Morsi hat sich verrechnet

Demonstration Die Proteste in Ägypten reißen nicht ab. Eine neue Koalition fordert die Hegemonie der Islamisten heraus. Die Moslembrüder haben ihre Basis überschätzt

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Graffito auf dem Präsidentenpalast
Graffito auf dem Präsidentenpalast

Foto: Pedram Shahyar

Am Freitag Abend gibt es eine große, aber sehr ruhige Demonstration um den Präsidentenpalast in Kairo. Die große Allee Itihadiya im Stadtteil Heliopolis ist voll mit Menschen, die auch in den Seitenstraßen flanieren und demonstrieren. Bis zur Mitternacht kommen immer wieder neue Märsche hier an. Die Armee-Barrieren unmittelbar vor dem Palast werden friedlich durchbrochen, die Palastgarde steht auf ihren Panzern, während die Menge durch den Stacheldraht fließt und von beiden Seiten sich vor dem Palast vereinigt.

Es sind viele Familien dabei, und die Panzer werden ein beliebtes Objekt für Fotoshootings. Verglichen zu den Demos im Downtown und auf dem Tahir sind auch deutlich mehr Frauen dabei, die Mehrheit ohne Kopftuch und es gibt auch über den ganzen Abend keine Anzeichen von sexueller Belästigung. Es ist eine neue Koalition hier auf der Straße: den Kern bilden wieder die urbanen gebildeten Jugendlichen, die unabhängig, dezentral und über Internet organisiert sind. Die Politische Formation ist die „Koalition für nationale Befreiung“, angeführt vom linksliberalen Al Baradai, den sozialistischen Nasseristen Sabbahi, und den Moderaten Mann des alten Regimes Amr Moussa. Auf den Straßen sind auch viele aus den gesetzteren Mittelklassen, die bisher in der Revolution nicht aktiv beteiligt waren und alles passiv begleiteten, die „Couch-Partei“, wie man sie hier nennt. Die geringe Dichte an Kopftüchern weist auf eine hohe koptische Beteiligung hin. Man sieht aber auch vereinzelt besonders schicke Leute, die sicher Sympathien mit dem alten Regime hatten. Im Kairo prägt der jeweilige Stadtteil auch stark die Soziologie des Protests. Heliopolis ist eine bessere Gegend für Mittelklassen und hier wohnen auch viele koptische und katholische Christen.

Die Stimmung ist ruhig, aber sehr konzentriert auf der Itihadiya. Hier hatte es vor 2 Tagen die schlimmsten Übergriffe auf Demonstranten seit Monaten gegeben. Am Dienstagwar hier eine gigantische Demonstration gegen Morsi aufgelaufen, die Zeitung Al Ahram sprach von Hundertausenden. Viele bleiben über die Nacht und campierten. Am nächsten Tag attackiert ein Mob der islamistischen Moslembrüder das Camp auf der Itihadiya, um den Präsidentenpalast frei zu räumen. Es gibt stundenlange Ausschreitungen. Wie man auf Youtube sehen kann, setzen die Gangs der Moslembrüder Schusswaffen ein: es gibt 6 Tote und über 600 Verletzte. Es trifft auch Freunde von mir, Ola, die vor 3 Wochen meinen Vortrag bei der sozialistischen „Volksallianz“ über die Proteste in Süd-Europa übersetzt hatte, wird schwer verletzt. Auch Shady war hart getroffen, er ist ein unabhängiger linker Aktivist, der im Facebook „Waldimir Illich“ heißt, und mir von seinem Projekt für freiwilliger Jugendarbeit im Süden Ägyptens und seine Idee für ein Soziales Zentrum in Kairo erzählte. Auch wenn in deutschen Medien kaum vorgekommen und der Name Hamdeen Sabbahi noch unbekannt ist, allein der hohe Anteil unter den Verletzten weist auf die bedeutende Rolle der neuen Linken in dieser Welle der ägyptischen Revolution hin.

In den späten Stunden bringen die Leute Decken, Zelte werden aufgeschlagen. Überall wird Tee und Essen verkauft, gegrillte Maiskolben sind hier der Renner.

An den Seiteneingängen benutzen die Leute die Barrieren der Armee um Barrikaden zu formieren. Ab Mitternacht werden alle Eingänge auch von behelmten Freiwilligen kontrolliert, wie auf dem Tahrir werden alle die reinkommen auf Waffen durchsucht. Immer mehr sieht man auch Leute mit improvisierten Stangen oder Baseballschlägern. Es ist alles ruhig, aber verdammt angespannt: Unweit von hier hat sich eine Demo der Moslembrüder formiert. Offiziell erklären sie, dass sie nicht zu Itihadiya gehen wollen, aber niemand traut ihnen. Man wartet auf ihr Kommen.

„Wie viele sind es“ frage ich zwei Aktivisten der Bewegung „6. April“ in einem Café in einer Seitenstraße. „30.000“. „Aber dann haben wir ja keine Chance“. „Doch doch, wir haben eine Chance, eine ganz gute sogar, das hier zu halten“, sagt Ahmed Mohammad, einer der Koordinatoren der Bewegung. „Nicht die Zahl der vorbereiteten Molotov-Cocktails entscheidet so eine Schlacht. Die Leute werden aus ihren Häusern kommen und mit uns kämpfen. Nur damit können wir gewinnen. Und wenn sie nicht kommen, dann haben wir es nicht verdient“.

Doch die Islamisten kommen nicht und in dieser Nacht gibt es hier keine Schlacht. Auch auf dem besetzten Tahrir ist es sehr ruhig. Aber sonst läuft an diesem Freitag der Alltag in der neuen Runde in der ägyptischen Revolution. In Kairo versucht ein Mob der Islamisten die Medien-Stadt anzugreifen. Sabbahis Fernsehauftritt wird abgebrochen und es gibt dann Versuche der Islamisten, ihn auf der Straße festzunehmen. Im Übrigen prüft der neue, von Morsi eingesetzter General-Staatsanwalt, die Anklage gegen alle drei Führungsfiguren der Opposition wegen Auslands-Spionage. Im Stadtteil Moquattam wird die Hauptquartier der Moslembrüder in von einer spontanen Menge attackiert. Die Zentren der Islamisten sind eines der Hauptziele der Proteste, besonders in der Provinz: in der dieser Nacht brennt es in Tanta. Sogar in Fayoum, in hoch islamistischen ländlichen Gebieten, gibt es Anti.Morsi Proteste. In Alexandria gibt es wieder Ausschreitung zwischen den beiden Lagern, ein Zentrum der Islamisten wird hier verwüstet. Mahalla, das industrielle Herz Ägyptens, und mit ihren großen Streiks von 2008 eine Art Geburtsstadt der Revolution, ist für die Moslembrüder verloren: alle Zufahrtwege und Bahnschienen sind hier blockiert, die Demonstranten erklären am Freitag ihre Autonomie von Morsis Regierung und wollen eine eigene Stadtverwaltung bilden. Heftige Kämpfe gibt es auch in Kefr Al Shiekh und in Zagazik, Morsis Heimatstadt. Aktivisten berichten auch hier vom Einsatz von Schusswaffen.

Morsis Dekret ist gerade eine Woche alt, aber diese Revolte gegen die Islamisten, so überraschend wie es kam, hat die politische Landschaft in Ägypten so rapide verändert. Das säkular-progressive Block, das Herz des Januaraufstandes, aber eigentlich eine klare Minderheit in der Gesellschaft, hat es wieder geschafft den Rahmen einer neuen Bewegung zu bilden, die die Hegemonie der Islamisten herausfordert. Die Islamisten galten bis vor kurzem als zu übermächtig, und haben scheinbar auch selber vergessen, wie kurzlebig Macht in Zeiten der Revolution ist. Von ihren 70% bei den Parlamentswahlen blieben 25% für Morsi bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen. Die 2. Runde gewann er äußerst knapp, obwohl der Gegner der harter Mubararakist Shafikh war. Viele hatten Morsi gewählt, die ihn eigentlich hassten, aber nicht so stark wie Shafikh.

Und ausgerechnet aus dieser recht schwachen Position legen sich die Islamisten mit allen anderen an: mit der revolutionären Jugend, mit den Apparaten des alten Regime, und auch noch mit den Armeen, die durch den von Morsi vereinbarten IWF Krediten und Subventionsabbau unter Verteuerungen leiden. Ihnen bleibt jetzt nicht anderes, als die religiöse Karte. Alle auf der Straße sind gegen Sharia, so ihre Deutung. Das reicht, um mal einen Mob los zu treten, aber nicht um das Land stabil zu regieren. Zum ersten Mal seit langer langer Zeit scheint es, dass die Islamisten in Ägypten nicht mehr auf eine Mehrheit in der Bevölkerung wetten können.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Pedram Shahyar

Blog aus den Metropolen des globalen Aufstandes

Pedram Shahyar

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