Zahlen Hygne-Demo & Postfaktischen Zeiten

Hygnedemo Der Konflikt um die Zahlen der Hygnedemo in Berlin am letzten Samstag zeigt wie weit die Wahrnehmung der Wirklichkeit in Teilen der Gesellschaft auseinanderklafft.

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Zahlen Hygene-Demo Berlin : Postfaktische Zeiten
Dass die Teilnehmerzahlen von Demonstrationen von der Polizei nach unten korrigiert werden, ist ja bekannt. Eine Ausnahme bildeten hier die ersten großen Pegida Demos in Dresden, wo die Angaben der Polizei von vielen unabhängigen Beobachtern als zu hoch eingeschätzt wurden. Aber auch am letzten Samstag waren nach allen Fotos und unabhängige Einschätzungen mehr Menschen auf der Straße gegen die Corona-Maßnahmen als die angesagten 20.000 der Polizei.
Dabei ist es üblich, dass die Veranstalter, die ja normalerweise professionell ihre Demos zählen, die Zahlen etwas nach oben korrigieren, damit dann der Mittelwert zwischen ihrer und der Polizeiangabe nah an die Realität kommt. Ich erinnere mich an der ersten grossen Demo gegen Agenda 2010 am 1. November 2003 in Berlin, wo nach unseren Zählungen mindestens 50 bis 60 tausend Menschen auf der Demo waren, da wir uns aber mit der Polizei nicht einigen konnten, wir die Zahl mit 100.000 nach oben aufgerundet haben, die tatsächlich dann auch so in der Tagesschau übernommen wurde.
Dass lam letzten Samstag nun die Angaben der Veranstalter um das 100 fache über den Polizeiangaben liegen, ist etwas Neues und weist auf 2 Phänomene hin:
Die Leute glauben das wirklich! Sie posten es fleißig und verteidigen es, an sich liebe Menschen sind völlig überzeugt davon, ohne jemals auf einer Demo mit mehr als 10.000 Leute gewesen zu sein, dass da mehr als eine Million Leute waren! Es hat sich eben voll angefüllt, dann müssen es eine Million gewesen sein. Diese Haltung zeigt wie sehr die Leute in dieser Szene sich von jeder ernsthaften Kategorien der Wahrheit und objektive Realität entfernt haben. Sie glauben wirklich das, was sie fühlen, und was ihr Weltbild gut entspricht. Sie glauben ihren Wunsch, ohne einen Ansatz oder kleinsten Versuch von Gegenprüfung.
Das was wir hier erleben, ist der Verlust von rationaler Denkweise. Dies hat dramatische Folgen für die politische Kultur, denn rationales Argumentieren wird mit diesen Menschen verunmöglicht, der gesunde Menschenverstand wird ausgesetzt. Es geht nur noch um Bestätigung, Freund- und Feindeskonstruktion und damit emotionale Nähe oder Distanz.
Diese Entwicklung hat aber auch Methode: die Veranstalter die bereits im Vorfeld diese irre Zahlen angekündigt und dann noch weiter hochgetrieben haben, sind nicht so naiv das selbst zu glauben, zumindest nicht alle. Sie wollen die Wahrnehmung ihrer Szene von der Rest der Gesellschaft völlig abkoppeln. Steven Bannon, der ehemaliger Propagandaminister von Trump und Strippenzieher der globalen rechten Medienmachienen hat diese Methode begründet: den Menschen die Fähigkeit zu nehmen zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden.
Diese Krise der Wahrheit hat aber ihren Ursprung in den Machtstrukturen der etablierten Medien- und Meinungsanstalten. Die einseitige neoliberale Propaganda der letzten Jahrzehnte, die dramatisch einseitige Meinungsmache gegen Russland für einen neuen Ostkonflikt in den letzten Jahren und die Angstproduktion gegen Fremde in verschiedenen Farben haben die Legitimität der Medien als 4. Gewalt und Instanzen abgeschwächt, wo das faktische Geschehen in der Gesellschaft abgebildet wird.
Das Abdriften einer kleinen aber nicht mehr marginalen Teil der Gesellschaft in das Postfaktische wird eine notwendige Kontroverse Debatte über den Umgang mit der Pandemie erschweren. Sachliches Abwägen von Schutzmaßnahmen, Für- und Gegenargumente, das gemeinsame kritische Abwiegen ist nicht möglich, wenn Fakten von Gefühlen und Wünschen bestimmt werden.
Wir können froh sein, dass in Deutschland dieser Teil der Bevölkerung weit davon entfernt ist Mehrheiten zu bilden oder in den politischen Ämtern Eingang zu finden. Sorgen wir dafür, dass es so bleibt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Pedram Shahyar

Blog aus den Metropolen des globalen Aufstandes

Pedram Shahyar

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