Porträt Ulrike Guérot war eine liberale Europa-Utopistin. Dann kamen Corona und der Ukrainekrieg, obendrein verlor sie wegen Plagiatsvorwürfen ihre Stelle als Professorin an der Universität Bonn. Gibt es einen Weg zurück?
„Ich bin froh, dass ich es überlebt habe“, sagt Ulrike Guérot über die öffentlichen Reaktionen auf ihr Buch und ihre Positionen zum Ukrainekrieg
Foto: Hannes Jung/Laif
Gleich zur Begrüßung, noch vor der ersten Interviewfrage, überreicht mir Ulrike Guérot ein Buch, „von früher, als ich noch beliebt war“. Es ist ein Band, den sie zusammen mit dem Schriftsteller Robert Menasse, der Dramaturgin Verena Humer und dem Theatermacher Milo Rau herausgegeben hat. The European Balcony Project heißt es und dreht sich um die Ausrufung der Europäischen Republik.Das Buch hält den Zenit, den höchsten Punkt in Guérots Laufbahn als liberal-progressiver Intellektueller fest.
Seitdem ist einiges passiert. Was genau, und warum, ist nicht so klar, wie es auf den ersten Blick aussieht. Sicher ist, es gibt ein Vorher und ein Nachher, in Guérots öffentlicher Biografie: Und es gibt einen Bruch, für den sie
uf den ersten Blick aussieht. Sicher ist, es gibt ein Vorher und ein Nachher, in Guérots öffentlicher Biografie: Und es gibt einen Bruch, für den sie auch privat einen hohen Preis bezahlt hat. An der Art und Weise, wie dieser Bruch sich vollzogen hat, lässt sich einiges über die Mechanismen unserer Öffentlichkeit lernen, darüber, wie mediale Öffentlichkeit funktioniert. Die Frage ist: Kann der Bruch wieder gekittet werden? Gibt es ein Zurück, oder wenigstens: gibt es die Möglichkeit einer Verständigung?Das Vorher in Ulrike Guérots Laufbahn sieht so aus: Sie reist quer durch Europa, und besingt ihre Utopie. Wer eine Stimme brauchte, die der mittelmäßigen, bürokratischen Wirklichkeit der EU eine Vision entgegenstellte, gerade so radikal, dass sie intellektuell stimulierend war, aber ohne das Bestehende in seinen Grundfesten in Frage zu stellen, der rief Guérot: Und sie kam, hielt Vorträge und gut dotierte Keynotes, schrieb Artikel und Bücher, sprach im Radio und in Talkshows. Sie machte Karriere: Aus der Kleinstadt Grevenbroich in Nordrhein-Westfalen ging es an die Uni Bonn, dann nach Paris, Washington, Berlin, schließlich über Thinktanks und Unis wieder zurück an ihre Alma mater in Bonn, dieses Mal als Professorin. Man kann davon ausgehen, dass Guérot gut davon gelebt hat, vom Vorträge halten und Bestseller schreiben und vom Ausrufen der Europäischen Republik. Das Nachher ist jetzt und sieht so aus: Guérot tritt mit Daniele Ganser auf, einem Schweizer Historiker, der ihrem einstigen Milieu als verschwörungstheoretischer Gottseibeiuns gilt. Ihr Arbeitgeber, die Universität Bonn, hat ihr wegen Plagiaten gekündigt. Guérot unterstützt jetzt das Vorhaben von Sahra Wagenknecht, eine neue Partei zu gründen, malt sich vielleicht sogar Chancen auf einen der vordersten Listenplätze bei der Europawahl 2024 aus. Guérot als öffentliche Intellektuelle hat ihr einstiges Publikum verloren. Und dafür ein neues gefunden, zum Beispiel in Youtube-Videos mit dem ehemaligen Linke-Bundestagsabgeordneten und Wagenknecht-Fan Diether Dehm. Von einer Pointe zur nächsten Auf die Frage, wo sie abgebogen sei und warum, sagt Guérot, nicht sie sei ausgeschert, sondern die anderen. „I didn’t leave the party, the party left me.“ Tatsächlich sieht Guérot aus wie früher. Rothaarig, mit knallrotem Lippenstift. Und sie wirkt auch wie früher: Sie gestikuliert mit großer Lebendigkeit und Verve, sie spricht schnell und denkt schnell, das Gespräch mit ihr fließt rasant dahin, von einer Pointe zur nächsten. Aber von ihrem früheren Leben trennt sie trotzdem ein krasser Bruch. Über diesen sagt Guérot: „Ich bin froh, dass ich es überlebt habe.“ Erst jetzt, im Frühsommer 2023, fühlt es sich für sie so an, als sei sie aus dem Gröbsten raus. Als sei die Zeit der Shitstorms endlich vorbei. Jetzt, hinterher, sagt Guérot, komme sie sich vor wie ihr Großvater, der nach der Rückkehr von der Front im Zweiten Weltkrieg, nachdem er beide Beine verloren hatte, wieder zuhause in Grevenbroich am Marktplatz merkte: Es gab kein gemeinsames Band der Erfahrung mehr mit den Zuhausegebliebenen. Niemand konnte verstehen, was ihm passiert war. Nun wird gewiss mancher sagen: Der Vergleich ist doch total drüber und schräg, sich mit einem Kriegsversehrten zu vergleichen, der seine Beine eingebüßt hat, wenn Guérot selbst doch nur ihren Job verloren hat und ihre frühere Reputation. Aber andere werden denken: Krass, genauso fühle ich mich auch. Denn Guérot meint nicht nur das, was ihr persönlich widerfahren ist: Die Shitstorms und die vernichtende Kritik ihrer Bücher, den Rauswurf an ihrer Uni, den Verlust von sozialen Kontakten, Freunden, eines ganzen Milieus. Sondern auch das Gefühl, dass ringsum alle wieder zur Normalität zurückkehren, während man selber noch weit entfernt davon ist. Zum Beispiel in Sachen Corona. Das ist ja der Anfang des Bruchs, der Guérot aus ihrem früheren Leben herauskatapultiert hat. Für Guérot und viele ihrer neuen Anhänger war Biopolitik auf einmal am eigenen Körper spürbar. Sie erlebten die Suspendierung von Grundrechten wie der Versammlungsfreiheit als einschneidend, Es schockierte sie, dass so was möglich war. Der Covid-Schock sitzt noch Ich selbst kann sagen: Auch mir schienen manche Ge- und Verbote während der Coronazeit absurd, ja surreal. Aber ich habe darunter nie eine sinistre Entgleisung der ansonsten wohl geordneten Machtstrukturen unserer liberalen Demokratie verspürt. Sondern eher die Überforderung einer sowieso schon gebeutelten Regierungsform, die eben, wie alle anderen auch, von Machtstrukturen durchzogen ist. Ich habe das Ganze dann auch überraschend schnell vergessen, nachdem es vorbei war. Es gab ja anderes, privat wie politisch, das auf dem Fuß folgte, kleine Krisen und große Krisen, Schönes und Aufregendes. Guérot aber würde sagen: ich habe „verdrängt“. Und tatsächlich zerfällt unsere Gesellschaft gerade in das Lager der einen, die sich gar nicht mehr richtig daran erinnern können, wie vor kurzer Zeit noch das ganze Leben von der Pandemie bestimmt wurde, oder was „2G“ überhaupt geheißen haben mag. Und ein anderes Lager, für das die Vergangenheit noch nicht vergangen ist. Guérots Unterstützer leben noch immer im „Maßnahmenstaat“, also einem scheinbaren Rechtsstaat, der kurzzeitig-totalitäre Anfälle und Ausfälle hat. Beide Lager verbindet kein gemeinsames Band, kein gemeinsamer Boden, auf dem man ernsthaft diskutieren könnte. Beide Lager teilen bloß die Eigenschaft, dass sie sich zu einem guten Teil über die Verneinung des jeweils anderen definieren. Und die Gewissheit, selbst das Lager der Vernunft und der Vernünftigen zu sein. Eigentlich ist es erstaunlich, nicht zwingend, dass sich die Lagergrenzen angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine nahezu deckungsgleich wiederholen. Aber warum hatte sich Guérot überhaupt so auf Corona eingeschossen, da doch ihr Lebensthema eigentlich Europa war? Das habe mit der medialen Öffentlichkeit selbst zu tun, vermutet ein Bekannter aus ihrem früheren Leben: Während der Pandemie sei mit Europa nun mal kein Blumentopf mehr zu gewinnen gewesen, mit Kritik am Regierungshandeln aber schon. Ähnlich, aber noch schärfer zitiert die Neue Zürcher Zeitung eine anonyme ehemalige Kollegin Guérots: „Wie ein Junkie die Droge suche sie die Aufmerksamkeit“. Nun ist klar: Eine öffentliche Intellektuelle ohne Öffentlichkeit, das funktioniert nicht. Aber bei Guérot war es nicht so, dass sie mit der Pandemie arbeitslos geworden wäre, eher im Gegenteil. Noch im Herbst 2020, da war Corona schon mehr als ein halbes Jahr alt, bewirbt sie sich auf die Professur für Europäische Politik an der Universität Bonn, die wie auf sie zugeschnitten scheint. Man sucht jemand mit medialer Präsenz und Strahlkraft. Guérot bekommt die Stelle. Sie habe die Berufung empfunden wie eine Auszeichnung, wie ein Geschenk, sagt sie. Gerichtstermin: 25. Oktober Aber dann passiert etwas, das sich wiederholen wird, immer wieder, eine Art Interaktion von Guérot mit sozialen und traditionellen Medien, die sie selber umso mehr beschädigt und belastet, je mehr Aufmerksamkeit sie bekommt. Eine Art toxischer Beziehung zwischen Intellektueller und Öffentlichkeit. Guérot sagt, sie hätte gedacht, nun sei Corona vorbei, und sie könne sich wieder Europa zuwenden. Doch dann wird sie bei BildTV eingeladen, der Ukrainekrieg hatte schon begonnen, und Guérot, die eigentlich von Europa erzählen wollte, erfuhr erst in der Maske, dass es ausnahmsweise doch eine monothematische Sendung zur Ukraine geben sollte. Sie habe sich schnell sortieren müssen, habe googelt und ein Cicero-Zitat gefunden: „Der ungerechteste Frieden ist besser als der gerechteste Krieg“. Auf die Sendung folgt ein Shitstorm, die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann nennt Guérot auf Twitter „widerwärtig“. Wenig später lädt die Redaktion von Markus Lanz sie in die Sendung ein, Strack-Zimmermann sei auch dabei. „Aus heutiger Sicht“, sagt Guérot, „war es ein Fehler, da hinzugehen“. Die Sendung wird eine mediale „Hinrichtung“, sagt sie, ein „Tribunal“. Es scheint typisch für sie: Es ist unklar, ob Guérot wusste, worauf sie sich einlässt – doch sie bezahlt den Preis, die Belastung für ihre Gesundheit, für ihr Renommee; und sie weicht keinen Millimeter zurück. Wie immer zerfällt die Bewertung in zwei sich ausschließende Lager: Standhaft sei sie und mutig, sagen die einen, verbohrt und realitätsfremd, die anderen. Guérot erzählt, wie die Sendung sie so stark gesundheitlich belastet habe, dass sie sofort eine psychosomatische Reaktion hatte. Und: „Ich habe selten so viel Sympathie bekommen wie nach der Lanz-Sendung, Wäschekörbe voller Sympathiebriefe.“ Das Muster wiederholt sich auch, nachdem im Juni 2022 in zwei Artikeln in der FAZ Plagiatsvorwürfe gegen sie erhoben werden: Sie schreibt ihr Buch Endspiel Europa. Als es im Oktober 2022 erscheint, ist das Echo groß. Ihre Universität aber distanziert sich von ihr und kündigt ihr im März 2023. Als Grund werden die Plagiate angeführt, die man in berufungsrelevanten Schriften und in Veröffentlichungen seit ihrem Antritt als Professorin gefunden habe. Für Guérot, und ihre Unterstützer, ist klar, dass die Vorwürfe nur vorgeschoben sind, instrumentalisiert, weil man sie für ihre Positionen abstrafen will; als Indiz wertet man hier auch den Umstand, dass der Autor, der als erster die Plagiatsvorwürfe in der FAZ erhoben hat, Markus Linden, sonst auch für das Projekt "Gegneranalyse" des Zentrum Liberale Moderne schreibt, einem Thinktank unter der Leitung des ehemaligen Bündnisgrünen Politikers Ralf Fücks.Von Lucke versteht Guérots Schwenk nichtEiner der Autoren, dessen geistiges Eigentum Guérot sich in ihrem ersten Europabuch angeeignet hat, ist der langjährige Freitag-Autor und Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik, Albrecht von Lucke. Der sagt über die Causa: „Ich hatte nicht vor, gegen das Plagiat vorzugehen; für mich persönlich war die Angelegenheit damit erledigt, dass Guérot sich bei mir entschuldigt und die Sache in der zweiten Auflage klargestellt hatte."Von Lucke, den Guérot als einen „Freund“ bezeichnet, mit dem die Sache rasch ausgeräumt worden sei, sagt, ihn habe „keine enge Freundschaft, eher eine kollegial-freundschaftliche Beziehung“ mit Guérot verbunden. Nicht verstehen aber könne er ihren politischen „Schwenk“: „Für mich ist es völlig unnachvollziehbar“, sagt von Lucke, „wie eine zuvor eher übertriebene Europa-Utopistin zu einer braven Parteigängerin des national-populistischen Kurses von Sahra Wagenknecht werden kann. Das erklärt sich meines Erachtens nur dadurch, dass sie jetzt nur noch im Lager der Corona-Leugner und Relativierer des russischen Angriffskrieges die Anerkennung erhält, die ihr in den angeblichen Mainstreammedien versagt bleibt.“ Aber auch von Lucke kann sich vorstellen, dass es zu den Plagiatsvorwürfen und der Kündigung gar nicht erst gekommen wäre, wäre Guérot nicht von einem Lager ins andere gewechselt: „Im ‚Fall Guérot‘ kamen zwei Dinge zusammen, die sich fatal ergänzten", findet er: "Die Uni Bonn wollte sie ganz offensichtlich nicht zuletzt als mediales Aushängeschild für ihre neue Professur für Europapolitik. Und Ulrike Guérot hat dagegen – offenbar bis heute – wenig Einsicht in die wissenschaftlich problematischen Aspekte ihrer Arbeitsweise. Mit ihren hoch umstrittenen Positionen in der Coronakrise und zum Ukraine-Krieg musste das letztlich zum Crash kommen.“ Guérot zitiert Aischylos: „So ist es des Menschen Charakter, den der fällt, noch zu treten.“Im Winter nach Erscheinen ihres letzten Buches habe sie sich krank schreiben lassen müssen, sagt Guérot, weil sie wegen Schwindelanfällen zweimal die Treppe runtergefallen sei. Und sie zitiert Aischylos, um zu beschreiben, wie sich diese Zeit angefühlt habe, als sie öffentlich „geprügelt“ wurde: „So ist es des Menschen Charakter, den der fällt, noch zu treten.“ Danach sei sie wochenlang depressiv gewesen, „ich saß apathisch auf dem Sofa und starrte die Wand an.“ Geholfen habe ihr allein ihre Yogamatte, wie immer, wenn sie unter Beschuss stehe. Guérot wehrt sich gerichtlich gegen ihre Kündigung. Die Sache wird am 25. Oktober vor Gericht entschieden, wenn es bis dann keine Einigung gibt. Sie hofft darauf, rehabilitiert zu werden. Doch gibt es für sie einen Weg zurück? Wohl erst, wenn sich die jeweiligen Lager nicht mehr so unversöhnlich gegenüberstünden. Wenn das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung durch Abgrenzung nachließe. Und die Grenzen wieder durchlässiger würden.