung dessen, was "Erblichkeit" überhaupt aussagt. Wenn ich ein beliebiges kombiniertes Merkmal konstruiere, z.b. "grüne Augen, ewig gierig und kann nicht bis drei zählen", dann kann ich damit nach der Begrifflichkeit der Genetik einen "Phänotyp" ausheben zu dem es unweigerlich einen Genotyp geben MUSS, sofern es nur ein Individuum gibt, auf das die Beschreibung zutrifft. In diesem Sinne ist das Merkmal "IQ=130", selbst als der relative Wert, der es ist, bezüglich der zwei Maßeinheiten, nämlich dem Test einerseits und der Referenzpopulation andererseits, erblich. Und zwar logisch gesehen "100% erblich", die Abweichungen von den 100% erscheinen in diesem Konstrukt als Umweltsensitivität der Anlagen ... oder eben nun auch als "epigenetische Faktoren".
Klar kann man diese Erblichkeit dann auch beobachten - wie sollte es wohl anders sein, bei einem Merkmal von einem Komplexitätsgrad, das sich IMMER auf Genexpression und deren Varianz abbilden lassen MUSS.
Ist damit was gewonnen? Ist damit was darüber gesagt, WAS es denn sei, das in Intelligenztestergebnissen zum Vorschein komme, ob es eine in die Subjekte hinein erfundene Größe ist, oder nicht? Etwas über den offenkundigen Mythos der "Intelligenz"? Ist Aufklärung geschehen?
Nö, kein Stück!
Nichts für ungut
Tom