Die Anarchie-Maschine

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''Natuerlich konnte er jetzt wieder nichts dafuer!
Aber fuer was hatte Paule je etwas gekonnt?
So einer lebt ja fuer sich hin wie ein Tier!
Was morgen war, das ging schon ueber seinen Horizont!''

Bertolt Brecht, Anna haelt bei Paule Leichenwache

Das digitale Leben reißt uns taeglich mehr und mehr in den Strudel der Gegenwart, verengt unseren Blick auf die Zeit allein auf die Gegenwart. Dabei ist Zukunft nur noch die immer die verschwindend geringe Weile bis zu dem Punkt, an dem sie in die Gegenwart eintritt. Je uebervoelkerter dieser Planet wird und je staerker und beschleunigt-dynamischer er gerade von den niedergehenden westlichen Staaten (auch und gerade unsere BRD zaehlt dazu!) in offensichtlicher Frivolitaet ausgebeutet wird, umso mehr werden wir an die reine Gegenwart gekettet. Politik faehrt selbst nach eigenem Bekunden nur noch auf Sicht, angeblich weil sie so volatil geworden ist, dass sie weiter als zB maximal eine Regierungsperiode gar nicht mehr schauen mag. Tatsaechlich aber, weil sie sich weiter zu schauen gar nicht mehr wagt: die Politik wagt keine Utopien mehr, da sie gewaltige Angst vor einer Zukunft hat, die unweigerlich kommen wird und in der jegliche politisch-gesellschaftliche Gestaltungsmacht nur eine Regulationsschraube zur Verminderung destruktiver und anarchischer Tendenzen sein wird. Politische Systeme gehen dann von der Regierung allein noch zur Regulierung ueber. Sie regulieren ja jetzt schon nur.

Es mag ueberhaupt nicht verwundern, dass eines der Modewoerter dieser Zeit das ''Momentum'' ist, der große Augenblick in der Zeit eines Individuum oder einer Gesellschaft, ein Punkt in der Zeit, in dem alles moeglich ist und den die Griechen ''Kairos'' nannten. Wir verleben alle zunehmend nur noch Momente, aber ob die groß sind, bleibt meistenteils offen und ungeklaert. Wir werden bereits zunehmend vergangenheitsblind gemacht (oder unterliegen einer Verklaerung der Vergangenheit), aber noch schlimmer ist es, dass die groeßte Errungenschaft des Menschen in Gefahr geraet: die Perspektive nach vorn, die Prospektive, die Utopie, eine Bewegung des Geistes ueber die gegebene Gegenwart hinaus und zwar eine große Bewegung! Die ueber die reine konfirmierende Gegenwart, ueber die Realitaet und das Bestehende hinausweist. Dieser Sprung wird zunehmend nicht mehr vollzogen.

Am Beispiel der BRD laesst sich dies bestens festmachen: es gibt kein gesellschaftliches Großprojekt mehr. Das groeßte Wagnis ist Politik, die aus der 1980-er Jahre-Vergangenheit hervorgekramt wurde, der Atomausstieg aus Notwendigkeit, darueber hinaus ist nichts scharf Umgrenztes zu erkennen. Man scheint auf ewig profitsuechtigen Unternehmen einen guten liberal-zynischen Naehrboden bereiten und ansonsten Arbeitslose miserabel verwalten zu wollen, Lobbyisten bedienen und von Augenblick zu Augenblick regieren zu wollen. Aber wo bleibt ein großer Wurf? Wo ist der neue Gesellschaftsplan fuer die Zeit nach dem Zusammenfall der Neoliberalen Moderne westlicher Praegung? Wohin mit den Arbeitslosen, wohin mit all der Wut auf die regulierenden Regierungen, wohin mit den Schulden, wohin mit den hohen Anspruechen, wenn sie nicht mehr zu bedienen sind in wenigen Jahren, wohin mit dem Konsumrausch, wenn Konsum kaum noch moeglich sein wird?

Deshalb staffiert man uns die Gegenwart immer bunter, aber unser politisches System erstarrt in dieser politisch-gesellschaftlichen veroedeten Landschaft. Und die meisten von uns machen mit...eine dilettierende Regierung, um mal im deutschen Beispiel zu bleiben, nimmt uns in Geiselhaft fuer die ''Bruttosozial Republik Deutschland'', verkauft unsere Traeume an Lobbyisten, haelt sich Langzeitarbeitlose als Sklaven fuer gemeinnuetzige, in Wahrheit aber absolut unnuetze Arbeit.
Gegen all das haelt man uns immer nur die Gegenwart, stellt uns noch mehr bunte Bilder parat, wir machen noch mehr bunte Bilder, kreisen noch mehr um unseren eigenen austrainierten Bauchnabel, kaufen und kaufen und kaufen und kaufen, (solange es noch was gibt), ahnungs- und besinnungslos, schlachten noch mehr Tiere in noch kuerzerer Zeit in Millionenhoehe, fressen noch mehr, und suhlen uns in unser Frivolitaet und das viele reichhaltige Essen, das wir wegschmeißen, laesst uns den naechsten Schmaus morgen nur noch besser schmecken.

Klar, da gibt es noch die Drecksecken in Afrika, aber da wird eh nichts mehr draus und China und Indien und die Suedamerikaner kommen doch jetzt auch zum Zuge, da sinkt unser schlechtes Gewissen, nein, vielmehr noch: es steigt unsere Gier! Diese dreckige westlich-imperialistische Gier nach ''teeth, nails and claws'', diese Gier nach Macht ueber die Rohstoffe dieser Erde, diese Fressucht, diese Neu-Gier, dieses Verlangen, sich alles unter die Naegel zu reißen und diesen ''Vorsprung durch Technik'' dann als ''Aufklaerung'' zu verkaufen...zu verkaufen.

Dass kaum einer das so sieht und begreift: wie sich der Westen in den Planeten hineingefressen hat. Wie er sich mit der Globalisierung dann selbst sein Grab geschaufelt hat (wir alle schaufeln derzeit an diesem Grab), da haben die Analysten und Banker und Masters of the Universe damals weit, aber nicht weit genug gedacht: neue Weltmaerkte wollte man nach dem Zerfall der UdSSR erschließen, sie alle westlich-imperialistisch erschließen, leider wendete sich der Speerstoß um, gegen den Westen. Die Gier wurde immer kurzatmiger, immer mehr auf den großen Beutezug in der Gegenwart angesetzt, immer gefraeßiger, bis sie sich gegen sich selbst wendete...der Konsum wendet sich jetzt gegen uns, die Gier wendet sich gegen uns, die Gier frisst uns...''unsere Kinder sollen es mal besser haben'', und das hatten wir es dann auch: besser, so gesehen, aber jetzt sprechen wir: ''unsere Kinder werden es mal sehr viel schlechter haben''. Denn, nicht wahr?! Wir sind frivole Schweine geworden...

Die Natur hat der Westen ueber zweitausend Jahre ausgenommen und ausgebeutet und aufgefressen und geknechtet und jetzt, als wir meinen, den Rest davon noch zu retten, da fangen ploetzlich unsere alten Sklaven im Osten damit an, das alles wegzuholzen und zu verdrecken und aus der Erde zu holen. Was ist das fuer eine globale Gefraeßigkeit...und Wachstumsbeschleunigung per deutschem Dekret! :

raumgewinner.blog.de/2009/12/03/wachstumsbeschleunigungsgeschwaetz-politische-phrasen-politik-seditivum-ueberraschendes-licht-ende-tunnels-7506190/

...ja, alles kann man noch eine Weile beschleunigend wachsen lassen, aber die Erde wird nicht groeßer.

Eine weitere Eilmeldung: das Internet wird uns auch nicht retten! Was soll uns da retten? Bald werden die Staaten noch viel mehr entdecken, was mit dem Internet so alles moeglich ist. Die digitale Tyrannis ist absolut moeglich...absolute Transparenz, digitale Meldepflicht, Raumbewegungsmuster von Individuen und Massen, Informationsverstellung, Ablenkung der Massen, Spielplatz verbloedender Massen.

Die Leute haben doch Angst, ueberall Angst, Ueberfremdungsangst, Platzangst, Angst vor Armut und Angst vor der Realitaet, aber die machen da nichts draus. Die Angst laehmt und blockiert, die Regierungen spiegeln dieses Versagen, ganz sicher sind die Maerkte nicht schuld, die selbstbereinigenden Maerkte, die Profite, der Kommerz, die unsichtbare Hand des Marktes, der Markt wird uns sicher wieder retten. Der Markt macht alles wieder gut, da lass mal halb Europa den Schuldencrash machen, da lass mal halb Afrika in den naechsten fuenfzig Jahren vor Hitze krepieren, der Markt richtet das. Der Markt hats auch nach 80 Millionen Weltkriegstoten damals wieder gerichtet, ''Deutschland gefaellt das'' und wird innerhalb weniger Jahre vom Top-Killer zum Wirtschaftswunder der Welt.

Entschuldigen Sie, wenn ich das schon immer fuer krankgehalten habe. Da braucht man nicht boese zu sein, dass zur Aufhellung der deutschen Ruestungsindustrie 200 Leopard-Panzer nach Saudi-Arabien oder irgendwelche Panzerboote nach Angola verkauft werden, der Westen hat immer Krieg und Feindseligkeit exportiert. Deutschlands Wirtschaft wird auch am Hindukusch verteidigt, selbst wenn man in Libyen mal fromme Zurueckhaltung uebt.

Kann mir bitte mal einer den Gesellschaftsvertrag zeigen, damit ich nachschauen kann, ob ich den je unterschrieben habe? Denn, wenn es nicht so sein sollte, dann wuerde ich gern von diesem Vertrag zuruecktreten. Ich bin doch nicht der Einzige, der hier wuetend ist, sonst wuerde ich doch hier gar nicht so laut, Mann!

''Dabei ist das Wort ''Investmentbanker'' nur ein Synonym fuer den Typus Finanzmanager, der uns alle, fast die ganze Welt, in diese Scheiße geritten hat und jetzt schon wieder dabei ist, alles wieder genauso zu machen.''

Helmut Schmidt, Das Geldhaus (ZEIT-Leitartikel vom 14.7.2011)

Muessen uns die ''alten Saecke'' schon derart hochspitzen, dass wir es kapieren? Schmidt und Stephane Hessel, ''Empoert euch'', die haben doch ganz recht!

Lass uns doch den ganzen Mist jetzt kaputthauen, das ganze System mal so richtig krachenlassen. Aber dann muessen wir uns auch mal bewegen, den Arsch hochkriegen und nicht mehr ''Ja und Amen'', lieber ''Ja, und die Armen?'' zu alledem sagen, mal wieder eine Faust recken und den Kampf anarchisch aufnehmen. Das da oben ist doch nicht mehr die Volonte Generale...wo ist denn da bitte mein Wille, wo ist da euer Wille, dass eine Staatsmaschine so blindwuetig in die Irre laeuft?

Wir muessen Anarchie-Maschinen werden, wir muessen ein ''Dagegen'' postieren und das kriegen wir nicht, wenn wir via facebook Barack Obama als Freund adden oder uns all die schoenen bunten Bilder anschauen und uns freuen, wenn der Postbote heute schon wieder klingelt, weil wir ein Schnaeppchen gemacht haben bei Group-on oder Ebay oder Zalando oder...die lachen doch ueber uns.

Dazu muessen wir den Mund aufmachen und sagen, was Sache ist, mal wieder was anderes angucken, als nur die bunten Bilder im Internet, muessen radikal werden und den moderaten Diskurs verlassen, der hilft uns jetzt nicht weiter, da landet man am Ende sonst bei der FDP oder der SPD und trinkt wieder nur lauen Kaffee im Regierungsviertel.

Wir arbeiten angeblich fuer die Rente, aber wollen wir in einem solchen Dreckssystem alt werden? ''Leistung muss sich wieder lohnen'', aber sie lohnt sich nicht im System-Zusammenhang, je mehr du machst, umso mehr beutet dich dieses System aus.

Wie koennten wir eine Utopie leben, wenn wir uns vom System bespaßen lassen?
Das Konsumsystem verliert nur dadurch an seiner durchschlagenden, fast alle politischen Bestrebungen des Einzelnen laehmenden Kraft, wenn wir es endlich lernen, Verzicht zu ueben.

Wir muessen die Punkte finden, an denen wir Verzicht, und sei es bitteren Verzicht, auf Verknuepfung und starke Einbindung in den System-Zusammenhang ueben, damit wir die Punkte finden, an denen wir ansetzen koennen, dieses System zu aendern, eine Utopie dagegen zu formen. Wie die dann aussieht, dazu hast du doch selbst sicher auch ein paar gute Ideen, du lieber Leser. Wir werden zusammen daran wirken...dies ist nur ein erster Impuls. Die Angesprochenen werden sich notwendig angesprochen fuehlen. Eine vorerst nicht-militante Frontstellung aufbauen, das faengt zunaechst klein und leise an, aber dann wird das ''NEIN!'' schon lauter vernehmlich.

Revolutionaere Leistung muss sich wieder lohnen...setzt eure Anarchie-Maschine in Gang.

...davon naechstens viel mehr...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Paul Duroy

Der Weg in die neu aufgeklaerte und entspannte Gesellschaft ist moeglich und noetig

Paul Duroy

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