Noch ist es kein Jahr her, dass Russland die Ukraine überfallen hat. Aber schon jetzt können wir eine vorläufige Bilanz ziehen, wer in Bezug auf die Folgen für die deutsche Wirtschaft einstweilen recht behalten hat.
Wir erinnern uns: Schon bald nach Kriegsbeginn ertönten die Kassandrarufe. Sollten wir auf russische Gaslieferungen verzichten müssen, würden wir uns damit unser eigenes Grab schaufeln. Die Sanktionen gegen Russland, in deren Folge Gazprom uns das Gas abdrehte, kämen „einer Selbstverletzung der deutschen Volkswirtschaft gleich“, schrieb Gabort Steingart, einem Schuss „in die eigenen Knie“. Und Sahra Wagenknecht prophezeite: Ohne russisches Gas würden wir „Millionen Familien in Deutschland in die Armut st&
Armut stürzen und ... unsere Industrie zerstören“. Das Argument war links wie rechts dasselbe: Wir könnten gar nicht anders, als weiter Gazprom-Gas aus Russland beziehen. Solche Importe seien quasi alternativlos. Und so wichtig für die deutsche Wirtschaft, dass dieser Umstand deshalb auch zu Recht die ganze Außenpolitik zum Ukraine-Krieg prägen solle.Heute können wir sagen: Deutschland ist von russischem Gas unabhängig, ohne dass die gefürchteten Folgen eingetreten wären. Die deutsche Wirtschaft hat es geschafft, ein Viertel des vormals verbrauchten Gases einzusparen, ohne deswegen einen nennenswerten Produktionsrückgang hinnehmen zu müssen. Und ohne dass deswegen Arbeitsplätze im großen Stil verloren gegangen wären: Die Arbeitslosigkeit ist 2022 deutlich gesunken. Am Ende des Jahres gab es 195.000 weniger Arbeitslose als zwölf Monate zuvor.Ökonomen wie Moritz Schularick haben also recht behalten: Auch bei einem sofortigen Lieferstopp russischen Gases gingen die Lichter in Deutschland nicht aus, schrieb er im März 2022, als Zwischenrufer im Kassandra-Konzert. Ja, es gibt auch unschöne Gründe dafür, dass die Lichter noch brennen: Der Bückling in Katar vom deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck und LNG-Terminals, die im Eiltempo hochgezogen wurden und nun Frackinggas aus den USA importieren. Die hohe Inflation kann indes nicht dem Importstopp von Gas aus Russland angelastet werden: Sie war ja auch in den USA und anderen Ländern hoch, deren Energieversorgung nicht von Wladimir Putin abhing.Die deutsche Wirtschaft wuchs im Jahr 2022 um 1,9 Prozent: Eine Deindustrialisierung findet also nicht statt. Ja, auch ein milder Winter hat geholfen, dass die Gasspeicher Ende Januar noch zu 85 Prozent gefüllt sind. Das gesetzlich festgeschriebene Ziel sieht vor, dass der Füllstand am 1. Februar über 40 Prozent liegt. Wir werden doppelt so viel Gas übrig haben.Kassandra lag danebenKlar, die Lage kann sich noch ändern, etwa wenn es im Februar zu einem Wintereinbruch mit arktischen Temperaturen kommt. Aber trotzdem: Der Gaspreis liegt heute niedriger als vor einem Jahr, vor Kriegsbeginn. Sicher hat er im Sommer 2022 groteske Spitzen erreicht, die auch damit zusammenhingen, dass Deutschland den Markt leer kaufte und bereit war, jeden Preis zu bezahlen, um die Speicher zu befüllen. Aber derzeit deutet vieles darauf hin, dass die 200 Milliarden Euro, die die Ampel für eine Gas- und Strompreisbremse bereitgestellt hat, zu einem erheblichen Teil gar nicht benötigt werden. Weil der Gaspreis zu niedrig ist.Trotzdem tönen die Warnungen vor der Deindustrialisierung in den vergangenen Tagen und Wochen wieder: Deutschland stehe die Deindustrialisierung erst noch bevor, und nicht nur das: Wir drohen zum „Entwicklungsland“ zu werden, der Standort abzurutschen. Grund? Das „Habeckiri“ der Ampel, sprich die deutsche Klimapolitik, die Energie verteuere. Die überbordende Bürokratie, die die deutsche Wirtschaft ersticke. Und die hohen Steuern auf Unternehmen, die gar keine Wahl lassen als die Abwanderung.Es wäre gut, wenn wir nicht schon wieder darauf hereinfielen. Denn auch jetzt hört man ja durch all die Schwarzmalerei den gleichen Sound durch: Der Status quo muss mit aller Kraft erhalten bleiben. Die fossile Industrie etwa, die mit niedrigen Energiepreisen klimaschädliche Autos baut, darf nicht angetastet werden. Doch, sie darf. Wäre es nicht endlich an der Zeit, wir würden das Geld, das bei der Gaspreisbremse übrig bleibt, für eine zukunftsfähige Energieversorgung und Industrie einsetzen, anstatt damit nur wieder und wieder den Status quo zu subventionieren?