Echo nach 30 Jahren

Mainzer Straße 30 Jahre nach der Räumung erinnert ein Bildband und eine Musik-DVD an die besetzte Häuserzeile in Berlin-Friedrichshain

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Barrikaden in Friedrichshain? Manche Geschichtsbewusste werden an den März 1919 denken, als Arbeiter*innen für eine Räterepublik kämpften. Dabei ist es gerade einmal 30 Jahre her, dass Hausbesetzer*innen der Mainzer Straße in Friedrichshain mit dem Bau von Barrikaden ihre Räumung verhindert wollten. Sie wurden am 12. November 1990 errichtet, nach dem die Polizeinach Protesten gegen Häuserräumungen in Lichtenberg in der Mainzer Straße Wasserwerfer eingesetzt hatte. Schwerbewaffnete Polizeieinheiten aus der gesamten Republik räumten am 14. November 12 besetzte Häuser und ein Mietshaus in der Mainzer Straße. Die Barrikaden hatten die Räumung verzögern, nicht aber verhindern können. Bei der Räumung gab es über 400 Festnahmen. Die Zahl der verletzten Besetzer*innen war wesentlich höher. Für viele von ihnen war die militärisch durchgesetzte Räumung ein traumatisches Erlebnis. Die meisten Besetzer*innen in der Umgebung waren danach sofort bereit, Einzelmietverträge abzuschließen, um nicht auch auf die Straße gesetzt zu werden.

Kampfansage nicht nur an die Besetzer*innen

Doch die Räumung der Mainzer Straße war nicht nur eine Kriegserklärung gegen die starke Hausbesetzer*innenbewegung Berlins. Sie wurde auch als Kampfansage an die Teile der DDR-Bevölkerung empfunden, die sich eben nicht von den in den Monaten seit Herbst 1989 von unten erkämpften Freiheiten verabschieden wollten. Die linke DDR-Opposition ist schließlich nicht gegen die autoritäre SED-Herrschaftaufgestanden, um sich BRDigen lassen, wie ein Bonmot lautete, dass damals auf vielen Wänden zu lesen war. Mit der militärischen Räumung der Mainzer Straße machten die repressiven Staatsapparate deutlich, dass er die neue jetzt auch in Ostberlin geltende Ordnung auch mit alle Gewalt durchgesetzt wird. Unter dem Titel "Traum und Trauma" ist im Ch.Links Verlag ein Buch erschienen, dass noch mal an die unterschiedlichen Aspekte der Mainzer Straße erinnert. Herausgegeben wurde es von Historiker*innen des Leibnitz-Zentrums fürHistorische Forschung in Potsdam. Die unterschiedlichen Protagonist*innen kommen zur Wort. Auch Menschen, die in der Umgebung der Mainzer Straße lebten und nicht unbedingt erfreut über die neuen Nachbar*innen waren. Es handelte sich schließlich um viele junge Leute auch aus der BRD-Provinz, die sich in Berlin ausleben wollten und Menschen mit anderen Vorstellungen schnell zu Spießer*innen stempelten. Die DDR-Oppositionellen im Umfeld der Zeitschrift telegraph hatten schon früh kritisiert, dass es auch in der Besetzer*innenbewegung eine Westdominanz und auch eine Arroganz gab, wie in vielen anderen Bereichen.

Nachspiel der Räumung in der Kunst

In dem Fotos gibt es auch teilweise bisher unveröffentlichte Fotos von Holger Herschel und Harald Hauswald. Sie machen das Band auch zu einen Bestandteil der Kunst nach der Räumung. Dafür gibt es im Buch ein eigenen Text im Kapitel „Nachspiel“. So zeigt das Buch, dass dieses Nachspiel noch nicht beendet ist. Auch der Sampler „14.11.90 - ein akustisches psychogramm“ von Marc Weiser, der zur Besetzerbewegung gehörte und vor 30 Jahren auf der Straße war, ist ein spätes Echo der Räumung. Die Tracks werden unterbrochen durch Polizeisirenen und Ansprachen der Polizei, wie sie vor 30 Jahren rund um die Mainzer Straße zu hören waren. Es ist ein beeindruckendes Psychogramm entstanden. Hier kann reingehört

(https://karlrecords.bandcamp.com/album/141190-ein-akustisches-psychogramm)

Wer gab damals den Räumungsbefehl?

In dem Buch konnten auch der damalige Berliner Polizeipräsident Georg Schertz sowie damalige Politiker*innen verschiedener Parteien ihre Sichtweise darlegen. Dabei wird man auf Widersprüche stoßen, die bis heute nicht aufgeklärt sind. Eine offene Frage ist das Verhalten der Alternativen Liste (AL), der Vorgängerpartei der Grünen. Sie verließ nach der Räumung der Mainzer Straße die Koalition und behauptet, sie sei im Vorfeld nicht über die Räumung informiert worden. Die damalige Senatorin Renate Künast bekräftigte diese Version der Ereignisse in dem Buch.Eine Seite vorher bezeichnet Walter Momper, der damalige Regierende Bürgermeister diese Darstellung als Lüge. „Am Dienstag in der Senatssitzung wurde über die Räumung gesprochen, was ja die Grünen immer bestreiten, aber das ist im Grunde nicht zu bestreiten. Unter Leitung von Ingrid Stahmer war die Situation in der Mainzer Straße Thema der Senatssitzung. Es wurde darüber geredet, wie das laufen würde, wenn es so weitergeht. Ich war in Moskau“. Ingrid Stahmer kann nicht mehr befragt werden. Sie ist am 20. August 2020 gestorben. Mitherausgeber Jakob Saß bemüht sich, im Archiv die Protokolle der Senatssitzung einsehen zu können. Dann müsste sich doch klären lassen, ob Momper oder Künast Recht hat. Oder wurde über die Räumung der Mainzer Straße gar nicht in Berlin entschieden? Das vermutet zumindest Gerald Dettling. Der Erstbesetzer der kürzlich geräumten Liebigstraße 34 hat in seinen im letzten Jahr veröffentlichten Buch „Stino - Von West nach Ost Berlin 1990“ auch über das Leben in der Mainzer Straße geschrieben, wo er sich häufig aufgehalten hat. In dem Band gibt eine überarbeitete Fassung seiner Erinnerungen. Für seine Vermutung spricht einiges. Warum war der Regierende Bürgermeister Momper in Moskau, während in Berlin einer der größten Polizeieinsätze über die Bühne ging? Sonst werden Auslandsreisen schon wegen geringerer Anlässe abgebrochen.Es spricht einiges dafür, dass die die Situation in Mainzer Straße Thema der bundesweiten Staatsschutzbehörden und des Innenministeriums waren, die damals noch in Bonn saßen. Schließlich konnte man sich dort noch gut an die Barrikadentage der Hamburger Hafenstraße im Dezember 1987 erinnern, wo die Besetzer*innen durch ihre Entschlossenheit eine Räumung verhinderten, weil der dortige Regierende Bürgermeisterdie Konfrontation nicht auf die Spitze getrieben hat. Konservative Law- and Order-Politiker*innen und die Beamt*innen der Sicherheitsapparate tobten. Sorgten sie im November 1990 dafür, dass sich in der Mainzer Straße das Hamburger Szenario nicht wiederholen sollte? Dann hätte Momper nur im Nachhinein die Verantwortung dafür übernommen. Vielleicht wird darüber auch am 11. November geredet, wenn Gerald Dettling gemeinsam mit Renate Künast über die Räumung der Mainzer Straße spricht. Ursprünglich sollte die Diskussion im Rahmen der Buchpremiere im Kreuzbergmuseum stattfinden. Jetzt wurde ins Netz verlegt. Hier gibt es weitere Informationen zu der Zoom-Veranstaltung

(https://zzf-potsdam.de/de/veranstaltungen/buchpremiere-traum-trauma-die-besetzung-raumung-der-mainzer-strasse-1990-ost-berlin)

Am 4.2. ab 19 Uhr organisiert die Fachschaft Geschichte der FU-Berlin eine weitere Onlinediskussion Protagonist*innen des Buches. Hier der Link:

https://www.youtube.com/watch?v=8BsiK3Xum1Y

Peter Nowak

Traum und Trauma. Die Besetzung und Räumung der Mainzer Straße 1990 in Ost-Berlin, Chr. Links.Verlag, ISBN: 978-3-96289-104-6, 20 Euro

Der Bildband kann hier bestellt werden:

https://www.christoph-links-verlag.de/index.cfm?view=11&addcart=1&titel_nr=9104

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Geschrieben von

Peter Nowak

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