Die dritte Welle der Revolution

Ägypten Die größten Proteste seit Monaten erschüttern die Regierung der Moslembrüder. Am kommenden Freitag wird der nächste Höhepunkt der neuen Welle der Revolte erwartet.

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Am gestrigen Dienstag erlebte Kairo die größten Proteste seit der Revolution von Januar 2011. Bereits im 17:00 war der Tahrir-platz gut gefüllt und die Innenstadt schon so stark mit Demonstranten bevölkert, dass die großen Demonstrationszüge aus verschiedenen Stadtteilen kaum noch zum Platz durchkamen. Die Teilnehmerzahlen werden auf 300.000 Menschen geschätzt. Es wird berichtet, dass viele Menschen zum ersten Mal auf dem Tahrir gegangen sind. Auch aus vielen anderen Städten wurden Proteste gemeldet. Die heftigsten waren in Alexandria und der berühmten Industrie-Stadt Mahalla, wo 2008 große Streiks eine Welle der sozialen Unruhe ausgelöst hatten. Weitere Demonstrationen werden aus Suez, Delta und Ober-Ägypten gemeldet.

Die Menschen demonstrieren gegen ein weitreichendes Dekret des Präsidenten Morsi. Der aus den Reihen der moderaten islamistischen Moslembrüdern entstammender Präsident hatte sich am letzten Donnerstag weitreichende Regierungsmacht zugesprochen, der Justiz ihr Vetorecht entzogen und den obersten Staatsanwalt abgesetzt. Die Justiz gilt zwar weiterhin als ein Hort des alten Regimes, und der Staatsanwalt ein schützender Hand über die Verbrecher der Mubarak-Ära. Aber deren Entmachtung ging einher mit neuen Notstandsrechten für den Präsidenten. Dieses Dekret wurde somit als eine Kriegserklärung gegen das alte Regime, aber auch und vorallem gegen die junge Demokratie in Ägypten verstanden. Statt diese beiden Lager gegen sich aufzubringen und zu paralysieren, führte dieser Dekret zu einer gigantischen Wut auf den Straßen. Bereits am nächsten Tag waren Zehntausende Menschen zu der Freitagskundgebung auf dem Tahrir-Platz geströmt. Tausende begannen wieder mit der Besetzung des Platzes und der Aufbau einer Zeltstadt. In vielen Orten wurden die Parteibüros der Moslembrüder von Demonstranten verwüstet.

Die Islamisten hatten zunächst auch Mobilisierungen für die Unterstützung des Präsidenten angekündigt. Doch nachdem sie Sonntag ihre Kundgebung in Kairo abgesagt hatten, verschoben sie diese am Dienstag erneut. Die offizielle Begründung ist die Gefahr eines Blutbades, die sie vermeiden wollen. Es kann aber auch ein Zeichen der Verunsicherung der islamistischen Basis sein, und die Unsicherheit deren Führung über den Erfolg einer Konkurrenzmobilisierung. In Alexandria, ein Hochburg der islamistischen Bewegungen, waren am Dienstag nur einige Tausend Islamisten auf die Straße gegangen, während gleichzeitig mehrere Tausend Morsi-Gegner sich in verschiedenen Stadtteilen versammelten, und ein Demonstrationszug die Hauptquartier der Moslembrüder eroberte und komplett verwüstete. In Mahalla brachen heftige Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern aus, von bis zu 300 Verletzten wird berichtet. Bei den Straßenkämpfen zwischen den Demonstranten und der Polizei in den Seitenstraßen um den Tahrirplatz gab es in den letzten Tagen bis zu 350 Festnahmen. Bisher werden aus den Kämpfen der letzten Tage auch auch 3 Tote gemeldet, ein Aktivist der Moslembrüder, einer aus der progressiven 6. April Bewegung und einer aus der sozialistischen Linksallianz.

Die Moslembrüder hatten zunächst versucht die Proteste als die Sache des alten Regimes darzustellen und so zu isolieren. Doch diese Deutung scheiterte komplett, da zu offensichtlich die progressiven demokratischen Kräfte die Bewegung dominieren. Zum Besipiel wurde eines der größten Demonstrationszügen zum Tahrir, der aus Shubra kam, von dem radikalen Sozialisten und Präsidentschaftskandidaten Khaled Ali angeführt. Die Stimmung und die Parolen erinnerten an die der Revolutionstagen: „Das Volk will das Stürz des System“, „Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Würde“, „Brot, Freiheit, nieder mit dem Parlament“ waren zu hören.

Daraufhin versuchten die Islamisten sich als die Vertreter der Schweigenden Mehrheit darzustellen, die die Proteste,der „linken und liberalen“, wie ihr Twitter dann schrieb, als Teil einer demokratischen Kultur akzeptieren aussitzen wollen. Morsi versuchte auch die Lage zu beruhigen und bezeichnete das Dekret als provisorisch für den Übergang, bis der Verfassungsprozess abgeschlossen ist.

Ob diese Strategie aufgeht, ist mehr als fraglich. Die Proteste haben eine derart immense Größenordnung erreicht, dass man kaum von einer baldigen Beruhigung ausgehen kann. Viel mehr zeigt sich hier der überraschend frühe Beginn der dritten Welle der ägyptischen Revolution: die erste Welle brachte im Januaraufstand 2011 das alte Regime Mubaraks zum Sturz. Die Armeeführung übernahm daraufhin die politische Macht, wollte aber vieles davon behalten. So begann die 2. Welle seit dem Sommer 2011. Der Höhepunkt dieser Welle waren die Kämpfe im letzten November in Mohammad-Mahmood-Straße am Tahrir und der Jahrestag der Revolution am 25.1.2012, als der überfüllte Platz den Stürz der Armee forderte. Im Spätsommer dieses Jahres setzte dann der islamistischer Präsident Morsi die Armeeführung ab. In diesen Tagen erleben wir nun die 3. Welle, diese Mal gegen die Islamisten, die als bis dahin stärkste politische Kraft ihre Macht autoritär sichern wollen. Die überraschende Schwäche der Islamisten auf der Straße und die immense Wucht der Gegenmobilisierung deuten eine breitere Enttäuschung in der Gesellschaft an. Die Parteien der Islamisten hatten das Parlament als Verfassungsgebende Versammlung mit einer 2/3 Mehrheit dominiert, aber die Präsidentschaftswahlen halbes Jahr später gewann deren Kandidat Morsi nur sehr knapp. Trotz der großen Versprechungen bei diesen Wahlen hat sich an der sozialen Lage bisher kaum etwas verändert. Die Zahl der Streiks nahm in den letzten Monaten täglich zu und erreichte einen ähnlichen Stand wir vor dem Januaraufstand.

Die nächsten Tagen, insbesondere der kommende Freitag, werden nun mit Spannung erwartet. Wenn die Bewegung sich ausweitet, und Morsi von seinem Dekret zurückweicht, eröffnet sich die Möglichkeit einer wirklich pluralen Regierung und Verfassungsprozess, der den demokratischen Wandel in Ägypten stabilisieren und eine neue Sozialpolitik einleiten könnte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Pedram Shahyar

Blog aus den Metropolen des globalen Aufstandes

Pedram Shahyar

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