Die Zwangsjacke auf der Wäscheleine

Radikal am Ende Erste mutige Schritte im Üben des Verzichtes und dem Ausbruch aus dem System

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“Ich bin beinahe täglich am Ende.“

Der Charakter Paolo Hoffmann in Thomas Manns Novelle “Wille zum Glück“

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“Vielleicht sagst Du: ‚Es ist wohl so, daß die Welt im Argen liegt, aber mir ist es doch bisher durch ein stilles Leben geglückt, glücklich durchzukommen.‘
Darauf muß geantwortet werden: ‚Sieh Dich nur vor, ob sich dies machen läßt. Es hilft nichts, daß Du mit dem Mund sagst, daß die Welt im Argen liegt. Indem Du gut durchkommst, drückt Dein Leben aus, daß es doch eigentlich eine ganz gute Welt ist. Nein, liegt die Welt im Argen, ist es ein demoralisiertes Geschlecht, in dem Du lebst, dann hast Du kein Recht, gut durchzukommen, d.h., es läßt sich nicht machen, ohne daß Du auf die eine oder andere Weise Mitschuldiger bist.“

Sören Kierkegaard, Geheime Papiere

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Eine Revolte, so hat es sich öfters angefühlt in mir in letzter Zeit. Eine Revolte gegen das System, bloß: gefühlt. Eine Revolte gegen das Mitlaufen oder Mitgezogenwerden. Eine Revolte gegen den Zeitgeist einer (aber welcher bloß?) Epoche. Hat man sich es wirklich ausgesucht, in dieser Zeit zu leben oder vielleicht besser: will man überhaupt in dieser Zeit leben? Gut, die existentielle Geworfenheit…man kann es sich nicht aussuchen. Nicht die zoologische Gattung, nicht das Zeitalter und die Herkunft, nicht das Publikum. Und dieser Schmerz: nicht jammern zu wollen im Jammertal eines auferzwungenen Paradieses. Und die Revolte dagegen ist eher etwas, das mir widerfährt als etwas, das ich gestalte. So zumindest verhielt es sich bislang.


Es gibt immer diese schlauen Tipps einiger Unverdrossener, teils zugegeben simplerer Charaktere: “Guck auch mal auf die guten Seiten dieses Zeitalters“. Das ist ja exakt das, was das System will: schau auf die guten Seiten! Das ist seine ganze blendende Fassadenkunst und während man auf die glitzernden Flächen schaut und staunt und das System einen antanzt und ablenkt, wird hinter den Kulissen der ganze Dreck vollzogen. Eine Bequemlichkeitsübereinkunft aller mit dem System. Ein eingekaufter Nichtangriffspakt. Eine immerwährende comfort zone des Gutgehens, die fortwährend ihre eigenen Bedingungen untergräbt. Da werden 5, 6, 7, 8 Leben in einem gelebt und man schaut, wielange das gutgehen mag. In der Zwischenzeit kündigt der Autor dieser Zeilen hinter den Kulissen seinen klimapolitisch radikalst zu denkenden Text “Das Rascheln der Wälder“‘ an und versinkt indes doch in spleeniger Melancholie. Und worüber?


Über das Eingebundensein in Zusammenhänge, die man nicht ignorieren kann, wo man sie gern ignorieren würde. Das Downgrading der eigenen intellektuellen Hypersensibilität zur Idiotie und zwar die dessen, der sich über die Verworrenheit der Zusammenhänge dazu entscheidet, intellektuell simpler aufzutreten, will mir nicht gelingen. Wenn bei alledem aufgestörter Intellekt auf dieses “Zeitalter“ trifft, sorgt das für immerwiederkehrende Titanic-Momente in meiner Biographie. Wobei mir bei der Evokation dieser Metapher auffällt, wie passend das Bild eines monumentalen Eisbergs für das kapitalistische System und seine prekäre Persistenz ist. Aber lassen wir das.


Ich will also kein Idiot im Buddha-Modus sein und vermeintliche Zen-Ignoranz und die daraus resultierende Seligkeit (or so they say) erlangen. Ich will mir auch keine Zeitungen herbeisehnen, in denen nur gute Nachrichten stehen oder bloß positive Zusammenhänge oder gar bescheuerte Bücher von Steven Pinker lesen. Alles gut…nicht wahr?!


Stehengeblieben aber waren wir oder wollten es bleiben bei der Übereinkunft zur Bequemlichkeit aller mit dem bestehenden System des invasiven Kapitalismus. Die Perfidie, mit der man die Meisten dazu dressiert hat, so ziemlich alles, was man haben kann, auch haben zu wollen. Wir Erkennenden aber müssen schnell (SCHNELL!) radikal werden dagegen und radikal, das bedeutet: verzichten! Radikal, das bedeutet nicht bloß die Augen verschließen, gegenüber dem, was sich ereignet und dem, was uns so vorgesetzt wird, sondern es bekämpfen. Durch Verzicht. Radikal. Verzicht ist eine Meditation. Verzicht ist das Stärken des Willens zum
Nicht-Erlangenwollen. Ein Wille, der nicht viel will. Ein Wille, der autonom(!) will, indem er nicht etwas will. Und im Wendeschluss, indem er etwas nicht will.


Es erscheint mir wie aus einem anderen Zeitalter gegriffen (und wahrscheinlich war es das auch), als ich vor fast exakt zehn Jahren, die mir entweder extrem fern oder sonderbar nah erscheinen, in mein Jahr des Verzichtes auf im Wesentlichen fast alles Konsumierbare ging, ein Jahr ohne Einkünfte oder irgwelche Versicherungen, ein Jahr ohne Zugang zu Elektrizität oder dem Internet (zumindest nicht daheim), ein Jahr des Weniger.


Geboren war der Entschluss dazu zu wirklich gleichen Teilen aus der Not und meiner tiefen Überzeugung zugleich, eine im wahrsten Sinne des Wortes Koinzidenz der Notwendigkeit mit dem freien Willen. Ich wollte nicht länger arbeiten für Dinge, die ich nicht haben will oder mich abstrampeln für Zusammenhänge, in die ich mich eingebettet fand, mit denen ich aber wesentlich zutiefst nicht zu tun hatte oder zu tun haben wollte. Ausbrechen aus dem System, soweit das im invasiven Kapitalismus überhaupt möglich ist. Verzichten. Den Verzicht üben. Eine Meditation in Bedürfnislosigkeit.


Was soll man auch wollen? Alles bloß konsumptive Plethora und Dinge, die einen unangebracht verwickeln im System. Wir müssen das nicht haben. Wir müssen uns abkoppeln vom System. Weniger kaufen, allein auch schon: weniger “wollen“. Den Willen nicht an Objekte heften. Den Willen immaterielle Werte wollen lassen. Stark werden, indem man NICHT kauft.


Der Kapitalismus ist unmenschlich. Eine virtuelle Kraft, die sich von ihrem Schöpfer ablöst und ihn sich dienstbar macht. Der grenzenlose Kapitalismus der Gegenwart extrahiert den Mehrwert aus allen Zusammenhängen und hinterlässt die Objekte dieser Extraktion als Schlacke im System. Die perfide Architektonik des invasiven Kapitalismus besteht in seiner Verantwortungslosigkeit: je ungebremster und ungehemmter er brummt, umso schillernder und vitaler kann er sich selbst darstellen bzw darstellen lassen. Er wirkt funktional und extrem pragmatisch und zielführend, wenngleich er von keinem größeren Ziel weiß als der Steigerung von Profit. Jeglicher Nutzen ist Kollateralnutzen: nicht nachhaltig, reiner Belohnungshormoneinschuss wie eine Droge: kurzfristig wirkend und das eigene Objekt auf Dauer zersetzend.


Die meisten Menschen überfordert das Denken in den größeren Zusammenhängen gewaltig. Für eine Metaphysik des Kapitalismus haben sie keine Zeit, sondern bloß ihre Sorgen und Nöte, die schon kompliziert genug erscheinen und sie müssen wirken im System (glauben sie oder lassen sie sich weismachen) und so kommt es nicht zu einer Absatzbewegung. Sie haben verlernt, das Radikale zu leben oder auch nur zu denken. Sich Alternativen vorzustellen und den Mut zu haben, diese zu leben. Sie haben verlernt, zu verzichten. Eine das Bewusstsein potentiell ins Unermessliche steigernde Digitalität versetzt sie in einen Haben-Müssen-Rausch bzw -Taumel, dem sie nicht entgehen. So ist man am Ende zudem bereit, ganz einfach als gegeben zu akzeptieren, dass diese gekauften Dinge, die niemand wesentlich braucht, bereits nach kürzester Zeit defekt sind oder schon direkt beim Kauf defekt sind. Das System verkauft Müll, dead on arrival.


“Soso. Und was war nun mit deiner Verzweiflung?“…höre ich unleidige Leser schon wieder raunen. Und sie haben ja recht. Ich bin des Abschweifens zu zeihen. Vielleicht also ist es an der Zeit oder, lokaler gefasst, am Orte, zuzugeben, dass ich radikal am Ende war zuletzt und das ganz im Sinne des Helden der oben zitierten Mann’schen Novelle, “beinahe täglich“.


Bei einem Besuch meiner Mutter vor einem Jahr, verloren sich meine frühmorgendlichen Gedanken im Gespräch noch unbewusst abgelenkt durch ein weißes breites, derart fast segelähnliches Flattern im lauen Morgenwind: auf einer Wäscheleine flatterten einige Zwangsjacken in strahlendem Weiß wie ein komplett schief geratenes Symbol für einen frischen Start in einen optimistischen Tag. Als der bremsende Einfluss meiner Müdigkeit von meinen Synapsen innerhalb einiger Sekunden korrigiert wurde, wurde mir selbstredend klar, dass die Metapher auf vermeintliche optimistische Tagesfrische den entscheidenden Bruch in der Dubiosität des entsprechenden Textilstückes fand. Aber dann ging mir auf, eine um wieviel mehr stimmige Metapher auf mein tägliches Leben und Erleben im digital beschleunigten Kapitalismus dieses Bild aus dem Fenster dort im Innenhof des Sanatoriums ergab: täglich rein in die frisch gewaschene Zwangsjacke des Systems.


Denn wenn das System, in welchem ich mich notwendig eingebettet vorfinde, eines ist oder zu einem wird, das meinem Wesen zutiefst nicht oder nicht mehr entspricht, so bleibt mir konsequent nur, solange ich den Selbstmord als Option ausschließe, mich als in einer Zwangsjacke im System vegetierend wahrzunehmen. Um es mal drastisch bis drakonisch auszudrücken. Das eigene Uneinverstandensein gegenüber einem neuerungswütigem Zeitalter findet seinen Ausdruck dann im Verrücktwerden an ihm selbst, wenn einem zu kooperieren nicht als Möglichkeit erscheint. Dann also sind der Wahnsinn und die Verzweiflung (im stilleren Grad die Resignation) folgerichtige Begleiterscheinung des digitalen Consumer-Zeitalters.


Oder aber man macht die Rechung, um das Irrewerden zu vermeiden, anders auf und lebt in voller Überzeugung radikal dagegen. Solange und falls überhaupt noch der Raum für eine solche freie Entscheidung gegeben wird oder gehalten werden kann (man wird ja ohnehin schon genug zum Mitmachen aktiviert). Die Emanzipation von der Konsumgesellschaft erfolgt also zunächst durch einen souveränen Akt der Bewußtbarmachung. Dieser ist unbedingt nötige Voraussetzung, um nicht mit in den Sog aus generierter und angelernter Bewusstlosigkeit zu geraten, den die Realität der Ist-Zeit erzeugt oder, sollte man sich bereits im Sog befinden, sich wieder aus ihm zu befreien. Sonst ist alles nur noch bewußtloses Hinterhertaumeln im Meer der Verworfenen und man nimmt teil an einer Idiotie der bloß die Realität Konsumierenden und sie durch willfährige Adaption der bestehenden Verhältnisse Reproduzierenden, die zwar zunächst noch eine Weile unausgesprochen empfinden mögen, dass etwas Äußeres sich gewaltsam zu ihrem eigentlichen Wesen in ein fast unerträgliches Missverhältnis gesetzt hat, sich dann aber darein fügen wie in ein unabwendbares Schicksal und so kooperieren, um sich anzupassen und keine Reibung zum neuen System mehr zu empfinden. Mitmachen ist oft einfacher, wäre hier die platt formulierte Bottomline.


Lassen Sie es mich noch einmal anders fassen, für alle die Leser, die später fast harmlos-beiläufig einstreuen werden, sie verstünden mal wieder nicht alles. Reflektiert werden soll auf die Fragen: “Brauche ich alles, was man mir vorgibt, brauchen zu müssen/sollen?“. “Muss ich allem Neuen hinterher hecheln, um mich so zu fühlen, als lebte ich zeitgemäß?“. “Wie verhalten sich meine eigenen intrinsischen Bedürfnisse zur bloßen Wunscherzeugung, die von außen an mich dringt?“. Konsequenter gefragt: “Wie diszipliniere ich mich selbst? Wie schaffe ich Verzicht?“- eine radikalere Übersetzung der Ursprungsfrage: “Was brauche ich überhaupt?“, da sie schon voraussetzt, dass es ohnehin viel mehr gibt, auf welches ich verzichten werde können und von dem ich nicht weiß, gerade im Zeitalter der Affluenz, also des gänzlich irrationalen Überschusses an Konsumgütern.


Wenn man dieses Unbehagen am Zeitalter empfindet, soll man sich eingestehen, dass man radikal am Ende ist. Aber nicht resignativ, sondern proklamativ am Ende. Und sich selbst dieses Sich-in-reflektiertes-Unverständnis-mit dem Zeitalter-Setzen bewußt machen und entsprechend konsequent handeln. Den Geist befreien vom Zuviel. Den Geist zugleich befreien von der Jagd auf das Zuviel. Und diese Gedanken mutig formulieren. Sie nicht nur wie ein privates Gut vor sich hertragen, sondern sie proklamieren und leben. Denn anders kommt keine Änderung in die Welt und einer Änderung bedarf diese Welt, all das Pathos schon bewusst gewählt, dringend. Das System, das sich derzeit an unserer Lebenswelt, der Natur, sattfrisst, ist kein nachhaltiges Lebenssystem, sondern eine hypertroph effiziente Durchlauf-Maschinerie, die es für vielleicht 100-200 Jahre einigen Generationen ermöglicht hat und ermöglichen wird, wie Halbgötter im Paradies zu leben, bevor die unfassbare luxuriöse Vulgarität desselben, die Bedingungen dafür so nachhaltig untergraben und vernichtet haben wird, dass die Generationen danach entweder gar keine oder eine auf das vorzivilisatorische Primitive reduzierte Lebenswelt vorfinden werden. Diese Feststellung ist kein Katastrophismus, sondern komplett nüchterne Projektion.


Sollte der ein oder andere Leser jetzt noch skeptisch in Bezug darauf sein sein, diskutieren wir über all dies, sagen wir: im Jahre 2060 noch einmal gemeinsam, wenn wir uns zugleich eine Erde vorstellen dürfen, die dann bereits knapp 10 Milliarden Menschen wird ernähren und eventuell sogar weiterhin ihre maßlosen “Bedürfnisse“ bedienen müssen, die aber deprimierend anzuschauen sein wird. Und egal was unsere Disruptions-verliebten Tech-Solution-to-Everything-Jünger aus dem Silicon Valley und ihre zwangsbeglückungswilligen Papageien rund um den Globus auch so propagieren: in dieser Welt wird es Myriaden von Probleme, aber kaum “Solutions“ darauf mehr geben. Wer in der Gegenwart “Solutions“ auf Probleme verspricht, die man selbst durch “Disruption“ überhaupt erst generiert hat, wird in Zukunft nicht mehr ernsthaft erwarten dürfen, im Land, wo Milch und Honig fließen zu leben. Auf solche Utopien verzichten wir gern. Hier anders zu handeln, bewußt zu handeln, zu verzichten und eine kommunitaristische Gesellschaft anzustreben, heißt tatsächlich mit Nietzsches Wort gesprochen, “der Dummheit Schaden zu tun“.


Und weil wir ja wie oben vereinbart, den Selbstmord als Option ausschließen, so wollen wir doch so souverän uns dazu entschließen, allen katastrophalen Entwicklungen zum Trotz, ab sofort dagegen zu handeln. Nicht mehr mitmachen. Anders hoffen. Nicht mehr hoffen, dass der Markt die Dinge schon regelt. It’s not the economy, stupid! Zumindest nicht die (und verzeihen Sie mir im Folgenden für einen Moment die Adjektivkette) entfesselte invasive digital-katalysierte neoliberale Wachstumsökonomie. Sondern in Zukunft eine maßhaltende Post-Wachstumsökonomie. Ein bescheidenes und verzichtendes Wirtschaften. Politisch organisierte Umverteilung, die zudem exzessive Fehl-Allokationen von Profit vermeidet. Auch dazu beim nächsten Mal mehr.


Verzeihen Sie es mir, liebe Leser, wenn dieser Text für heute in der fragwürdigen Mitte zwischen Beschreibung von Befindlichkeiten und einer Form der Agitation landet und also zumindest darauf nicht verzichten konnte, aber mehr war mir für diese Zeit meiner Erschöpfung abzuringen vielleicht auch nicht gegeben. Vielleicht fängt Verzicht schon dabei an, nicht alle Weltprobleme allein an einem Tag in einem Text (ausgerechnet da!) lösen zu wollen oder zu können. Aber zumindest war es mir schon um den Verzicht zu tun. Unterhalten wir uns beim nächsten Mal über Verbote. Wenn Verzicht ein Hasswort des konservativen Genussmenschen ist, so ist das Verbot der Beelzebub in der guten warmen Stube des systemkonformen Mittelklassebürgers. Und allein schon darum einen eigenen Text wert.


…nächstens mehr…
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Paul Duroy

Der Weg in die neu aufgeklaerte und entspannte Gesellschaft ist moeglich und noetig

Paul Duroy

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