Herr Chirac, Sie haben meinen Vater den Darm zerstört"

Édouard Louis Der linke französische Schriftsteller ist heute noch einmal mit seiner Leseperformance in der Berliner Schaubühne zu sehen. Sie beginnt um 20 Uhr.

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Der junge französische Autor Édouard Louis sorgt noch immer für ausverkaufte Theatersäle. Am Montagabend las er aus seinen Bestseller „Wer hat meinen Vater umgebracht“ in der Schaubühne . 90 Minuten gelingt es ihm hervorragend, die sehr persönliche Leidensgeschichte eines Jugendlichen, der sein Schwulsein entdeckt, mit dem Leiden im Kapitalismus zu verbinden. In der ersten Szene sitzt Louis mit grauen Kapuzenpulli am Arbeitstisch und tippt in seinen Laptop. Im Hintergrund sieht man auf einen Video eine Autobahn im Nebel. Als sich der Smog lichtet, erkennt man eine französische Autostraße. Sie führt in die kleine Stadt, in der Louis seine Kindheit verbracht hat und schon mit 18 Jahren in die Großstadt entflohen war. Wenig später hat die Mutter den Vater verlassen und in der Stadt noch einmal ein neues Leben begonnen. Hier könnte man von einer gelungenen Emanzipationsgeschichte von zwei Menschen reden. Dann besucht der Sohn den vereinsamten Vater, der nach einen Arbeitsunfall in der Fabrik schwer erkrankt ist. Schon der Gang zur Toilette führt zur Kurzatmigkeit. Er könnte jeden Moment an Herzstillstand sterben und dabei ist er noch nicht einmal 50 Jahre, so die Klage von Louis. In mehreren Rückblenden erzählt der Autor dann von seiner Kindheit und Jugend. Dabei wechselt er auf der Bühne die Sitzgelegenheiten. Mal nimmt er auf einen weißen Plastik-Gartenstuhl, um dann auf einer alten Leder-Imitation Platz zu nehmen, bevor er sich wieder an den Arbeitstisch zieht.

Wie gewalttätig war der Vater?

Ergreifend ist der Bericht, wie sich der 8jährige Édouard den Film Titanic zu Weihnachten wünscht und der Vater mit der Begründung ablehnt, dass wäre ein Film für Mädchen. Er solle sich etwas wünschen, was typisch für einen Jungen ist oder er bekomme gar kein Geschenk. Hier wird das Bild vom „gewalttätigen, trunksüchtigen, rechtsradikalen Vater, dessen homophobe Wutausbrüche ihn als schwulen Heranwachsenden in der französischen Provinz fürs Leben traumatisierten“ scheinbar bestätigt, mit dem der Pressetext des Theaters die Leseperformance bewirbt. Aber der kleine Édouard bekommt seinen Wunschfilm sogar in einer besonders noblen Verpackung und darf ihn dann mehrmals in der Woche sehen. Denn der hier besonders negativ beschriebene Vater existiert in der von Louis erzählten Fassung gar nicht. Der Vater ist mitnichten gewalttätig, sondern hat sich im Gegenteil geschworen, nie seine Frau und Kinder zu schlagen, weil er in seiner Kindheit massive Gewalt von seinem Vater erlebt hat. Louis beschreibt diese Katharsis mit dem schönen Satz, dass es ein Beispiel, wo Gewalt nicht erneute Gewalt sondern Gewaltlosigkeit erzeugt habe. Diesen Grundsatz hält der Vater auch durch, als ihn sein älterer drogenabhängiger Sohn schlägt. Vorausgegangen war ein Streit, den Louis selber verursacht hat. Anrührend ist auch die Szene, wo der heranwachsende Louis mit seinen Freunden auf einen Familienfest eine schräge Tanzeinlage hinlegt und der Vater wegschaut, was der Sohn als schwere Kränkung empfindet. Auch aber auch diese Szene findet ein Ende, das den Vater eben nicht in den beschriebenen Licht als Gewalttäter zeigt.

Vom Kapitalismus gebrochen

Hier wird eher ein Mann gezeigt, der in seiner Jugend gerne getanzt und sich verkleidet und dann als Fabrikarbeiter immer mehr von seinen Wünschen und Träumen begraben hat. Dahinter ist auch ein Schmerz zu erkennen, den sein Sohn anfangs befremdet. Deshalb reagiert er auch die jugendlichen Ausbruchsversuchen seines Sohnes ablehnend. Diesen Zusammenhang wird Édouard Louis begreifen, als er selber Erwachsenen ist. Dem gelingt im letzten Teil der Vorführung aus den scheinbar privaten Scheitern ein gesellschaftliches Problem zu machen. Er beschreibt, dass es die kapitalistische Fabrikarbeit ist, die die Gesundheit des Vaters ruiniert hat. Man erinnert sich an das Buch „Die Arbeit des Körpers“ von Wolfgang Hein, der beschreibt, wie seit Generationen Proletarier*innen ihre Gesundheit und ihr Leben durch die Arbeitsverhältnisse ruinieren. Sie nehmen sie oft hin, ohne sich zu wehren und treten dann lieber auf noch Schwächere ein. Doch Louis gelingt es auch die Verantwortlichen in der französischen Politik zu benennen, die an den unterschiedlichen Krankheiten des Vaters Verantwortung tragen. Es sind die Konterfeis aller französischen Präsidenten der letzten 25 Jahre von konservativ bis sozialdemokratisch, die Louis auf einer Wäscheleine aufhängt, von Chirac bis zu Hollande. Sie alle haben mit dafür gesorgt, dass die Preise für Medikamente steigen, , die Arbeitszeiten erhöht und selbst schwer erkrankte Vaternoch einen schlecht bezahlten Minijob annehmen und Müll in der Stadt einsammeln musste. Dabei hat er seinen kranken Rücken noch weiter belastet. „Herr Chirac, sie haben meinen Vater den Darm zerstört“. Macron, Sie haben meinen Vater das Rückgrat zerbrochen,“ klagt Louis und so kommen alle die Politiker*innen an die Reihe, die den Armen noch die letzten einst erkämpften Rechte nehmen, während sie gleichzeitig die Steuern der Reichen senken. „Die Armen sind sind zu reich und die Reichen nicht reich genug“. Am Ende des Stücks fragt der Vater seinen Sohn, ob er noch Politik mache. „Mehr, denn je“ antwortet der und der Vater hat das letzte Wort. „Recht so. Eigentlich ist eine ordentliche Revolution notwendig.“ Der Applaus des Publikum war nach diesen Bekenntnis groß. Doch eigentlich müsste es sich eine Frage stellen. Wo ist der Edouard Louis von Deutschland, der einen Gerhard Schröder, einen Franz Müntefering, einen Friedrich Merz und andere für das Hartz IV-Regime Verantwortliche in gleicher Weise anklagt, die zur Entrechtung der Armen beigetrage haben und bis heute gegen die Sozialhilfeempfänger*innen hetzen?

Peter Nowak

Qui a tué mon père (Wer hat meinen Vater umgebracht)

von Édouard Louis
Regie: Thomas Ostermeier

Globe

Auf Französisch mit deutschen und englischen Übertiteln

24.10.2023, 20.00–21.30, Schaubühne, Kurfürstendamm 153, Berlin
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Geschrieben von

Peter Nowak

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