Der unbekannte Massenmord

Erinnerung Ein Buch fragt, warum neben Distomo in Griechenland oder Lidice in Tschechien nicht auch die Namen der von Deutschen ausgelöschten sowjetischen Dörfer bekannt wurden

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Friedhof der Namenlosen – So lautet die Überschrift über einen Artikel in Freitag 11/2019 von Ulrich Heyden zu einen vergessenen Friedhof für sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland. Solche namenlose Friedhöfe gibt es in vielen Orten in Deutschland, an denen sowjetische Kriegsgefangene ermordert worden oder an Hunger starben und namenlos verscharrt wurden. Bis heute gibt es nur wenige Initiativen, die sich für ein angemessenes Gedenken einsetzen. Den Gründen für diese Ignoranz widmet sich das ein von Alexandra Klei und Katrin Stoll im Neofelis-Verlag herausgegebenes Buch. Im Vorwort begründen die beiden Herausgeberinnen, warum der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion in der öffentlichen Wahrnehmung eine marginale Rolle spielte. Dafür liefern die 10 Aufsätze in dem Buch eine Fülle von Belegen. Daher könnte das Fragezeichen im etwas sperrigen Titel eigentlich wegfallen. Die Leerstellen sind evident und bedeuten nicht, dass der Krieg gegen die Sowjetunion kein Thema in Deutschland war. Darauf weist Janine Fubel in ihrem Aufsatz über die Menge von Fotos hin, die deutsche Soldaten während des Kriegs im Osten geschossen haben. Überwiegend werden natürlich die Deutschen als Herrenmenschen und die Sowjets als gesichtslose Herde gezeigt. Es gibt genügend Fotos, auf denen sich deutsche Soldaten neben Leichen fotografieren lassen. Sie fanden sich in Familienalben und wurden lange nach Kriegsende noch gezeigt. Doch Fubel weist am Ende ihres Beitrags darauf hin, dass in den letzten Jahren verstärkt solche Fotos im Internet zum Kauf angeboten werden. Die Beschriftungen oft in NS-Diktion werden übernommen. Johannes Spohr widmet sich in seinem Aufsatz den massenhaften Abbrennen von sowjetischen Dörfern durch die deutsche Wehrmacht und ihren Verbündeten. Die Zahl der dabei umgekommenen Menschen ist bis heute nicht erforscht. „Einwohner*innen wurden gezwungen, die Gruben auszuheben, an denen sie dann erschossen wurden. Wie in den Berichten der Massenerschießungen der Sonderkommandos benutzen die Täter auch hier in ihrem Berichtwesen das Wort Sonderbehandlung für die Ermordung“, schreibt Spohr.

Wer kennt die ausgelöschten Dörfer in der Sowjetunion?

Er fragt sich, warum nicht neben Distomo in Griechenland oder Lidice in Tschechien auch die Namen von Deutschen ausgelöschte sowjetische Dörfer bekannt geworden sind. Andreas Hilger widmet sich dem Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen, die ebenfalls aus den Erinnerungen getilgt worden sind. Viele kamen schon beim Transport ums Leben. Denn die Deutschen zwangen die oft schon erschöpften und verletzten Menschen den Weg in die Gefangenschaft zu Fuß zurückzulegen. Hilger vergleicht sie den Todesmärschen von NS-Gefangenen in der Endphase des NS-Regimes. Zivilgesellschaftliche Initiativen wie die Gruppe „Blumen für Stuckenbrock, die sich für die Erinnerung an die sowjetischen Kriegsgefangenen in einem Sennelager in der Nähe von Bielefeld einsetzten, wurden noch in den 1980er Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet. Auch der gemeinnützige Verein Kontakte – Kontakty bekam kaum offizielle Unterstützung. Noch vor wenigen Jahren erklärte die damalige CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach Russland solle sich um die ehemaligen Kriegsgefangenen kümmern. Wie sich die Leerstelle des deutschen Vernichtungskriegs in der Sowjetunion auf das Gedenken an die Opfer der Shoah auswirken ist ein weiteres wichtiges Thema des Buches. Denn in der Sowjetunion wurde ein Großteil der jüdischen Bevölkerung von den Deutschen und ihren Hilfstruppen nicht fabrikmäßig wie in Auschwitz ermordet, sondern erschossen. Die Tatorte waren im ganzen Land verstreut, auf Feldern und Straßen. In einem Kapitel wird an den im letzten Jahr von Bundespräsident Steinmeier eingeweihten Erinnerungsort Malyj Trostenez in Belorussland eingegangen. Dort wurden zwischen 1941 und 1944 zwischen 50000 und 200000 Menschen ermordet, darunter viele Jüdinnen und Juden. Mehrere Kapitel widmen sich der Darstellung der deutschen Verbrechen in der Sowjetunion in Schulbüchern und in verschiedenen Museen. In einer Zeit, wo aus aktuell-politischen Gründen das Russland-Bashing weitverbreitet ist und zumal in Deutschland die Geschichte entsorgt wird, liefert das Buch etwas historischen Nachhilfeunterricht.

Peter Nowak

Alexandra Klei/Katrin Stoll (Hg.) Leerstelle(n)? Der deutsche Vernichtungskrieg 1941–1944 und die Vergegenwärtigungen des Geschehens nach 1989, 25,00 €, Neofelis Verlag, 266 Seiten, ISBN: 978-3-95808-227-4,

Link zum Buch: https://neofelis-verlag.de/verlagsprogramm/geschichte/966/leerstelle-n

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Geschrieben von

Peter Nowak

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