Osama bin Ladin und das ausbleibende Photo-Finish

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''Vergebens stellst du den ueberspannten romanhaften Menschen, den exzentrischen Geistern, die Gruende der gesunden Vernunft vor, sie werden dich wie einen gemeinen Menschen, ohne Gefuehl, ohne Sinn fuer das Große, verachten, Mitleiden mit deiner Weisheit haben und sich lieber an ein paar andere Narren von aehnlichem Schwunge anschließen, die in ihren Unsinn einstimmen. (...)
Selten aber richtet man ueberhaupt etwas mit solchen Menschen aus, und es ist am besten getan, der Zeit ihre Kur zu ueberlassen...''

Adolph Freiherr Knigge, aus: Ueber den Umgang mit Menschen

Liest man die beruehmte Schrift des Freiherrn von Knigge einmal sehr gruendlich und unvoreingenommen fuer das, was sie wirklich ist (ein sehr amüsanter, wenngleich mitunter etwas blasierter Leitfaden fuer den Umgang mit unseren Mitmenschen und nicht etwa die immer vermutete Benimm-Fibel ''Knigge'', wie viele Spießbuerger es uns oft weismachen wollen), faellt einem auf, dass der Freiherr in seinem Leben wohl viel an der Dummheit seiner Zeitgenossen und manchen Mitmenschens gelitten haben muss. Seine gesamte Schrift atmet den Geist einer Erbauungsschrift, eines Trost-Pamphlets fuer Mit-Leidende.

Denn es stimmt: Dummheit tut weh, aber leider immer nur denen, die nicht dumm sind. Sie leiden an der Dummheit der Anderen.
Aber machen wir nun erstmal einen gehoerigen Sprung zurueck, reden wir eine Weile ueber Bilder...

In unserer bildgewaltigen Zeit jagt ein Bild das andere. Ein jedes Ereignis hat sein Bild und sein Gegen-Bild, tausend Bilder und tausend Gegenbilder, zunehmend auch: konstruierte Bilder. Und Bilder, die vervielfaeltigt und beschleunigt werden...Milliarden Bilder, die im Minutentakt auf unser Bewusstsein einprasseln.

Nur wenige Bilder schaffen es in unser Langzeitgedaechtnis. Dies sind die Bilder, bei denen wir spueren, dass sie idealtypisch zusammenfassend ab-bilden, was sich Dramatisches ereignet hat, Bilder, die einem Schock Gesicht geben oder Bilder, die einer Epoche ihren Stempel aufpraegen, wie die Flugzeuge, die in die Twin Towers in New York fliegen, die chromsilbern glitzernden, sonnenbeschienenen Metallstreben-Fassaden der Tuerme, das mattgrau-silberne Glitzern der beiden Flugzeuge, kurz bevor sie in die Tuerme krachen. Danach wiederum das Bild eines Feuerballs...Bilder, die bleiben...

Dagegen: Ikonen. Eine Ikone bezeichnet das Portraet eines Heiligen. Das ueberzeitlich wirkende Bild einer idealtypischen Abbildung eines Großen, eines Goetzen, eines Helden, der er in den Augen der Anbeter sein mag.

Ikonen. Die Heiligenikonen der Russen, die vom originaeren Heiligenbildnis ins Saekulare mutierten und so dann Politiker abbildeten wie zB Lenin oder spaeter das Photo Che Guevaras von Korda oder eben nun das sanft-diabolisch laechelnde Gesicht des Osama bin Ladin. Eine Ikone, die die US-Regierung nun geschaffen hat, indem sie sich entschloss, das Gesicht des erschossenen Bin Ladin nicht als Fotobeweis fuer seinen Tod zu liefern. Das ausbleibende Beweisphoto nun fuehrt zu zwei sehr bemerkenswerten Phaenomenen:

a) es fuehrt zur Ikonisierung Bin Ladins. Es wird in einigen Jahren auch im Westen nicht mehr schandhaft sein, ein T-Shirt zu tragen, auf dem das Konterfei des Al-Quaida-Chefs prangt. Der Mann ist ohnehin tot und der Prozess der Verklaerung wird dann bereits ein viel milderes Licht auf ihn abgeworfen haben.

b) die Anheizung von Verschwoerungstheorien: kein Photo oder Video-Beweis, kein toter Bin Ladin. Die Verschwoerungstheoretiker (wir machen nun den Ruecksprung zu den dummen Menschen von oben) wissen es naemlich ohnehin wieder besser (aus vermeintlich ''serioesen'' Quellen, die sie wieder einmal nicht benennen werden) und gesellen Bin Ladin dem illustren Zirkel bei um den 100 und ich weiß nicht wieviele Jahre alten Hitler, der den Krieg ueberlebt hat oder einem Elvis, der noch nicht tot ist, sondern mit anderen kolossalen und amorphen Aliens hin und wieder auf der Erde landet und...aber lassen wir das nun. Jeder einigermaßem geistig gesunde Mensch weiß wovon ich rede.

Wenn also die US-Regierung sich nicht ueberraschend doch noch entschließt, die Photos zu veroeffentlichen oder diese nicht ohnehin von Wikileaks oder irgendeiner Leckstelle zwischen Geheimdienst und Journaille veroeffentlicht werden (da sie existieren, kann man fast unzweifelhaft erwarten, dass diese sehr bald ans grell-diffuse Licht unseres modernen digitalen Zeitalters geraten werden), wird Bin Ladin zu einer Ikone, von der der eine behaupten wird, dass er ein legitimer und aufrechter Kaempfer gegen das neoliberale und verkommene System des Westens war und der andere, dass er ein konstruiertes Feindbild der USA war, das nie wirklich existiert hat und der naechste, dass Bin Ladin weiterlebt und Anschlaege plant und...derlei weitere Gespinste.

Die Verschwoerungstheoretiker und ihre zunehmende Anhaengerschaft sind der lebende Beweis fuer die Entwicklungen, die ich andernorts bereits in ''Wahn und Wahrheitsverlust'' beschrieb: der Neo-Mythisierung der modernen Welt. Alles, was nicht mehr einwandfrei und widerspruchslos begriffen, erklaert oder (nicht zuletzt vermittels von Bildern) bewiesen werden kann, wird verklaert und mythologisch-mystisch erklaert. Das bedeutet, dass verborgene oder verblichene Protagonisten des aktuellen Weltgeschehens (welches immer beschleunigter bereits zu ''Welt-Geschichte'' wird, im uebrigen auch im literarisch-narrativen Sinn von: ''Geschichte'') zu mythischen Legenden werden, von denen man nur nebulös zu fassen meint, ob sie je wahrhaft existiert haben, oder nicht vielleicht nur aus dem ratlosen Publikum geborene Projektionsfiguren ueberspannter Sehnsuechte nach radikal alternativen politischen oder gesellschaftlichen Ideen waren.

Mit dem Zerfallsmaß der sich aufloesenden Verbindlichkeiten von Werten und Gesellschaftskonstrukten fragmentiert zugleich der vereinheitlichende und sammelnd-ordnende Blick auf die Welt. Wir werfen nun einen Blick auf die globalisierte Welt, als haetten wir Facettenaugen: 20000 Bilder auf einen Blick, Sekunde fuer Sekunde.
Es ist nun nicht so, als wenn es den Generationen vor uns nicht auch schon so gegangen waere, auch sie sahen sich zu manchen Zeiten hektischen Bildfolgen neuer Zeiten gegenueber. Aber ihr Blick konnte irgendwann, nach nicht allzu vielen Jahren, wieder stetiger werden und sich von den Veraenderungen erholen und im Nachhinein interpretieren und so Sinn schaffen.

Uns aber wird die Atempause nicht mehr gegoennt. Wir bekommen auch die Zeit nicht mehr zum Einordnen und Interpretieren. Deshalb also raetseln wir nun, wie wir mit all den inflationierenden und ueber-beschleunigten Informationen umgehen sollen. Noch mehr aufnehmen in der Absicht, alles besser zu verstehen, so aber noch mehr verwirrt zu werden? Oder uns abwenden (Stichwort: ''Ressource Ignoranz'') und uns den Informationen entziehen und den Blick de-globalisieren und ihn wieder auf Familie, Kleinstadt und Nachbars Garten werfen?

''So fuehlen wir uns jetzt. Mit elektronisch getakteter Atemlosigkeit nehmen wir Weltfinanzkrisen zur Kenntnis, einstuerzende Euro-Laender, arabische Revolutionen, japanische Katastrophen, jetzt auch noch Bin Ladin-unsere Aufnahmefaehigkeit ist bis zum Äußersten gedehnt. Und wir merken: wir wissen fast nichts.''

So Susanne Gaschke auf dem Titelblatt der heutigen ZEIT-Ausgabe in ihrem Artikel ''Die Stopptaste, bitte''.

Da darf es nicht verwundern, wenn manche die Abkuerzung nehmen und die Dinge in den Zusammenhang von Verschwoerungstheorien einordnen. Auch und gerade kluge Koepfe sind es zunehmend, die sich derart der eigenen Urteilskraft fahrlaessig entledigen und lieber andere deuten und handeln lassen. Der Verschwoerungstheoretiker weiß sich als eine Marionette am fuehrenden Puppenfaden der Maechtigen, aber er glaubt von sich, wenigstens die durchblickende Marionette zu sein.

(Sollte, um hier einmal ins persoenliche Exempel zu gehen, die ansonsten so blitzgescheite und umgaengliche Psychologie-Studentin K. aus einer Mitfahrgelegenheit, die ich kuerzlichst nutzte, diesen Beitrag lesen, so wird sie sich unbedingt angesprochen fuehlen und dies zu recht.
Liebe K., die Regierungen dieser Welt schicken keine Strahlen aus, um uns zum unbegrenzten Konsum zu manipulieren und unsere Urteilskraft abzutoeten...dazu reicht schon die einfache Werbung und das Vorbeifuehren der Kinder an bis zum Bersten gefuellten Einkaufsregalen...eine Erziehung zum Raubtier-Kapitalismus von Kindesbeinen an ist so ungemein wirkungsvoller als irgendwelche ominösen Gamma-Strahlen. Und ich bleibe dabei: die USA haben die Twin Towers nicht selbst in die Luft gejagt. Dazu habe ich uebrigens schon vor 2 Jahren etwas verfasst, aus aehnlichem Anlass, in diesem Blog)

All die Bilder, die Beschleunigung der Fakten, die ausbleibenden Bilder, die fehlende Einordnung und die non-existenten Zusammenhaenge, die vielen Millionen Meinungskanaele und das Patchworken an unserem Blick auf die Welt(en) machen uns nun alle taeglich mehr und mehr zu ratlosen Gestalten. Sehen wir aber dennoch zu, dass wir unsere Urteilskraft und Skepsis nicht voreilig und bereitwillig bereits jetzt allzu leichtfertig dahinschenken. Lassen wir uns nicht umstellen, von Bildern und Bild-Manipulatoren, von Panik und Verschwoerungstheorien...eine fromme Hoffnung stellt dieses Plaedoyer dar, das sicherlich. Ich verstehe es so: jeder ist seiner eigenen Klugheit Schmied.

Wenden wir uns dem Autor unseres Auftaktzitates, dem unleidigen Freiherrn Knigge, ein letztes Mal zu und lauschen, was er zu den eingangs vorgestellten ueberspannten Figuren noch zu sagen hat:

''Diese exzentrischen Leute lasse man laufen, so lange sie sich noch nicht gaenzlich zum Einsperren qualifizieren! Die Erde ist so groß, dass eine Menge Narren nebeneinander Platz darauf haben.''

Dieser Satz, der einstmals als Trost gedacht war, macht er uns in diesen Tagen nicht eher Angst...?!

...naechstens mehr...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Paul Duroy

Der Weg in die neu aufgeklaerte und entspannte Gesellschaft ist moeglich und noetig

Paul Duroy

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