Die Schweinegrippe des Ancien Regimes

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Einige Wochen war die Schweinegrippe nicht mehr die Top-Nachricht in denMedien. Seit dem 11. Juni hat sich das geändert. Die Weltgesundheitsbehörde stufte die Schweinegrippe als Pandemie ein und das Bundesgesundheitsministerium machte gleich klar, was das bedeuten kann. Es würden noch keine Massenveranstaltungen unter freiem Himmel in Deutschland verboten. Was tröstlich klingen soll, ist in Wirklichkeit eine Drohung. Es kann tatsächlich im Grunde jede Versammlung, jede Demonstration und jedes Festivalverboten werden,mit der Begründung, es bestehe Ansteckungsgefahr.


Mexiko bot vor einigen Wochen ein anschauliches Beispiel, wie die Pandemie das gesamte öffentliche Leben des Landes lähmte. Dem autoritären konservativen Präsidenten kamdas entgegen. Für die mexikanische Elite wurde es erst unangenehm, als die USA die gesamte mexikanische Bevölkerung unter Quarantäne stellte. Reisende aus Mexiko wurden abgesondert, interniert und schikaniert. Produkte aus Mexiko wurden nicht durchgelassen. Unter dem Deckmantel der Krankheitsbekämpfung wurde hier eine protektionistische Politik durchgesetzt. Die Ausgrenzung betraf nicht nur Reisende sondernauchin den USA lebenden Arbeitsmigrantenaus Mexiko. Die linke US-Gruppe Midnight Notes nennt den Diskurs über dieSchweinegrippe als direkten Angriff auf die lateinamerikanische Arbeiterklasse in den USA. Was sich auf den ersten Blick vielleicht verschwörungstheoretisch anhören mag,ist in Wirklichkeitgar nicht so unwahrscheinlich.

Schon immer wurde mit der Angst vor Krankheiten eine reaktionäre Politik gemacht. So sorgte die Angst vor der Syphyllis nach dem ersten Weltkrieg für die „Faschisierung des bürgerlichen Subjekts“, wie der Buchtitel eines Argument-Bandes zu dem Thema hieß und sorgte mit für das Anwachsens der völkischen Bewegung, deren erfolgreichsten Vertreter.die Nazis waren. Sie haben mit geschürter Angst vor angebliche Seuchen und das Beschwören des bedrohten Volkskörpers Politik gemacht.


Schicksal statt Veränderung


Heute muss der Panikdiskurs mit der allgemeinen Krise des Ancien Regimes in Verbindung gebracht werden. Soziale Reformen, die in der fordistischen Phase des Kapitalismus eine Massenloyalität erzeugten, gibt esnicht mehr. Wenn man heute von Reformen redet, meint man weitere Sozialkürzungen und Verschlechterungen der Lebensbedingungen vieler Menschen. Da kommen irgendwelche Krankheiten, die man schnell zur Seuche bzw. Pandemie erklärten kann, gerade Recht.In Krisenzeiten blühen auch Irrationalismus, Untergangsstimmungen und diffuse Ängste. Die Angst vor Seuchen lässt sich hier sehr gut ausbeuten. Es sind scheinbar Naturereignisse, gegen die man sich höchstens schützen kann, die aber nicht zu beeinflussen sind. Schicksals- bzw. gottergeben soll der Mensch vor den Gewalten der Natur erschaudern. So soll vergessen gemacht werden, dass die Gesellschaftvon Menschen gemacht wurde und auch von Menschen verändert werden kann.Eine Gesellschaft, die ständig in Angst und Panik vor Anschlägen und jetzt vor Krankheiten gehalten wird, kann gar nicht auf den Gedanken der Veränderung kommen. Das ist die systemstabilisierende Rolle dieser Panikdebatten.

Aber die Krankheit gibt es doch, werden jetzt manche Leser anwenden. Das wird auch gar nicht bestritten . Doch welche Krankheitzur Pandemie und welche stillschweigend akzeptiert wird, liegt nicht an ihrer Gefährlichkeit. Dann müssten Bluthochdruck, Diabete soderKrebsschon lange zur Pandemie erklärt worden sein. An diesen Krankheiten sterben jährlich unvergleichlich mehr Menschen als an der Schweinegrippe.

Weltweit wird bisher von unter 150 Todesopfern dieser Krankheit0 ausgegangen. Das sind 150 zu viel, rechtfertigt aber nicht den Pandemiediskurs. Da wird vielmehrvon den Staatsapparatendie Gelegenheit ergriffen, in Zeiten der Krise eine reaktionäre Gesellschaftsformierung voranzutreiben. Dazudient die Kampagne um die Schweinegrippe. Wenn man sie effektiv bekämpfen wollte, müsste man dieGesundheitsvorsorge in aller Welt verbessern. Neue Medikamente müsstenkostengünstig hergestellt und verbreitet werden. Das wäre eine realpolitische Gesundheitspolitik, doch die steht heute gar nicht an erster Stelle. Mit dem Seuchen- und Pandemie-Diskurs wird die Gesellschaft noch weiter nach rechts gedrückt Während der Panik um den Rinderwahnsinn vor einigen Jahren haben findige Menschen getextet: „Wenn Deutschland spinnt, ist’s nicht vom Rind“.

Es wäre auch jetzt an der Zeit, dem Pandemie-Diskursund ihren Förderern energisch entgegenzutreten. Wennerst einmal wirklich Massenveranstaltungen abgesagt und Grenzen dichtgemachtwerden, ist es zu spät.


Peter Nowak

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Geschrieben von

Peter Nowak

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