Nach welcher Freiheit schrien die Demonstrant*innen vor 70 Jahren?

17. Juni 1953 Mit dem 17.Juni 1953 soll ein neues deutschnationales Symbol kreiiert werden. - Statt dessen sollte kritischer auf die Ereignisse vor 70 Jahren gebllickt werden

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In Westdeutschland war der 17. Juni in den 1970er und 1980er Jahren ein Feiertag für Deutschnationale sowie Alt- und Neonazis aller Couleur, die beispielsweise am Römer in Frankfurt/Main aufgefahren sind, um den deutschen Volksaufstand am 17. Juni 1953 zu feiern. Antifaschist*innen versuchten an diesen Tage den Rechten nicht die Straße zu überlassen. Dabei gab es durchaus unterschiedliche Ansichten über den Charakter der Revolte der DDR. Vor allem Trotzkist*innen betonten den klassenmäßigen Aspekt, dass es ein Aufstand von Arbeiter*innen ging, die sich gegen die Belastungen und Zumutungen einer autoritären stalinistischen Partei wehrte. Das war sich ein wichtiger Aspekt des 17.Juni. Doch da war auch die Angst nicht weniger Antifast*innen, darunter viele KZ- und Shoah-Überlebende, denen die Ereignisse vom 17. Juni 1953 Angst machten. Sie sahen in erster Linie einen deutschen Aufstand. Sie sahen einen deutschen Mob, der wieder Jagd auf Kommunist*innen machte, wie vor 1945. Jetzt wird sofort der Einwand kommen, es ging eben um eine autoritäre Staatspartei und Angehörige von deren Polizei.

Der Mord an Wilhelm Hagedorn

Doch schauen wir uns mal ein Opfer des 17. Juni 1953 an, dem bei den staatsoffiziellen Veranstaltungen nicht gedacht wird. Er war Landarbeiter und seit 1920 KPD-Mitglied. Während der NS-Zeit saß er im Konzentrationslager. In der DDR arbeitete er bei der Kriminalpolizei und griff dort konsequent gegen die Rathenower Nazis durch. Dafür wurde er im Westberliner Rundfunksender RIAS namentlich an den Pranger gestellt. Denn dort hatte man schnell erkannt, dass die Nazis weiter verwendungsfähig waren im Kampf gegen die Roten. Am 17.Juni 1953 kam die Rache. Einige Demonstranten müssen Hagedorn aus seiner Tätigkeit bei der Kriminalpolizei wiedererkannt haben und pöbelten ihn an. Hagedorn flüchtete vor den Anpöbeleien der Demonstranten in Richtung Fehrbelliner Platz. Er wurde jedoch ergriffen und verprügelt. Trotzdem konnte er sich mit Hilfe einiger Genossen in einem Raum der Molkerei in Sicherheit bringen. Als Hagedorn in einem Krankenwagen aus der Molkerei gebracht werden sollte, machten die Demonstrant*innen Anstalten, den Krankenwagen umzustürzen und bemächtigten sich seiner erneut. Sie schleppten ihn zum Schleusenkanal und warfen ihn in das Wasser. Als Hagedorn auftauchte, bekam er von 2 Jugendlichen mit dem Ruder einen Schlag auf den Kopf. Jetzt griff die inzwischen herbeigeholte Kriminalpolizei ein und Hagedorn wurde in Sicherheit gebracht. Bei der Kriminalpolizei machte Hagedorn noch Angaben zu den Personen, die ihn mißhandelt hatten. Wilhelm Hagedorn ist am 17.06.53 um 16.50 Uhr, nach seiner Einlieferung in das Krankenhaus, an einer Gehirnblutung verstorben. Zu den Anstifter*innen des Mordes an Wilhlem Hagedorn gehörte Franziska May, deren Mann ein berüchtigter SS-Obersturmbannführer war, den Hagedorn hat verhaften lassen. Ist da nicht verständlich, dass KZ- und Shoah-Überlebende vor diesen Aufstand Angst hatten?. Denn der Mord an Hagedorn war keine Ausnahme, die nichts mit den Ereignissen am 17. Juni 1953 zu tun hatte. In Halle konnte eine ehemalige KZ-Kommandeuse nicht nur aus dem Gefängnis entfliehen sondern auch noch anfeuernde Reden an die Masse halten. An klssenbewußte Arbeiter*innen sicher nicht. Es waren auch nicht in erster Linke vom Westen aufgesetzte Menschen, die da auf der Straße waren.

Nach welcher Freiheit wurde am 17. Juni geschrien?

Da ist Heiner Müller viel schlauer gewesen. Der hat in der Wolokolamskauer Chaussee gut beschrieben, wie die ehemaligen Nazis, die bis 1945 jede Führerbefehl eigenständig bis auf den letzten versteckten Juden umsetzen, auf einmal ihre Freiheit reklamierten. Wo waren sie 1933, wo schrien sie gegen die Unterdrückung als 1938 die Synagogen brannten. Wo war ihr Mut gegen die Diktatur als die Juden abgeholt wurden? Haben die Massen am 17.Juni 1953 sich vielleicht gar nicht generell gegen Herrschaft aufgelehnt, sondern nur dagegen, dass jetzt vermeintliche oder tatsächliche Kommunist*innen Staat machen wollten? Und haben sie deshalb mit Wilhelm Hagedorn das gemacht, was sie schon vor 1945 so gut gelernt hatten? Noch bis in den 1980er Jahren schrien Menschen mit NS-Hintergrund Antifaschist*innen entgegen, Euch hätte es beim Adolf nicht gegeben. Im Fall von Wilhelm Hagedorn haben sie gezeigt, wozu sie fähig sind. Das bedeutet nicht, dass es bei den Ereignissen des 17.Juni durchweg um einen vom vom Westen gesteuerten faschistischen Aufstand handelte, wie es die SED-Propaganda behauptete. Es war ein deutsche Aufstand, ein Aufstand von Menschen, die bis 1945 überwiegend im Sinne des NS funktioniert hatten, die mehrheitlich von deren Propaganda beeinflusst wurde. Deshalb konnten sich auch offene Nazis dort unbehindert bewegen. So wie im Mai 2014 in Kiew am Maidan. Auch dort kann nicht von einer faschistischen Bewegung in Gänze die Rede sein, aber die Rechten schwammen dort wie die Fische im Wasser. So hatte Bundespräsident Steinmeier, der einen Zusammenhang zwischen den 17. Juni 1953 und den Maidan-Protesten herstellte, damit vielleicht mehr recht, als ihm selber bewußt war.

Von Christa Wolf lernen

Ich sehe nicht, was es da für Linke zu feiern gibt. Sympathisch war mir vielmehr die Haltung von Christa Wolf. Die wurde am 17.Juni 1953 massiv angefeindet, weil sie mit dem Abzeichen der SED auf die Straße gegangen war. Sei weigerte sich aber vehement, das Abzeichen abzunehmen. Vielleicht sollte mehr nach den Gründen gefragt werden, als heute wieder im Stil des Kalten Krieges den 17. Juni zum deutschen Gedenktag zu machen. Damit werden die Ängste der KZ- und Shoah-Überlebenden arrogant übergangen. Bereits vor 20 Jahren hatte Philipp Graf in der Jungle Word alles Nötige zu der Etablierung des 17. Juni als deutscher Feiertag gesagt.

"Die im Zuge des 50jährigen Jubiläums 2003 offensiv betriebene Eingemeindung des 17. Juni in eine ihrerseits stark halluzinatorische Züge tragende deutsche Demokratietradition ist freilich nur aufrecht zu erhalten, indem die verstörenden Momente des 17. Juni abgespalten werden zugunsten einer totalitarismustheoretischen Sichtweise, die beide Systeme als »Diktaturen« tendenziell gleichsetzt. Dass sich ein Teil der Demonstranten in ihrer Auflehnung gegen die SED der Sprache und der Feindbilder des nationalsozialistischen Deutschland bediente, stört dieses Bild nachhaltig, wohl auch, weil die Frage im Raum steht, ob ein Aufstand vor 1945 gegen das wesentlich repressivere NS-System nicht deshalb unterblieb, weil die Deutschen sich in ihrer Mehrheit mit diesem identifizierten. Insofern weist die hegemoniale Erzählung vom 17. Juni untergründig auch auf die verborgen wirkende Präsenz der Shoa als Kern des Nationalsozialismus hin. Im Sinne einer verlängerten Schuldabwehr scheint die Verantwortung für den Genozid an den europäischen Juden jedenfalls immer noch – wissentlich oder unwissentlich – geleugnet zu werden. "

Philipp Graf, Jungle World

Der vollständige Text von Philipp Graf, der auch in Bezugnahme auf den Roman Rummelplatz von Werner Bräuning über die Stimmung am 17. Juni und die Angst vor einer Wiederkehr des NS schrieb, sind hier noch nachzulesen.

https://jungle.world/artikel/2013/24/ein-tag-des-volkes

Es solle auch weiterhin zu einer deutschlandkritischen Linken gehören, den deutschen Mythos als das zu dekonstruieren, was er war. Ein Angstraum für alle, die bis 1945 weggesperrt und verfolgt wurden. Manchevon ihnen haben diesen Tagen nicht überlebt wie Wilhelm Hagedorn.

Peter Nowak

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Peter Nowak

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