Bahnstreik GDL-Chef Claus Weselsky regt die Republik mit der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung auf. Tatsächlich ist diese Frage neu – und kompliziert
Die Hochzeit meiner Freundin rückt näher, unsere Telegram-Gruppe explodiert: die Geschenke, die Rede, die Übernachtung, was zieht ihr an, wer organisiert was? Die Freundin heiratet in Hannover, wir wohnen in Berlin, auch die Reise muss geplant werden. Wir lesen Nachrichten, Anfang März: Auch in der Schlichtung kein Ergebnis im Streit zwischen Bahn und der Gewerkschaft der Lokführer (GDL), es wird neue Streiks geben. Panik. Wie kommen wir nach Hannover? Auto organisieren? Wir ergattern Tickets beim privaten Bahn-Konkurrenten Flixtrain. Am Tag darauf wird der Streik angekündigt. Da schreibt die Braut: „OMG Bahnstreik!!! Ich bin doch noch in Berlin, wie komme ich jetzt zu meiner Hochzeit nach Hannover?!“
Ja, Bahnstreiks greifen hart in unseren Alltag e
n Alltag ein. So hart ist dann auch der Ton, der dem GDL-Chef Claus Weselsky entgegenschlägt. „Ist das noch Streik, oder schon eine Art Krieg?“, fragt etwa der Journalist Nikolaus Blome, als der sechste Bahnstreik angekündigt wird. Schuldig ist für ihn ganz klar Claus Weselsky, weil „der Chef der kleinen Lokführergewerkschaft GDL keinen Kompromiss will – aus Prinzip, aus Wut, aus Rache? Keine Ahnung“. Die Wahrnehmung: Da steht ein sturer Gewerkschafter, der aus reinem Egoismus oder anderen dunklen Trieben die Republik lahmlegt, was die deutsche Wirtschaft pro Streiktag 100 Millionen Euro koste, und dann will er auch noch eine 35-Stunden-Woche, was nicht nur angesichts der derzeitigen Rezession vor völlig unangemessener Faulheit strotzt, sondern auch den Fachkräftemangel zur Standortkatastrophe verschärft. Harter Tobak. Da lohnt sich ein Blick auf die einzelnen Vorwürfe.Kostet ein Streiktag die Wirtschaft tatsächlich 100 Millionen Euro? Aufgestellt hat diese Rechnung das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) anlässlich eines Bahnstreiks im Jahr 2021. Das IW bezog sich auf den Gütertransport, von dem die Chemie- und Stahlindustrie besonders abhängig ist. Blockiert ein Bahnstreik die Güterzüge, gerät die Produktion der Chemie- und Stahlindustrie ins Stocken. Allerdings passiert das nicht schon nach einem 35-Stunden-Streik: Es handelt sich nicht um „zeitkritische Güter“, die Unternehmen sind also in der Lage, für wenige Tage umzuorganisieren. Der Schaden von bis zu 100 Millionen Euro am Tag tritt laut IW erst nach einem Streik ein, der drei oder vier Tage lang anhält. In dem aktuellen Arbeitskampf ist das noch nicht vorgekommen.350 Euro für ein LeihautoNun führt der Bahnstreik dennoch zu Folgekosten in Millionenhöhe – und das soll er auch. Schließlich brauchen die Arbeitenden ein Druckmittel, um ihre Forderungen durchzusetzen. Der Entzug ihrer Arbeit ist genau das Druckmittel, das seit zwei Jahrhunderten wirkt. Die Frage, die sich Wirtschaft und Bahnreisende aus unterschiedlichen Perspektiven stellen, ist dennoch legitim: Ist der Druck verhältnismäßig?Das fragt sich natürlich auch unsere Braut. Es ist Montag, 4. März, die Bahn kündigt an, ab Donnerstagfrüh und bis in den Freitag hinein zu streiken. „Hol dir schnell ein Ticket für Flixtrain!“, schreiben wir, „zu spät, schreibt sie, „ausverkauft“, „Flixbus?“, „nein, es gibt keine Tickets mehr für Freitag.“ Unsere Braut muss am Freitagvormittag in Hannover sein: Absprachen mit dem Personal im Festsaal. „Donnerstagabend?“ „Nein, auch nicht.“ „Leihwagen?“ Stille im Chat. Dann: „Es gibt nur noch einen Transporter für Freitagfrüh, der kostet 350 Euro – für vier Stunden!“ Panik bricht aus.Das war der fünfte Streik der GDL, ein sechster folgte, noch kurzfristiger angekündigt. Danach ging es wieder in Verhandlungen, und die ganze Republik diskutierte die Forderungen der GDL mit: Ist die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche angemessen? In der öffentlichen Debatte werden teils noch schärfere Töne angeschlagen als vom Bahnkonzern selbst, der da schon 36 Stunden vorgeschlagen hatte: Können wir uns in Deutschland eine Arbeitszeitverkürzung überhaupt leisten? In Zeiten des Fachkräftemangels, angesichts einer stagnierenden Wirtschaft und 700.000 unbesetzten Stellen? „Das können wir uns in der Tat im Moment nicht leisten“, kritisierte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen). Auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) wirbt stetig für die 40-Stunden-Woche: „Sie dürfen nur nicht die Illusion haben, dass man mit 30 oder 32 Stunden Arbeit in der Woche eine Volkswirtschaft aufrechterhalten kann“, mahnte er schon 2023.Da steht er also wieder, Claus Weselsky, dieser sture Mann, der eine ganze Republik dafür lahmlegt, dass eine kleine, privilegierte Gruppe von Arbeitnehmern faul werden darf? Nun ist die GDL mit der Forderung nach einer Verkürzung der Vollzeit keineswegs allein. Schon 2016 hatte die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) bei der Deutschen Bahn tarifpolitisches Neuland betreten und eine Wahloption ausgehandelt: Arbeitnehmerinnen können zwischen mehr Lohn und weniger Arbeitszeit sowie zusätzlichem Erholungsurlaub wählen. In einer breit angelegten Mitgliederbefragung fand auch die IG Metall heraus, dass Beschäftigte die Möglichkeit wollen, die Arbeitszeit zu verkürzen. Die IG Metall erkämpfte daher im Tarifabschluss 2018 ebenfalls eine Wahloption: Arbeiter haben die Möglichkeit, zeitlich befristet in Teilzeit zu wechseln und danach in Vollzeit zurückzukehren, mit einer Absetzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf bis zu 28 Stunden. Auch acht Tage für die Kinderbetreuung sind seitdem wählbar.Die Arbeitszeitverkürzung ist also ein breiterer gesellschaftlicher Trend, und das aus zwei Gründen. Der erste besteht darin, dass die 40-Stunden-Woche, die in Westdeutschland 1965 gesetzlich verankert wurde (1900 galt im Deutschen Kaiserreich noch der Zehn-Stunden-Tag in einer Sechs-Tage-Woche), auf dem Familienernährermodell basierte: Der Familienvater arbeitete in Vollzeit, aber hatte mit Kinderbetreuung, Einkaufen, Kochen und Putzen nichts zu tun, weil sich die Mutter voll um die Sorgearbeit kümmerte. Diese Arbeitsteilung aus dem 20. Jahrhundert gehört der Vergangenheit an, und das ist nicht ideologisch gemeint, sondern ganz konkret: Heute arbeiten laut Statistischem Bundesamt rund zwei Drittel der Mütter und 92 Prozent der Väter von Kita- und Schulkindern. Die allermeisten Mütter allerdings nur in Teilzeit, woraus der Wirtschaftsexperte Marcel Fratzscher Folgendes folgerte: „Das größte Potenzial auf dem Arbeitsmarkt Deutschlands sind die vielen Frauen, die meist gut ausgebildet sind und mehr arbeiten möchten.“ Hier schlummern Fachkräfte über den Windeln. Wenn die Mütter aber mehr arbeiten wollen, brauchen sie Partner, die weniger arbeiten. Laut dem „Väterreport 2023“ möchte jeder zweite Vater in Deutschland die Hälfte der familiären Kinderbetreuung übernehmen.Fachkräfte sind auch MütterHinter Claus Weselskys Forderung nach einer 35-Stunden-Woche steht also weder Wut noch Rache, wie Nikolaus Blome vermutet, sondern eine gewaltige gesellschaftliche Umverteilung von Arbeit zwischen den Geschlechtern. Findet diese Umverteilung nicht statt, stellt sich die Frage, wie viele Frauen sich die Doppelbelastung noch antun wollen. Fragt man den Soziologen Stefan Schmalz, der in Erfurt das Projekt Streikmonitor leitet, so setzt er sie mit der Forderung ins Verhältnis, wir sollten alle mehr arbeiten: „Wenn man sich Länder mit besonders hohen Arbeitsstunden anschaut wie etwa Südkorea, dann sind dies gerade die Länder mit besonders niedrigen Geburtenraten – weil Familie und Arbeit dort kaum vereinbar sind.“ Schon jetzt sei der Arbeitskräftemangel in Deutschland auch eine Folge des demografischen Wandels. „Der Gedanke, dass mehr gearbeitet werden muss, und damit ist das Arbeitskräfteproblem gelöst – das ist nicht zu Ende gedacht.“ Im ÖPNV etwa sei eine ernste Personalkrise zu fürchten, wenn sich bei der Bezahlung und den Arbeitszeiten nichts bessere. Überhaupt, es sei ja auch nicht so, sagt Stefan Schmalz, dass in Deutschland derzeit wenig gearbeitet werde: „In der Tat werden in Deutschland sehr viele Überstunden gemacht, 2022 waren es 1,3 Milliarden“, so Schmalz. „Auf eine Person, die unbezahlte Überstunden leistet, kann die Forderung nach noch mehr Arbeit wie blanker Zynismus wirken.“Wer Fachkräfte wolle, müsse den Arbeitsplatz attraktiv machen, das sagt auch Claus Weselsky. Damit sind wir bei der zweiten Entwicklung, die zu der Forderung der Arbeitszeitverkürzung führt: der Fachkräftemangel selbst. Weil die Gewerkschaften wegen der hohen Arbeitslosigkeit in den 1990er und 2000er Jahren geschwächt waren, waren Beschäftigte in dieser Zeit leicht erpressbar. Es war die Zeit der zunehmenden Standortkonkurrenz durch die Globalisierung, was in Deutschland Prekarisierung bedeutete, also Leiharbeit, Befristungen, Einführung der scharfen Sanktionen durch Hartz IV. Es war die Zeit der inneren Einstellung: Hauptsache Arbeit, egal wie schlecht die Bezahlung und Arbeitsbedingungen auch sein mögen.Das ist heute anders, durch steigende Löhne in China und Polen – und eben durch den Fachkräftemangel. „Das Mindset der jüngen Leute hat sich heute stark geändert“, sagt Schmalz. Das zeige sich in Phänomenen wie einer hohen Kündigungsquote und häufigem „Jobhopping“. Bereits in der Streikwelle 2023 schrieb der Medienunternehmer Gabor Steingart über den Streik von Verdi und der EVG: „Die Angst vor dem Gespenst der Arbeitslosigkeit ist verschwunden. Heute fürchten sich nicht mehr die Arbeitnehmer, sondern die Arbeitgeber – und zwar vor der Leere in Büro, Fabrik oder Abfertigungshalle, ausgelöst durch den chronisch gewordenen Arbeitskräftemangel.“Diese Gesamtsituation, so Schmalz, werde nun von den Gewerkschaften aufgegriffen, die offensiver in Auseinandersetzungen gehen als zuvor, im ÖPNV, auch im öffentlichen Dienst, bei der EVG und bei der GDL. Die Streiks in Deutschland betreten mit den Forderungen nach einer Arbeitszeitverkürzung und einem besseren Personalschlüssel neues Terrain: Das Terrain der Gestaltung gesellschaftlicher Arbeitsbedingungen sogar über die Lohnarbeit hinaus. Es geht nicht mehr nur um die Höhe der Lohnüberweisungen auf jedes einzelne Konto. Womöglich passiert gerade das Gegenteil dessen, was über Claus Weselsky erzählt wird: Hier ist kein Egoismus am Werk, hier kämpft nicht jeder gegen jeden. Womöglich ist dies der Beginn einer Auseinandersetzung um die Art, wie wir Arbeit in unserer Gesellschaft organisieren – Lohnarbeit und Familienarbeit. Die Wette lautet: Wenn Familie und Arbeit besser miteinander vereinbar werden, strömen mit den Müttern mehr Fachkräfte auf den Arbeitsmarkt, und mit dem Nachwuchs ist für zukünftige Fachkräfte gesorgt.Behalten wir die Nerven?Unserer Braut hilft diese Wette jedoch wenig. Sie hat nun ein Auto gefunden, das sie mieten kann, ohne pleitezugehen: allerdings schon für Mittwochabend, nicht für Freitagfrüh. Sie plant um, ihre Arbeit, ihre Termine für die Hochzeit, die Familie, die Reinigung für das Brautkleid. Und wir Freundinnen fahren Flixtrain. Wir haben einen Herzballon dabei, er lässt sich nur schwer kontrollieren und fliegt umher. „Müsst ihr hier so viel Platz einnehmen?“, schimpfen die unromantischen Mitfahrenden im Streikbrecher-Privatzug, und nach einer Stunde Fahrt: „Ihr unterhaltet euch die ganze Zeit, könnt ihr nicht mal ruhig sein?“ Sie sind endgenervt, unsere Mitreisenden. Es gibt eine zweite Wette, die Weselsky eingeht: dass diese Gesellschaft noch genug Geduld und Nerven hat, sich neu aufzustellen.Unsere Braut sagt: Ja. Dann erfährt sie, dass ihre Hochzeitsreise nach Venedig vielleicht ausfallen muss: Das Flugpersonal streikt.
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