Soziologe Schmalz: „Es wirkt wie Zynismus, wenn die Politik sagt: Ihr müsst mehr arbeiten“
Streikwelle Wird derzeit mehr gestreikt? Warum wird das Thema Arbeitsverkürzung für die Gewerkschaften immer wichtiger? Und gibt es eine Kampagne zur Begrenzung des Streikrechts? Der Soziologe und Streikforscher Stefan Schmalz im Interview
Stefan Schmalz: „Ich gehe davon aus, dass wir wahrscheinlich bis ins Jahr 2025 eine gewisse Zunahme an Streiks sehen werden“
Foto: Thomas Lohnes/Getty Images
der Freitag: Herr Schmalz, viele Menschen haben den Eindruck, dass derzeit öfters, länger und schneller gestreikt wird als noch vor ein paar Jahren. Stimmt das?
Stefan Schmalz: Im Jahr 2023 wurde tatsächlich relativ viel gestreikt. Es gibt noch keine endgültigen Zahlen, aber die Streiktage, die Verdi veröffentlicht hat, belaufen sich auf 1,2 Millionen. Das ist relativ viel, wenn man es mit anderen Jahren vergleicht, aber kein Rekord. Im Jahr 2015 gab es zum Beispiel noch mehr Streiktage. Ich denke, die Wahrnehmung, es werde mehr gestreikt, kommt vor allem daher, dass in letzter Zeit die Streiks sehr sichtbar und spürbar waren, sie fanden in Sektoren statt, wo die Bevölkerung betroffen ist: die Lokführer bei der Deutschen Bahn, das Bodenpersonal bei de
der Deutschen Bahn, das Bodenpersonal bei der Lufthansa, dann die Beschäftigten im ÖPNV.War 2023 ein Ausnahmejahr oder denken Sie, dass diese Streikwelle noch länger anhält?Ich gehe davon aus, dass wir wahrscheinlich bis ins Jahr 2025 eine gewisse Zunahme an Streiks sehen werden. Einfach aus dem simplen Grund, dass die hohen Inflationsraten der Jahre 2022 und 2023 in keinem Tarifvertrag, der vorher geschlossen wurde, eingerechnet waren. Die Tarifkonflikte drehen sich also vor allem darum, diesen Reallohnverlust wieder auszugleichen und das wird wohl auch in der Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie, die Ende des Jahres ansteht, Thema sein. Wahrscheinlich auch bei anderen Tarifverträgen, die im kommenden Jahr auslaufen. Aber insgesamt liegt Deutschland, was die Streikaktivität angeht, damit im europäischen oder internationalen Vergleich immer noch im Mittelfeld.Der derzeitige Arbeitskampf der GDL, ist das etwas Besonderes aus Ihrer Sicht? Es wird ja von vielen so wahrgenommen, als wäre Claus Weselsky ein besonders harter Hund. Oder ist das immer dasselbe, wenn die GDL streikt?Es gab bei der Bahn durchaus schon ähnlich hart geführte Auseinandersetzungen, etwa 2014/2015, damit kann man den derzeit laufenden Konflikt sicher vergleichen. Die besondere Dynamik liegt eher daran, dass die beiden Parteien, die Forderungen der GDL und auch das Angebot der Deutschen Bahn, sehr weit auseinander liegen.Sie haben es schon angesprochen: Die Inflation und der Reallohnverlust sind ein Treiber der derzeitigen Arbeitskämpfe. Aber ein zweites Thema ist – wie bei der GDL – die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, und die 35-Stunden-Woche. Auch die IG Metall hat schon 2018 nicht mehr Lohn, sondern Zeitsouveränität oder eben weniger Arbeitszeit gefordert. Ist das ein neues Phänomen, dass die Gewerkschaften den Kampf um die Arbeitszeit jetzt in den Vordergrund stellen?Es ist kein neues Phänomen. Denn schon früher gab es ja große Auseinandersetzungen um die Arbeitszeit, zum Beispiel in den 1980er Jahren die Auseinandersetzungen in der Metall- und Elektroindustrie um die 35 Stunden Woche. Aber jetzt gewinnt dieses Thema wieder deutlich an Bedeutung. Auch bei der derzeitigen Tarifrunde im öffentlichen Nahverkehr ist die Arbeitszeit ein wichtiges Thema, ebenso in den Krankenhäusern. Im Kern geht um Entlastung durch Arbeitszeitverkürzung und bessere Personalschlüssel. Man sollte nicht vergessen, dass in vielen Unternehmen von vielen Beschäftigten zahlreiche Überstunden gemacht werden, dass manche Stellen nicht nachbesetzt werden, was auch zur Überlastung beiträgt. Deshalb werden jetzt die Arbeitszeit und die Arbeitszeitgestaltung immer wichtiger.Immer wenn die Verkürzung der Arbeitszeit diskutiert wird, gibt es jemanden, der sagt Aber Leute, wir haben Fachkräftemangel, ihr müsst mehr arbeiten und nicht weniger. Überzeugt Sie das Argument?Ja, das wurde ja sehr prominent auch von Wirtschaftsminister Robert Habeck geäußert. Ich denke, erst mal muss man sehen, wo steht Deutschland im europäischen Vergleich? Da sieht man, dass in Deutschland schon jetzt nicht wenig gearbeitet wird. Zweitens, ich hatte es vorhin schon erwähnt: In Deutschland werden sehr viele Überstunden gemacht, vergangenes Jahr waren es 1,3 Milliarden Stunden. Das ist schon eine ganze Menge. Und auf jemanden, der schon jetzt Überstunden und das auch oft noch unbezahlt leistet, wirkt es doch wie blanker Zynismus, wenn die Politik jetzt sagt: Ihr müsst mehr arbeiten, nicht weniger. Dazu kommt Folgendes: Der Gedanke, dass mehr gearbeitet werden muss, und damit ist das Arbeitskräfteproblem gelöst – das ist nicht zu Ende gedacht. Wenn man sich Länder mit besonders hohen Wochenarbeitsstunden anschaut wie etwa Südkorea, dann sind dies gerade die Länder mit besonders niedrigen Geburtenraten – weil Familie und Arbeit dort kaum vereinbar sind. So würde sich dann also das demografische Problem verschärfen, nicht umgekehrt. Viele Jobs sind bei Fachkräftemangel schlicht unattraktiv: Im ÖPNV beispielsweise ist eine ernste Personalkrise zu fürchten, wenn sich in Sachen Bezahlung und Arbeitszeiten nichts bessert.Verschiebt sich wegen des Mangels an Arbeitskräften gerade die Machtbalance zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern?Da ist auf alle Fälle etwas dran, aber es ist kein Automatismus. Klar hat sich der Arbeitsmarkt verändert. In den 1990ern, bei sehr hoher Arbeitslosigkeit, haben viele auch schlechtere Bedingungen, lange Arbeitszeiten und nicht ganz so auskömmliche Bezahlung zähneknirschend akzeptiert. Das hat sich verändert, die Arbeitnehmer treten selbstbewusster auf. Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass sie sich jetzt gewerkschaftlich organisieren. Denn es gibt auch die Möglichkeit, einfach den Job zu wechseln, Jobhopping zu machen. Das ist eine Sache, die wir vermehrt sehen, zum Beispiel in Thüringen ist die Eigenkündigungsrate in den 2010 Jahren deutlich gestiegen.Haben sich auch international die strukturellen Rahmenbedingungen geändert, die in den 1990er zu einer Schwächung der Gewerkschaften geführt hatten?Ich würde sagen, das lag damals an drei Wirkungsmechanismen, warum Gewerkschaften geschwächt wurden. Einmal die Strukturveränderungen am Arbeitsmarkt Richtung Prekarisierung, durch die Arbeitsmarktgesetzgebung, Hartz IV, Leiharbeit und so weiter. Diese Prekarisierung nimmt ab, wenn der Arbeitsmarkt sich restrukturiert wie derzeit. Der zweite Punkt, Stichwort Globalisierung, lag in der Standortkonkurrenz, der Drohung, die Produktion zu verlagern, das hat sich ebenfalls abgeschwächt. Einige Länder in Osteuropa haben selber Fachkräfteengpässe, andere Länder wie China haben steigende Löhne. Der dritte Faktor war der Umstand, dass die Gewerkschaften in den 1990er Jahren sich zeitweise in der New Economy nicht wiederfanden. IT, Digitalisierung, neue Arbeitsverhältnisse, dagegen schienen die Gewerkschaften wie Dinosaurier aus dem Industriezeitalter. Auch hier hat sich was geändert, man denke etwa an die Berlin Tech Workers Coalition, die erfolgreich Betriebsräte in der Internetökonomie aufgebaut hat.Kaum wird in Deutschland ein bisschen mehr als üblich gestreikt, ertönen Rufe nach einer Änderung des Streikrechts. Wie nehmen Sie die Diskussion wahr?Mit Verärgerung! Wir haben in Deutschland ein Streikrecht, das im Vergleich zu anderen Ländern eher eingeschränkt ist. Nur Gewerkschaften können zu Streiks aufrufen und auch nur für Tarifverhandlungen. Aber die Tarifautonomie steht in der Verfassung, also finde ich manche der Vorschläge schon sehr bedenklich, man denke an die Idee, nicht mehr ohne Vorankündigung zu streiken oder an das Austauschen von Verhandlungsführern. Interessant ist, dass das nicht vereinzelte Rufe sind, sondern dass es im Grunde schon seit Anfang 2023 eine Kampagne gibt. Verschiedene Akteure, die Mittelstands- und Wirtschaftsunion in der CDU, ebenfalls Arbeitgeberverbände, und zuletzt auch die FDP haben das Thema Streikrecht auf die Agenda gesetzt und ziehen an einem Strang. Wenn vorgeschlagen wird, dass in der kritischen Infrastruktur nur noch eingeschränkt gestreikt werden dürfe, dann geht das in die Richtung, alles Mögliche darunter zu fassen: Den Staat und die Verwaltung, die IT und den Verkehr, und so fort. Bei einer weiten Definition von kritischer Infrastruktur betrifft das dann 43 Prozent aller Beschäftigten. Im Grunde ist es so: Wenn sich die Machtbalance zugunsten der Arbeitnehmer verschoben haben sollte, dann ist das der Versuch, dagegen zu halten.
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