Zwei Risse gehen derzeit durch Deutschland, in aller Öffentlichkeit, performt auf den Bühnen unserer Straßen und vor unseren Kameras. Szene eins: Die AfD liegt in den Umfragen auf dem zweiten Platz. Ihre Vertreter treffen sich mit Rechtsextremen und schmieden Deportationspläne. Doch zum Glück regt sich hunderttausendfach der Widerstand, Menschen gehen auf die Straße, sehen die Demokratie in Gefahr und stehen für sie ein: im ganzen Land. Dafür gibt es Beifall von ganz oben, vom Bundespräsidenten und vom Kanzler. Der Spiegel adelt den Protest und titelt: „Die Wehrhaften“.
Kurzer Schwenk, auf die soziale Lage: Seit drei Jahren frisst die Inflation an den Löhnen, mehr als 16 Prozent seiner Kaufkraft hat das Geld in Deutschland seit 2
and seit 2020 eingebüßt. Währenddessen wachsen die Vermögen der Reichen, zugleich lebt jedes fünfte Kind in Armut. Doch zum Glück regt sich Widerstand: Viele Gewerkschaften setzen sich für einen Inflationsausgleich ein. Tausende Menschen streiken für höhere Löhne, um für sich und ihre Familien sorgen zu können. Dafür gibt es – leider – keinen Beifall von ganz oben. Der Spiegel überlegt, „wie das Streikrecht eingeschränkt werden könnte“, und die Leibniz-Gemeinschaft fragt: „Sollten Streiks verboten werden?“So geht es dir also, Deutschland. Du bist gespalten. Und vielen fällt gar nicht ein, dass das eine mit dem anderen zu tun haben könnte. Dass es ein Problem sein könnte, wenn die Demokratie nur eine halbe ist: wenn die Demokratie sich aufs Ankreuzen alle vier Jahre beschränkt, während der riesige Bereich von Arbeit und Wirtschaft ihr auf wundersame Weise entzogen zu sein scheint. Derselbe Leitartikel im Spiegel, der sich ärgert, dass wegen der aufmüpfigen GDL „der Zuch“ nicht pünktlich kommt, und deshalb gleich fordert, das Streikrecht einzuschränken, zeigt ja eigentlich nur, wie sehr der Autor außerstande ist, sich anders denn als Kunde und Konsument zu verstehen – nämlich: als Lohnabhängiger, wie das Bodenpersonal der Lufthansa oder die Lokführer der Deutschen Bahn.Auf der einen Seite stehen diejenigen, die ein üppiges Gehalt beziehen, und auf der anderen diejenigen, die gefälligst spuren sollen, damit man schnell und ungestört ins Wochenendhaus oder in den Kurzurlaub gelangen kann. Wo kämen wir denn da hin, wenn die arbeitenden Menschen sich einfach so für ihre Rechte einsetzten?Wo kämen wir denn da hin?Vielleicht ist das ja die Frage, um die es wirklich geht: Wo kämen wir denn da hin? Wenn die Streiks Schule machten? In den vergangenen Wochen tat es die GDL bei der Bahn, Verdi im Nahverkehr, die Piloten und das Bodenpersonal bei der Lufthansa, auch Pflegekräfte wie die im Jüdischen Krankenhaus in Berlin, die sogar noch länger als die GDL ihre Arbeit niederlegten: ganze 19 Tage am Stück.Dass die Streiks für Kunden und Konsumentinnen anstrengend sind, ist klar: Darum geht es ja. Aber wofür kämpfen die Beschäftigten? Mehr Geld, das ist wohl nachvollziehbar, nach mehr als 16 Prozent Inflation. Aber nicht nur: Viele derzeit laufende Arbeitskämpfe zielen darauf ab, mehr Kontrolle über die eigene Zeit zu gewinnen. Weniger arbeiten, mehr leben. Ob das schon diese Humanisierung der Arbeit ist, von der ältere Kolleg:innen manchmal berichten wie aus einer längst untergegangenen Zeit? Wer weiß?Jedenfalls beginnen Arbeiter:innen hierzulande – zaghaft zwar, noch nur vereinzelt hier und da ein bisschen, aber immerhin –, sich ihrer Macht bewusst zu werden. Weil sie es in Zeiten des Fachkräftemangels nun mal können: Die Ware Arbeitskraft wird knapp, und deren Konsumenten, die Arbeitgeber also, müssen mehr für sie zahlen.Kampf gegen UngleichheitDa in den nächsten Jahren Millionen von Menschen aus der Boomer-Generation in Rente gehen und der Fachkräftemangel sich verstärken wird, ist ein Ende dieser Entwicklung nicht abzusehen. Man kann das Gejammer des Kapitals jetzt schon hören: Aber der Standort, und die fehlende Leistungsbereitschaft! Doch das ist Mumpitz. Tatsächlich hatten im Jahr 2023 in Deutschland 46 Millionen Menschen einen Job, so viele wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Und auch Deutschlands Konzernen geht es prächtig, man hört davon zwar wenig, aber 2023 war für das hiesige Kapital ein Rekordjahr. Nicht nur stiegen die Aktienkurse um 20 Prozent, die DAX-Unternehmen schütteten auch so viel Dividenden aus wie noch nie. Die Süddeutsche Zeitung fasste die Stimmungslage in den Konzernzentralen wohl korrekt zusammen: „Die fetten Jahre sind jetzt“.Um das Kapital müssen wir uns also keine Sorgen machen. Wer aber unternimmt was gegen die krasse Ungleichheit hierzulande? Wer streitet für mehr Chancengleichheit, für mehr Teilhabe, wer drängt den Niedriglohnsektor zurück, damit mehr Menschen vom Lohn ihrer Arbeit auch leben können? Die Arbeitskämpfer:innen tun es. Was sie mit dieser neuen Macht anstellen, kann man im Jüdischen Krankenhaus in Berlin besichtigen: Dort hat das Pflegepersonal nicht für mehr Geld gestreikt, sondern dafür, die Patient:innen angemessen versorgen zu können. Für einen besseren Personalschlüssel.Der Bundespräsident schickte den Anti-AfD-Demos ein Dankesvideo hinterher. So sollten wir auch den Streikenden danken: für ihren Einsatz für die Demokratie.