Es gibt diese Phase im Leben eines Kleinkinds, in der es die Schwerkraft entdeckt: Das Baby greift Löffel, Teller, Telefon, lässt los – und sieht halb staunend, halb belustigt zu, wie das Ding zu Boden fällt. Das Experiment wird beliebig oft wiederholt, genau darin besteht ja der Reiz, der erst erlischt, wenn das Kind sich selbst als Ursache und den Fall als die Folge seiner Handlung begriffen hat.
Ist es unfair, zu sagen, dass die deutsche Regierung europapolitisch diesem Kind ähnelt? Weil sie unfähig scheint, die Folgen ihrer Politik als eben solche zu begreifen? Olaf Scholz, stolz das neue Spielzeug hochhaltend, versucht ja nichts anderes, als die Schwerkraft zu leugnen, wenn ihm zur Forderung, man müsse die Eurozone umbauen, wolle man sie retten, rein gar nichts einfällt.
Alles, alles ist vergessen: wie der Euro fast auseinanderbrach, weil er – als Gemeinschaftswährung ohne gemeinsame Finanzpolitik – permanent Ungleichgewichte erzeugt. Wie man die Länder Südeuropas in ein brutales Austeritätskorsett zwang, weil sie sich dank Euro zwar zu Niedrigzinsen verschulden konnten, aber dann, in der Krise, nicht mehr in der Lage waren, durch eine Abwertung ihrer Währungen zu reagieren. Wie die halbe Finanzwelt begann, gegen den Euro zu wetten, weil aus Deutschland nur zu hören war: keine Vergemeinschaftung von Schulden, keine Solidarität mit allen, die nicht nach schwäbischer Hausfrauenart verfahren – und erst Mario Draghis Ansage, er werde den Euro retten, „koste es, was es wolle“, dem Spuk ein Ende machte.
Und, nicht zu vergessen: die politischen Verwerfungen, die aus den Konstruktionsfehlern der Eurozone und der politischen Engstirnigkeit in Berlin entstanden und immer weiter entstehen. Der Schrecken des Beinahesiegs von Marine Le Pen in Frankreich ist schon so weit weg, dass man ihren Bezwinger Emmanuel Macron ein Jahr später schon wieder abblitzen lässt. Die Unregierbarkeit Italiens, das dortige Erstarken des antieuropäischen Ressentiments bei Lega und 5-Sterne-Bewegung, wird in Deutschland nicht als Auswuchs der real existierenden Eurozone verstanden. Dabei wäre das so schwer nicht zu sehen: Man erinnere sich, wie in Deutschland schon der Eindruck, die eigenem Einfluss entzogene Währungspolitik sei weniger beinhart als hierzulande gewünscht, zu allerlei Gefühlswallungen führte, und wie die halb- und hartherzige Griechenland-„Rettung“ mit „unserem Steuergeld“ die erste Generation der Professoren-AfD in Rage brachte. Während doch, bei Lichte besehen, der billige Euro Deutschlands Ausfuhren Flügel verleiht und Deutschland vom Umstand, nun in 18 andere Länder ohne Währungsrisiko exportieren zu können, massiv profitiert. Man kann sich also leicht vorstellen, wie die Wählerschaft in Italien sich fühlt, wo der Stabilitätspakt bitter notwendige Investitionen verhindert, um die galoppierende Jugendsarbeitslosigkeit zu senken, und das Land – zu einer eigenen Währungspolitik nicht mehr befugt – aus Berlin nur hört, man solle sich aus der Misere irgendwie heraussparen, Löhne senken, Sozialausgaben beschneiden.
Mir sin die wo gwinne wellet
Dabei sind Macrons Vorschläge, die man in Berlin gerade ins Leere laufen lässt, ja keine radikalen Schritte, etwa in Richtung eines sozialen Europas, eines europäischen Sozialstaats. Sondern bloße Minimalreformen, die verhindern sollen, dass die Eurozone bei der nächsten Krise endgültig den Bach runtergeht: ein gemeinsamer Haushalt für die Eurozone, verwaltet von einem „demokratisch kontrollierten“ Finanzminister. Ein Europäischer Währungsfonds, der einspringt, wenn Staaten von Zahlungsunfähigkeit bedroht sind. Eine Angleichung der Körperschaftsteuer in der EU, um einen Dumping-Wettlauf zu verhindern. Eine gemeinsame Einlagensicherung in der Eurozone, um Bank-Runs zu unterbinden.
Deutschland profitiert massiv vom Euro und gibt sich zugleich der Illusion hin, der wirtschaftliche Erfolg beruhe allein auf eigener Stärke. Die Hoffnung, dass sich daran etwas ändert, geht im Schulz’schen Totalschaden in Rauch auf. Finanzminister Olaf Scholz scheint zu glauben, man könne mit schwarzer Null und schwäbelnder Ökonomik eines Tages sogar Kanzler werden. Das ist nicht nur deshalb falsch, weil man dafür auch eine Partei bräuchte. Sondern auch, weil man – in der Eurozone wie im Hochstuhl – die Schwerkraft nicht auf Dauer austricksen kann.
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